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Nahostexperte zur türkischen Syrien-Offensive
"Den Preis zahlen am Ende wir Europäer"

Der Nahost-Experte Michael Lüders kritisiert die fehlende Strategie der EU in der Region. 800.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland seien das Ergebnis einer unüberlegten Interventionspolitik, sagte er im Dlf. Dennoch übten die Europäer keinen Druck auf die Türkei aus, den Einmarsch in Syrien zu beenden.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller |
Porträtbild des Publizisten und Nahost-Experten Michael Lüders
Der Publizist und Nahost-Experte Michael Lüders auf der Leipziger Buchmesse 2017 (Imago/Gerhard Leber)
Dirk Müller: Die Türkei, Nordsyrien und die Konsequenzen: Die Amerikaner sind vorerst so gut wie raus aus dem Spiel, trotz der Wirtschaftssanktionen. Die Türkei geht mit aller Macht vor. Damaskus spielt wieder eine wichtige Rolle und Russland kann es sich offenbar leisten, zunächst einmal einfach nur zuzuschauen. Unser Thema mit dem Nahost-Experten Michael Lüders. Guten Tag!
Michael Lüders: Schönen guten Tag! Hallo!
Müller: Herr Lüders, ist Wladimir Putin jetzt schon der Gewinner?
Lüders: Geostrategisch betrachtet auf jeden Fall. Denn am Ende werden es die Russen sein, die eine politische Lösung herbeizuführen versuchen. Sie sind es, die gute Beziehungen unterhalten, sowohl zur türkischen Regierung wie auch zu Baschar al-Assad in Damaskus und zum Iran. Im Augenblick ist es für eine diplomatische, eine politische Lösung noch zu früh, denn die türkische Invasion hat gerade erst begonnen und der türkische Präsident will natürlich diese, seine Invasion in den Norden Syriens als einen politischen Erfolg der eigenen Anhängerschaft verkaufen. Noch gibt es diese sichtbaren Erfolge nicht. Der Krieg wird erst einmal noch weitergehen. Aber am Ende wird vermutlich ein politischer Kompromiss stehen, der möglicherweise so aussieht, dass die türkische Armee sich wieder zurückzieht, die syrische Armee den Norden vollständig in Besitz nimmt und die Kurden akzeptieren müssen, dass sie sich entwaffnen lassen und ihre Autonomie verlieren.
"Kurden sind in einer wirklich furchtbaren Situation"
Müller: Wie passen da Berichte, Spekulationen – wollen wir es so formulieren – mit Ihrem Bild jetzt überein, dass die Russen auch einen gehörigen Teil Nordsyriens in irgendeiner Form dann übernehmen?
Lüders: Ich glaube nicht, dass die Kurden bereit sein werden, den nordsyrischen Teil mit den Russen zu teilen – es sei denn, dass die gewissermaßen patrouillieren, was sie jetzt auch in Manbidsch tun, zwischen den türkischen Truppen und den syrischen, um Gefechte zwischen diesen beiden zu vermeiden. Die Lage ist sehr im Fluss und man muss natürlich sehen, wie sich die Lage weiter entwickelt. Aber die Türkei ist auf jeden Fall entschlossen, Präsident Erdogan ist es, ein für alle Mal mit der, aus seiner Sicht terroristischen Bedrohung im Norden Syriens aufzuräumen. Er kann dieses tun, weil die USA die Kurden fallen gelassen haben, nachdem diese über Monate hinweg erfolgreich den Islamischen Staat bekämpft haben. Es ist übrigens historisch gesehen seit den 1950er-Jahren insgesamt achtmal vorgekommen, dass sich die Amerikaner der Kurden in Nordsyrien, im Irak und auch im Iran bedient haben, um ihre Interessen durchzusetzen. Und als die dann durchgesetzt waren, hat man die Kurden fallen gelassen, und die sind jetzt in einer wirklich furchtbaren Situation zwischen Hammer und Amboss.
Müller: Aber was haben die Türken davon, wenn sie einmarschieren, auch Verluste erleiden, insgesamt international dann diesem Druck ausgesetzt sind und dann nachher wieder rausgehen?
Lüders: Zunächst einmal ist der Druck, den die Türkei erfährt, ein relativ begrenzter. Es gibt natürlich massive Kritik aus Europa, auch aus Berlin, aber das sind in erster Linie warme Worte, ohne wirkliche politische Konsequenzen.
Ein von der Türkei unterstützte Rebell der Syrischen Nationalarmee richtet seine Waffe aus, während im Hintergrund türkische Panzer vorbeifahren
"Schwere Krise der internationalen Sicherheitspolitik"
Die Kritik am US-Rückzug und am Einmarsch der Türkei in Nordsyrien sei "etwas wohlfeil", sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Dlf. Man müsse die türkischen Sicherheitsinteressen ernster nehmen.
