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'Nahrungsmittelabwürfe Tropfen auf dem heißen Stein'

Gerner: Die Bundesregierung bemüht sich - parallel zu den amerikanischen Gegenschlägen auf Afghanistan - um humanitäre Hilfe für die Bevölkerung. Das Auswärtige Amt hat den Staatssekretär Jürgen Chrobog deshalb zu Gesprächen in die Region entsandt. Wir erreichen Jürgen Chrobog in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Herr Chrobog, nach den jüngsten Angriffen der USA auf Afghanistan: Gilt unverändert die uneingeschränkte Solidarität der Bundesregierung an Seiten der USA?

    Chrobog: Ja, in Deutschland mit Sicherheit, davon kann man ausgehen und das hat der Bundeskanzler ja auch sehr klar gemacht. Wir sind solidarisch mit den USA. Der Bundeskanzler ist ja in den Vereinigten Staaten im Augenblick und wird diesen Punkt noch einmal sehr deutlich gemacht haben. Im übrigen auch hier in Islamabad - Ich habe gestern mit dem Präsidenten Musharraf gesprochen - habe ich auch den Eindruck, dass die Allianz weltweit weiter entsteht.

    Gerner: Die USA, hat Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt, können bin Laden und die Taliban in ihrer Macht nicht allein mit Luftangriffen zur Strecke bringen bzw. diese Macht brechen. Tut die USA, tut die NATO genug außerhalb der militärischen Bemühungen?

    Chrobog: Ja, die NATO hat sich ja bemüht und wir alle haben uns bemüht. Und ich glaube, es ist auch das Entscheidende, erst einmal diese weltweite Allianz gegen den Terrorismus zustande zu bringen. Gerade hier in Islamabad merkt man natürlich sehr stark, wie schwierig dies alles ist, aber auch wie erfolgreich diese Koalitionsbildung war. Hier haben die Amerikaner etwas Großartiges geleistet; die Allianz steht. Und bei allen Problemen, die gerade dieses Land hier hat, ist es doch mein Eindruck, dass Pakistan immer noch auf der Seite der USA ist und durchaus anerkennt, was die Amerikaner tun. Pakistan distanziert sich immer mehr von dem Taliban-Regime in Afghanistan.

    Gerner: Wie stellt sich Ihnen die humanitäre Lage in Afghanistan dar? Was können Sie sicher sagen oder auch mutmaßen über die Folgen amerikanischer Angriffe und mögliche Flüchtlingsbewegungen im Land?

    Chrobog: Ja, schon vor den Angriffen hat es erhebliche Flüchtlingsbewegungen gegeben, und hier löst es große Beunruhigung aus. Es gibt bereits mehrere Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan in Pakistan. Dies Land ist natürlich auch überfordert, die Armut ist groß. Der Frust, die Verzweiflung, auch der sich daraus entwickelnde Hass wird natürlich in den Flüchtlingslagern größer. Und an geldlichen Mitteln fehlt es ja eigentlich nicht mehr. Durch das Zusammentreten der Afghanistan-Soforthilfegruppe durch unsere Initiative vor einiger Zeit und die anschließende Genfer Konferenz sind ja beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt worden. Das Problem ist aber, diese Mittel jetzt an die bedürftigen Menschen heranzubringen. Ich habe hier mit mehreren Flüchtlingsorganisationen gesprochen. Das eigentliche Problem ist: Wie erreicht man die Menschen in den Grenzgebieten. Und das ist außerordentlich schwierig, aber diese Länder, die die Hauptlast jetzt tragen, bedürfen unserer Unterstützung. Sie sind auch sehr aufgeschlossen. Ich habe darüber gestern darüber mit Präsident Musharraf gesprochen. Er ist dankbar für die Hilfe, die er erhält. Wir müssen jetzt nur sehen, wie wir das auch umsetzen können.

    Gerner: Droht eine Hungersnot?

    Chrobog: Ich sehe das nicht im Augenblick. Wie gesagt, die Mittel sind da, aber natürlich droht die Hungersnot dort, wo die Mittel nicht eingesetzt werden. Die Hilfsorganisationen haben die Probleme, die Dinge, die sie hier vor Ort haben, dort hinzubringen, wo sie hingehören. Das ist außerordentlich schwer. Die Kriegslage ist verworren, die Spannungen sind nicht zu übersehen. Auch die Sicherheitsbedingungen sind sehr, sehr schwierig. Und auch in den Grenzgebieten sehen es natürlich beide Seiten nicht so gern, wenn dort Hilfsorganisationen tätig werden. Hier werden wir noch viel tun müssen und Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die Hilfe dann auch zu den Bedürftigen zu bringen.

    Gerner: Erschweren denn andauernde militärische Angriffe die Lieferung humanitärer Hilfe?

    Chrobog: Nein, sicher nicht in Grenzgebieten, da gibt es andere Probleme, aber in Afghanistan selbst selbstverständlich. Hier hat es ja auch Abwürfe von humanitären Gütern gegeben. Aber in einem Land, wo Krieg herrscht, wo die Menschen ständig auf der Flucht sind, wo sie sich ständig bewegen, ist das alles wahnsinnig.

    Gerner: Herr Chrobog, wie bewerten Sie die Nahrungsmittelabwürfe der USA? Die Organisation 'Ärzte ohne Grenze' kritisieren sie als Propaganda, als ungenügend. Sie seien unter dem Maß, das vor den militärischen Attacken vorgelegen habe - was die Mengen angeht. Wie beurteilen Sie das?

