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'Naiver Nationalismus mit Auserwähltheitsglauben'

Lange: Nicht erst seit der feinsinnigen Unterscheidung des amerikanischen Verteidigungsministers Rumsfeld in ein altes und ein neues Europa ist offensichtlich: Die Beziehungen zwischen den USA und einigen ihrer einst wichtigsten Verbündeten in Europa sind gestört. Viele Beobachter meinen nicht nur an der tagespolitischen Oberfläche, sondern auch in den tiefer liegenden Schichten gibt es langfristig wirkende Verschiebungen. Amerikaner und Europäer nehmen sich anders wahr. Von Anti-Europäismus ist die Rede. Das Interesse der Amerikaner an der alten Welt lasse nach. Die Interessen selbst seien auch nicht mehr dieselben. Überhaupt sei die transatlantische Achse im Niedergang befindlich. Ist das so und wenn ja warum? – Am Telefon ist nun Professor Hans-Ulrich Wehler, zuletzt Historiker an der Universität Bielefeld und viele Jahre Gastprofessor in Harvard, Princeton und Stanford. Guten Morgen Herr Wehler!

    Wehler: Guten Morgen.

    Lange: Herr Wehler, der Philosoph Jürgen Habermaß hat kürzlich eine eigenartige Umkehrung von Sichtweisen und Einstellungen diagnostiziert. Kurz gesagt jetzt mit meinen Worten: Die Europäer verteidigen gegenwärtig die demokratischen Werte und Ideale, die die Amerikaner einst hier hergebracht haben, die inzwischen aber von diesen selbst preisgegeben worden sind. Im Kern zutreffend oder eine ziemliche Übertreibung?

    Wehler: Im Kern geht es schon darum, dass die amerikanische Readjucation nach dem Krieg in den ersten politischen Generationen eben außerordentlich erfolgreich war. Ich gehöre ja auch dazu. Wir haben diese Botschaft aus dem Land der angewandten Aufklärung, wie damals Dahrendorf sagte, sehr ernst genommen. Infolgedessen will man sich nicht so gerne Großmachtträumen und pragmatischen Überlegungen, die sich gegen die so genannten Schurkenstaaten richten, beugen.

    Lange: Wie erklären Sie sich diese Umkehrung?

    Wehler: Es geht mir weniger um einen intellektuellen Klimawechsel oder ein Verlassen amerikanischer Traditionen, sondern eher um zwei andere Dinge. Ein Punkt ist der, dass die Amerikaner bisher, wenn man vom Vietnam-Krieg absieht, alle für sie wichtigen Kriege gewonnen haben und die wie sie meinen hysterische Aufregung der Europäer, dass jetzt wieder eine Auseinandersetzung ansteht, nicht recht verstehen können. Bei den letzten Auseinandersetzungen, an denen Amerika beteiligt war, zum Beispiel dem ersten Golf-Krieg, hat Amerika etwa 130 Soldaten und davon die meisten durch Unfälle und nicht an der Front verloren. Infolgedessen haben die Amerikaner ein ganz anderes Verhältnis als unsereins zum Krieg. Wir denken dann an Stalingrad, Flächenbombardements auf die deutschen Städte, die Eroberung des Landes und so weiter. Das sind alles Erfahrungen, die den Amerikanern fehlen, so dass sie mit einem ungebrochenen Optimismus, mit der ganzen Überlegenheit einer Hegemonialmacht, die waffentechnisch einen riesigen Vorsprung hat, auch in diesen Konflikt hineingehen – und jetzt kommen sozusagen die entscheidenden Punkte -, ohne dieselbe Aufmerksamkeit auf die schrecklichen Folgen zu verwenden, was in der Region des nahen Ostens, was aber in allen muslimischen Ländern passieren kann, wenn sie dort militärisch intervenieren.

    Lange: Aber warum kommt das alles jetzt zum tragen? Diesen Unterschied in der Bewertung von Militär und Militärischem den gab es ja schon immer.