"Der Druck aus Europa ist gering"
Müller: Also reine Rhetorik?
Lüders: Reine Rhetorik. Und wenn man sich daran erinnert, dass die Bundesregierung etwa sagt, sie denke darüber nach, die Rüstungsexporte in die Türkei einzuschränken, dann muss man sich vor Augen halten, dass die türkischen Panzer, die jetzt in Nordsyrien rollen, ja in erster Linie deutsche Panzer aus Leopard-Produktion sind. Das heißt, der Druck ist gering aus Europa, und auch die Amerikaner haben eher Symbolpolitik betrieben, indem sie mit Sanktionen drohten, Strafzöllen für den Import von türkischem Stahl, der aber kaum eine Rolle spielt in wirtschaftlicher Hinsicht. Wenn sie die Türkei hätten treffen wollen, hätten sie das Bankensystem ins Visier genommen so wie im Falle des Irans. Dann wäre die Invasion innerhalb von 24 Stunden beendet.
Müller: Ich wollte, Herr Lüders, das mit Ihnen ursprünglich gar nicht thematisieren. Aber wenn Sie das gerade ansprechen: Es hat ja dieses Treffen der EU-Außenminister gegeben und der deutsche Außenminister Heiko Maas hat dann im Anschluss gesagt, die deutsche Seite hätte ja versucht, dementsprechend darauf zu drängen, dass es ein konsequentes Waffenembargo in irgendeiner Form gibt. Jetzt sind Dokumente offenbar aufgetaucht, die zeigen, dass die Deutschen de facto in dieser Runde dafür plädiert haben, dass alles so ist wie es ist, dass sich nichts verändert, damit die deutschen Waffengeschäfte auch weitergehen sollen. Ist das Täuschung der Öffentlichkeit?
Lüders: In gewisser Weise ist das in der Tat Täuschung der Öffentlichkeit und es zeigt vor allem auch, dass die Bundesregierung ebenso wenig wie die Europäische Union nicht wirklich eine klare Strategie hat in der Weltpolitik und vor allem auch gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten. Man glaubt immer noch an ein enges Bündnis mit den USA. Aber das erratische Verhalten von Donald Trump macht es natürlich ratsam, sich einmal zu überlegen, wie kann eine, auch von Washington in Teilen unabhängige sinnvolle Politik der Europäer, der Deutschen aussehen, gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten, gegenüber der Türkei, gegenüber dem Iran. Ein solches Nachdenken findet aber nicht wirklich statt. Man begnügt sich nach wie vor mit der Rolle des Juniorpartners, und das Ergebnis ist dann, dass wir in Deutschland als Ergebnis des Versuches, Assad zu stürzen in Syrien, 800.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen haben. Das hätte man alles vermeiden können, wenn man vielleicht doch nüchtern sich überlegt hätte, wie sinnvoll ist es, eine Interventionspolitik zu betreiben, wie wir sie in Syrien und anderswo in der Region gesehen haben, im Irak, in Libyen und so weiter. Den Preis zahlen am Ende wir, die Europäer. Und es reicht nicht, letztendlich den Juniorpartner spielen zu wollen und dann sich darüber zu erstaunen und zu empören, dass natürlich Russland, der Iran und das Regime von Baschar al-Assad die großen geostrategischen Gewinner sind dieser Scharaden, die wir jetzt in der Region Tag für Tag neu erleben.
"Erdogan ist ein sehr gerissener Politiker"
Müller: Anders herum gefragt. Muss das aus europäischer Sicht ein Nachteil sein, wenn die Russen noch mehr Einfluss und Kontrolle gerade auch in Syrien bekommen?
Lüders: Im Grunde genommen nicht. Und selbst wenn man zu dem Ergebnis käme, dass man das nicht will, weil man die Russen als Widersacher ansieht, muss man nüchtern sagen: Es werden am Ende die Russen sein, die eine Lösung herbeizuführen versuchen. Denn sie sind die einzigen Spielemacher, die zu den Konfliktparteien gleichermaßen gute Beziehungen unterhalten. Die Deutschen nimmt, nüchtern gesehen, niemand mehr ernst, weil sie stets mit moralischem Zeigefinger daherkommen, aber in der Sache nicht liefern. Und Russland hat sehr geschickt, wie auch Erdogan, die Gunst der Stunde erkannt. Erdogan ist zweifelsohne ein sehr gerissener Politiker – und ich sage das nicht als Ausdruck der Anerkennung, sondern nüchtern und analytisch. Er ist ein brillant zu nennender Machiavellist. Er hat genau erkannt: In dem Moment, wo die Amerikaner ihm signalisieren, dass er einmarschieren kann, tut er das auch - wenige Tage später, zum dritten Mal seit 2015. Die beiden vorigen Male haben die Amerikaner ihn noch einigermaßen ausgebremst. Jetzt nicht mehr und jetzt will er allen Ernstes den gesamten Norden Syriens besetzen und die kurdischen Autonomiebestrebungen ein für alle Mal zerschlagen, weil er sie als Bedrohung sieht für eventuelle Autonomiebestrebungen der Kurden im eigenen Land, im Südosten der Türkei.