    Chrobog: Ja, ich habe hier mit den Flüchtlingsorganisationen gesprochen. Die sehen es schon skeptisch, weil sie sagen, es seien wirklich Tropfen auf dem heißen Stein. Das wird abgeworfen, ohne überhaupt zu wissen, ob es dann auch diejenigen erreicht, die es brauchen. Das ist immer so eine Sache, das haben wir auch schon früher in Jugoslawien gehabt. Es ist ein Versuch, zu helfen. Es ist auch ein Zeichen des guten Willens, und das darf man politisch auch nicht unterschätzen.

    Gerner: Nach Ihren Gesprächen gestern und Ihren Eindrücken in Islamabad: Wird Präsident Musharraf die aktuelle Krise überleben? Das Land ist am Rande einer Zerreißprobe.

    Chrobog: Es ist richtig, was Sie sagen. Der Präsident hat bei mir gestern den Eindruck erweckt, dass er das Land völlig unter Kontrolle hat, dass die Sicherheitslage bei weitem nicht so schlecht ist, wie allgemein im Westen behauptet wird. Natürlich gibt es schon Islamisten und Fundamentalisten, die auch Probleme bereiten können, aber ich habe den Eindruck, er hat die Lage unter Kontrolle. Islamabad zum Beispiel ist völlig ruhig. In der Grenzregion ist es schon anders - selbstverständlich, in den Armenvierteln vor allen Dingen. Aber insgesamt habe ich den Eindruck: Pakistan ist erheblich stabiler, als wir aus der Presse erfahren.

    Gerner: Insgesamt sind acht Shelter-Now-Mitarbeiter noch in Afghanistan, darunter vier Deutsche in den Händen der Taliban. Gibt es eine Chance, dass sie lebend aus dieser Auseinandersetzung herauskommen?

    Chrobog: Das will ich doch sehr hoffen. Bisher habe ich nichts gehört, was einer anderen Meinung Anlass geben kann. Ich habe gestern ausführlich mit dem Anwalt gesprochen, der jetzt gerade wieder auf dem Weg nach Kabul ist und dort die nächsten Tage bleiben wird, um in dem Prozess als Vertreter zu fungieren. Die Lage der Gefangenen ist im Augenblick noch gut, sie sind in guter Verfassung. Und wir hoffen, dass ihnen nichts passiert.

    Gerner: Wann haben Sie zuletzt mit ihnen Kontakt gehabt?

    Chrobog: Ja - ich selbst gar nicht. Ich habe gestern versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber das ist von der Talibanführung abgelehnt worden; es ist nicht genehmigt worden, mit ihnen in Kontakt zu treten. Unser Konsularbeamter hier, Herr Lang von unserer Botschaft in Islamabad, hatte allerdings die Gelegenheit vor einigen Tagen gehabt, mit ihnen zu telefonieren, und ihm ist zugesagt worden, dass er das in den nächsten Tagen wieder tun kann. Sonst haben wir nur Kontakt über den Anwalt.

    Gerner: Haben Sie die Hoffnung, dass sie freikommen, die Shelter-Now-Mitarbeiter? Macht Ihnen die Freilassung der britischen Journalistin Yvonne Ridley gestern etwa Hoffnung?

    Chrobog: Hoffnung habe ich immer und Hoffnung muss man auch haben, aber ich habe keinen Anhaltspunkt dafür, jetzt dieses vorauszusehen. Es ist sehr, sehr schwierig, es ist so unvorhersehbar, was dort passiert, so unberechenbar. Man kann dazu wirklich keine Spekulationen anstellen. Der Prozess wird eigenartiger weise trotz der Situation im Lande weiter durchgeführt. Man muss abwarten, dass alles gut endet und dass zwischendurch nichts passiert.

    Gerner: Der Prozess - das hat der Anwalt der Mitarbeiter gestern gesagt - findet statt. Anschließend aber liegt das letzte Urteil bei Talibanführer Mullah Mohammed Omar. Was ist denn da zu erwarten angesichts der militärischen Ereignisse?

    Chrobog: Das ist völlig richtig - egal, wie der Prozess ausgeht, egal, welches Urteil gefällt wird -, bei dem Mann liegt die Entscheidung. Er wird freilassen können, er wird Strafen verhängen können. Aber wer weiß, was in einigen Tagen in diesem Lande passiert ist; insofern wäre das auch hoch spekulativ. Aber wir hoffen doch sehr auf einen guten Ausgang. Also, ich bin guter Hoffnung, dass es gut ausgehen wird.

    Gerner: Im Gespräch war ja auch - lassen Sie mich das zumindest fragen - eine Befreiung durch Spezialkräfte der Bundeswehr. Ist das weiterhin im Bereich des Denkbaren, auch wenn Sie natürlich keine Geheimnisse preisgeben dürfen hier?

    Chrobog: Das war ganz am Anfang im Gespräch, das waren reine Spekulationen in der deutschen Presse - aber Spekulationen von Menschen, die keine Ahnung haben, was in diesem Lande vor sich geht, wie kompliziert dieses Land ist. Es ist keine Befreiungsaktion in Aussicht genommen worden. Wir können nur hoffen, dass wir jetzt im Rahmen der Entwicklung in dem Lande selbst oder im Rahmen dieses Prozesses eine gütliche Lösung erreichen können. Alles andere ist spekulativ. Aber es ist faktisch eine Geiselnahme dadurch eingetreten, dass die Angriffe stattfinden. Das erschwert die Dinge beträchtlich. Aber es ist keine echte Geiselnahme in dem Sinne, dass hier Forderungen gegen Freilassung erhoben werden. Aber letzten Endes ist das eine schwierige Lage.

    Gerner: Jürgen Chrobog war das, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, zur Zeit in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Wir haben ihn dort vor wenigen Minuten erreicht und dieses Gespräch aufgezeichnet.

    Link: Interview als RealAudio