    Wehler: Das ist glaube ich ein großer Unterschied. Die letzten Regierungen, ich meine auch einschließlich Bush Sr. Und vor allem Clinton, waren noch umgeben von Beraterstäben aus den sogenannten Denkfabriken oder Eliteuniversitäten der Ostküste. Diese Berater waren traditionell auf Europa fixiert und im Kern europafreundlich. Nun können wir in Amerika sozusagen eine Schwerpunktverlagerung beobachten, einmal hinüber zur Pazifikküste, weil der Aufstieg einer wirklich kommenden Weltmacht wie China die amerikanische politische Elite beschäftigt, und mit dem Aufstieg von Bush Jr. Hängt auch zusammen, dass ein Beraterkreis nach Washington gekommen ist, der zum Teil aus dem mittleren Westen, aus Texas, und auch von der Westküste kommt. Da fehlt die Rücksichtnahme und das Verständnis und die langjährige Vertrautheit durch Reisen und Kontakte was Europa angeht. Dann kommt eben eins zum Zuge, was die aufgeklärten Intellektuellen an der Westküste auch nicht so geteilt haben: der ziemlich naive amerikanische Nationalismus mit seinem Auserwähltheitsglauben. Die letzte Rede zur Lage der Nation von Bush die strotzte nur so von religiösen Formeln, dass es die Aufgabe des Landes der Freiheit sei, die Welt zu befrieden und so weiter. Da ist auch inneramerikanisch ein tiefer Unterschied zu den vorhergehenden Regierungen entstanden.

    Lange: Timothy Garton Ash, Herr Wehler, Ihr Kollege aus Oxford, hat dieses neue Stichwort ins Gespräch gebracht: Anti-Europäismus. Er hat ihn ausgemacht auch bei Amerikanern, die Europa gut kennen. Ein Anti-Europäismus, geprägt von Verachtung und auch der Konservativen ähnlich wirkungsmächtig wie der Anti-Amerikanismus der hiesigen Linken. Teilen Sie seinen Befund?

    Wehler: Ich habe den Aufsatz von Timothy Garton Ash in der "Zeit" gelesen. Ich würde das nicht so im Sinne einer Gleichsetzung behandeln. Unter amerikanischen Konservativen – und deren Lager ist ja gewachsen – gibt es in der Tat so etwas wie ein verächtliches Herabsehen auf diese friedenshungrigen und entschlussunfähigen Europäer. Das ist natürlich bestärkt worden durch das Verhalten der Europäer, als es um die Balkan-Kriege von Milosevic ging und keine Intervention zu Stande kam, bis denn die amerikanische Regierung sich entschloss, mit einzugreifen. Das Dilemma in Amerika ist im Augenblick, dass die Demokraten – ich meine jetzt die Partei – keinen profilierten Sprecher haben, geschweige denn einen profilierten Präsidentschaftskandidaten, der kontra geben könnte und die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. Man hat den Eindruck, in einem Rausch dessen, was man vorsichtig noch Patriotismus nennt, was aber tatsächlich ein sehr überschwänglicher Nationalismus ist, gehen sozusagen alle Unterschiede unter. Mein Eindruck ist aber unentwegt, auch wenn ich an die vielen amerikanischen Freunde an den Universitäten denke, die ausnahmslos gegen den Krieg sind und sich von einer anti-europäischen Haltung nicht beeinflussen lassen, dass man sozusagen diesen einfachen plakativen Gleichsetzungen widersprechen sollte. Es gibt nicht ein anti-europäisches Blockdenken in den amerikanischen politischen Eliten, genauso wenig wie es bei uns einen Anti-Amerikanismus gibt, der sozusagen konsensfähig ist.

    Lange: Herr Wehler, wir haben jetzt von Einstellungen und von Mentalitäten ein bisschen gesprochen. Müssen wir uns denn damit abfinden, dass es im Grunde auch nicht mehr diese weit gefächerten gemeinsamen Interessen gibt zwischen den USA und Europa?