Müller: Sie sagen, die Kurden werden dann in ihre Schranken verwiesen. Das will der Präsident, das will er seit vielen, vielen Jahren. Werden die Kurden auch im Falle einer militärischen Niederlage in Nordsyrien, wovon viele Beobachter ja ausgehen, sich das gefallen lassen oder zum Instrument des Terrors greifen?
Lüders: Wahrscheinlich letzteres. Es wird einen Guerilla-Krieg geben gegen die türkischen Besatzer, wenn die türkischen Truppen die nächsten Wochen und Monate tatsächlich bleiben sollten. Man kann solche Konflikte, wie sie die Türkei mit den Kurden hat, nicht militärisch lösen. Erinnern wir uns daran, dass die Türkei seit 1984 einen Krieg führt gegen die PKK im Südosten der Türkei mit mittlerweile 70.000, 80.000 Toten. Das alles führt nirgendwo hin. Aber für die Ultranationalisten und die Nationalisten in der Türkei, ob säkular oder religiös eingestellt, ist jeder Kompromiss mit den Kurden Verrat am eigenen Türkentum. Diese Türkentum-Ideologie, die reicht zurück bis in die Zeiten des Staatsbegründers Atatürk, und das ist gewissermaßen das Labsal der Nationalisten. Sie sind hier nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Aber man kann die Kurden nicht auslöschen. Es ist ein Volk, das noch Millionen zählt, und hier ist die türkische Politik sehr, sehr irrational. Nur kann Erdogan tun, was er jetzt tut, weil ihn niemand aufhält. Er nutzt seine Chance und das einzige, was ihn zum Einlenken bewegen könnte, wäre, wenn jetzt die türkische Armee in Nordsyrien wirklich schwere Verluste erleidet, was durchaus passieren kann. Aber perspektivisch ist es in der Tat so, da haben Sie vollkommen recht: Die Kurden haben, wie übrigens auch die syrische Armee, der türkischen Armee nicht wirklich etwas entgegenzusetzen - auch dank deutscher Waffen.
Sevim Dagdelen (Die Linke), spricht bei der 100. Sitzung zur aktuellen Stunde des Bundestages zum Thema Iran-Abkommen. 
"Jede Waffe für den türkischen Präsidenten ist eine zu viel"
Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen fordert ein generelles Verbot von Waffenexporten in die Türkei. Der Nato-Partner habe mit seiner Syrien-Offensive einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen, sagte sie im Dlf.
"Konfliktparteien nicht in gut und böse einteilen"
Müller: Es sei denn, Anschläge nehmen wieder zu in der Türkei, auch in Europa?
Lüders: Das kann alles passieren. Das wissen wir nicht, wie das weitergeht. Man kann aus dieser Krise nur die Lehre ziehen, genau hinzugucken, die Konfliktparteien in der Region nicht in gut und böse zu unterteilen. Es ist ja auch nicht ganz frei von Schizophrenie, wenn wir in Europa durchaus zurecht die PKK als Terrororganisation betrachten, aber gleichzeitig ihre Brüder im Geiste in Nordsyrien, nämlich die Partei der Demokratischen Union und ihre Volksverteidigungsstreitkräfte, die YPG, wenn wir sie als Bündnispartner im Kampf gegen den Islamischen Staat zurecht einsetzen.
Müller: Aber das war ja rational!
Lüders: Das war durchaus rational, aber sehr kurzsichtig gedacht, denn nun haben wir das Dilemma, wie verhalten wir uns denn zu diesem Konflikt. Man muss sich dieses Ganze, was in der Region passiert, im Norden Syriens, der Konflikt mit Iran, der jetzt ganz aus den Medien raus ist – vor drei Wochen haben wir noch gedacht, es könnte Krieg geben; davon redet im Augenblick keiner mehr. Das Gefährliche ist: Das dreht sich so schnell, das Rad, dass die Eskalation jederzeit an verschiedenen Stellen aufbrechen kann, und wir haben kaum politische Akteure, die da aus der Vogelperspektive noch eingreifen und die Hand drauf haben. Am ehesten ist das zurzeit noch – sorry to say – Moskau.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.