Ein Mann ist an einem der zahlreichen Checkpoints zwischen Damaskus und dem Libanon Opfer eines brutalen Angriffs geworden und liegt nun in einem Krankenhaus im Koma. Familienangehörige besuchen Taim und im Verlaufe ihrer Monologe offenbaren sich Bruchstücke seiner und ihrer Geschichte. Aber die zentrale Frage, was genau an dem Checkpoint geschah, bleibt im Dunkeln. Mohammad Al Attars neues Stück "Alors que j'attendais", gastiert im Avignonprogramm im Rahmen eines Nah-Ost-Schwerpunktes. Der Autor versteht das kleine individuelle Schicksal als Metapher für die nationale Katastrophe:
"Die Idee war, von einer kleinen Familiengeschichte auszugehen, sie zu überwinden, um dann von der Geschichte eines ganzen Landes zu erzählen, des heutigen Syrien. Es geht um die vielen kleinen Wechsel von Stimmungen, Launen, Gefühlen und Verhaltensänderungen, diesen Metamorphosen von Einzelpersonen und der gesamten Familie. Diese Mikro-Ereignisse verweisen auf die Makro-Geschehnisse in der syrischen Gesellschaft."
Befreiung aus den Zwängen eines engen Rollenbildes
Wir erfahren, dass Taim seit 2011 etwa 20 Videos gedreht und bei Youtube hochgeladen, aber auch, dass er mit Drogen gedealt hat. Über die Verstrickungen des verstorbenen Vaters gibt es Andeutungen und über Familiengeheimnisse, die Taims Schwester nicht mehr ertrug. Aus dem libanesischen Exil kehrt sie zurück und erzählt, eingebettet in die Anfänge der syrischen Revolution, von ihrer persönlichen Befreiung aus den Zwängen eines eng gefassten Rollenbildes.
Für seine formal eher unauffällige Inszenierung hat der in Damaskus lebende Regisseur Omar Abusaada seine Mitstreiter aus Berlin, Kairo, Istanbul, Paris, aus Marseille, Holland und den USA zusammenholen müssen. Sein Diasporatheater kann in Syrien nicht gezeigt werden.
"Bei der Recherche nach den Gründen für diese Gewalt und Brutalität sind wir immer wieder auf das unerfüllte Liebesbedürfnis gestoßen. Alle Figuren sind auf der Suche nach irgendeiner Form von Liebe."
Die ungeklärte Anwesenheit eines jungen Mannes in einem iranischen Mädchenpensionat ist Thema in Amir Reza Koohestani "Hearing", das Avignon in den letzten Festivaltagen zeigen wird. Auch hier stößt ein Mädchen, Neda, in ihrem Lebensausdruck rasch an die Grenzen der gesellschaftlichen Konvention.
Provozierender Bildersturm von Angelica Lidell
Nirgends lässt sich derzeit der jähe Kontrast zwischen der islamischen und der westlichen Körperlichkeit besser studieren als im Programm eines Festivals, das parallel zu ein paar Produktionen aus dem Nahen und Mittleren Osten eine Angélica Liddell im Programm hat, deren vierstündiger, geradezu wütend provozierender Bildersturm und exhibitionistischer Furor in "¿Qué haré yo con esta espada?" die letzten Reste von Scham und Tabu schleifen will. Junge nackte blonde Frauen, die sich mit Meereskraken geißeln, ist nur eines von zahllosen Schockbildern. So als hätte es des Beweises noch bedurft: Die Bilderwelt der Spanierin macht ein für alle mal die tiefe Unvereinbarkeit von okzidentalen und orientalischen Körperbildern deutlich.
Dass in der arabisch-islamischen Welt die Trauer die einzige Situation sei, die dem Körper der Frau einen freien Ausdruck erlaubt, behauptet der libanesische Choreograf Ali Chahrour. In "Leïla se meurt" arbeitet er mit einer der wenigen noch verbliebenen praktizierenden Trauerweibern des Libanon, aber auch in seinem zweiten Stück "Fatmeh" verzichtet er bewusst auf die Perfektion ausgebildeter Tänzer. Er will Bewegungsmaterial für die eigene Kultur in seiner ungeschliffenen Rohform auf die Bühne bringen.
Zu pulsender Musik wiegen sich die beiden Darstellerinnen um die Körperachse und schlagen sich mit den flachen Handflächen auf die Brust – ein Bild, das an die schiitische Selbstgeißelung bei den 'Aschura-Ritualen erinnert, dann wieder kreiselt eine im langen schwarzen Kleid im Stil der Derwische. Plötzlich auch die Ausgelassenheit des Bauchtanzes. Die Musik einer legendären ägyptischen Umm Kulthum und die Trauergesänge der Fatima sind der Hintergrund, vor dem der Choreograf eine kleine Enzyklopädie vor allem weiblicher Bewegungsmuster in der arabischen Welt entwirft. Wie in Trance, wie in einem Taumel durchlaufen seine beiden Darstellerinnen im Hof des mittelalterlichen Cölstinerklosters einen suggestiven Ritus, der das Publikum gefangen nimmt. Dessen Ausdrucksfreiheit überrascht; es ist das Ritual der Trauer, das diese Freiheit ermöglicht.