    Wehler: Ja gut, das würde ich als Gegenargument sofort akzeptieren. Wir spüren jetzt die Spätfolgen der Wende. Zwischen 1945 und _91, als die Sowjetunion zerfiel, gab es nicht nur gemeinsame zivilisatorische Traditionen und so weiter, sondern es gab das große Feindbild der Sowjetunion in einer globalen Auseinandersetzung. Das gibt es nicht mehr. Es gibt auf absehbare Zeit nur einen wirklichen Hegemon. Das sind die Vereinigten Staaten, die ihre Interessen nun allerdings unter Bush Jr. Mit einem nackten Egoismus verfolgen, der einen schon erschreckt. Es treten jetzt sozusagen Divergenzen stärker zu Tage, die vorher noch im Banne der großen globalen Auseinandersetzung mit dem Weltkommunismus in den Hintergrund getreten sind. Das ist eine neue Konstellation. Man hat Zeit gehabt, sich zehn Jahre auf sie einzustellen. Das Dilemma der deutschen Politik ist zum Beispiel: die meisten von uns sind gegen diesen Krieg wegen der schrecklichen Folgen, die unabsehbar sind. Aber es ist diplomatisch und außenpolitisch schon mehr als tölpelhaft gewesen, wie man jetzt gewissermaßen die Bundesrepublik in die Rolle des einzigen wackeren Opponenten geführt hat. Die einzige plausible Strategie wäre gewesen, die Europäer hinter Chirac zu vereinen, vielleicht bis auf Tony Blair, und dann gewissermaßen mit einer europäischen Stimme zu sprechen. Das ist misslungen und jetzt gerät die Bundesrepublik gewissermaßen in eine fatale Situation als Außenseiter, die sie sich politisch nicht lange leisten kann.

    Lange: Egon Bahr, einer der alten Fahrensleute im transatlantischen Dialog, meint, die USA wollen Europa schon seit langem spalten. Sehen Sie eine derartige Absicht oder müssen wir eher von politisch-psychologischen Strömungen ausgehen, die eben einfach passieren?

    Wehler: Mein Eindruck ist nun schon lange, seit den 60er Jahren, dass Egon Bahr im Kern doch einen ziemlich rigorosen Nationalismus kultiviert. Es geht darum, dass Europa sich jetzt nicht in der etwas hysterischen Aufregung über die bösartige Kritik von Rumsfeld auseinanderdividieren lässt. Das Dilemma ist natürlich jetzt mit dem Brief der acht Regierungschefs, dass diese Spaltung ganz evident ist, und es wird nicht wenige geben, die das dann auch gegen die Bundesrepublik wenden. Ich würde nicht den Amerikanern eine zielstrebige Strategie der Spaltung Europas unterstellen, wohl aber so eine Leitvorstellung, die Europäische Union soll nicht zu mächtig werden. Es ist jetzt ja entstanden durch die zehn neuen Mitglieder ein Staatenverein mit 450 Millionen Menschen, aufs ganze gesehen das höchste Lebensniveau, mit einer Unzahl von Experten und Facharbeitern. Diese Europäische Union ist eminent entwicklungsfähig und wahrscheinlich sehr viel früher als China oder Indien ein Konkurrent auch auf ökonomischem Gebiet für die Vereinigten Staaten. Man kann die Zurückhaltung jetzt mal im Vergleich mit den 60er, 70er Jahren amerikanischer Regierungen daran erkennen, dass sie sich auf ökonomische Konflikte einlassen mit der Europäischen Union, dass sie auch sehr zögerlich den Aufbau der europäischen Eingreiftruppe verfolgen, weil sie darin eine Konkurrenz zur NATO sehen. Die NATO ist in den Augen der Amerikaner immer mehr zu einer Art von kleiner Weltpolizist geworden, der nach ihrer Meinung überall eingesetzt werden kann. Im Augenblick, ehe diese sozusagen nervöse vorwurfsvolle Stimmung um sich greift, finde ich sollte man sich die Interessenkonstellation nach der Wende und dass die Interessensgegensätze jetzt schärfer als früher hervortreten klar machen, auch das Zögern der Amerikaner, die Europäische Union an allen Fronten gewissermaßen zu unterstützen. Es gibt aber dennoch, gerade wenn man sozusagen in größeren Dimensionen denkt, eine Vielzahl von gemeinsamen Interessen und eine kluge europäische Politik, wie sie Schröder und Chirac jetzt betreiben müssen, die würde darauf hinauslaufen, diese Gemeinsamkeit zu betonen und nicht das, was im Vorfeld des meines Erachtens kommenden Irak-Krieges zerstört worden ist.

    Lange: An dieser Stelle müssen wir einen Punkt machen, Herr Professor Wehler. Wir sind am Ende unseres Gesprächs. – Ich danke Ihnen herzlich. – Hans-Ulrich Wehler, Historiker von der Universität Bielefeld. Schönen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: Interview als RealAudio