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Narrative der Gewalt
Über die Kulturgeschichte der Vergewaltigung

Vergewaltigung hieß im deutschen Strafrecht lange Zeit "Notzucht". Das klingt eher nach Notdurft als nach Verbrechen, nach einem sexuellen Überdruck, den ein Mann eben loswerden muss. Das sogenannte Dampfkesselmodell ist eines der typischen Argumentationsmuster, die die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal in ihrem Buch über Vergewaltigung entlarvt.

Von Christiane Florin | 21.11.2016
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    Vergewaltigung ("Rape") kommt von Raub: "Raub der Sabinerinnen" von Giovanni Bologna in den Uffizien (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    Die Autorin schlägt einen überraschenden Ton an: "Machen Sie mit diesem Buch, was Sie wollen: Verschenken Sie es an Ihre*n beste*n Freund*in, benutzen Sie es als Untersetzer für Ihre Kaffeetasse, schmeißen Sie es gegen die Wand - nur lassen Sie sich bitte nicht davon einreden, dass Ihre eigene Wahrnehmung falsch sei."
    Was nicht hörbar ist: Im Text stehen Sternchen, sogenannte Gender-Stars, die Freund, Freundin und alles dazwischen geschlechtergerecht behandeln. Ansonsten schert sich die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu Melanie Sanyal in ihrem Buch "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" wenig um feministische Gepflogenheiten. Und das ausgerechnet als Frau und ausgerechnet bei diesem Thema, ist die Verfasserin dieser Rezension versucht zu schreiben.
    Befreien und bloßstellen
    Aber damit wäre schon eine Denkfalle zugeschnappt. Gerade gegen solche Muster schreibt Mithu Sanyal an: "Ein großer Teil unseres Wissens über Vergewaltigungen basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären".
    Ein großer Teil des Buches besteht darin, das Denken und Deuten der anderen vorzustellen - und sich davon zu befreien. Vorstellen - das heißt für Sanyal auch oft: bloßstellen.
    Extra-Kapitel widmet sie den Schlüsselbegriffen Ehre und Scham, immer wieder webt sie aktuelle Beispiele ein, erkennbar geleitet von der Frage: Wie frei sind wir wirklich von diesen, wie sie es nennt, an den Haaren herbeigezogenen Menschenbildern?
    "Notzucht" und "Notdurft"
    Aktuelle Denk- und Deutungsanlässe gibt es mehr als genug: die Kölner Silvesternacht, der Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink, die Ich-kann-sie-alle-haben-Sprüche eines Donald Trump. Darüber wird zwar kontrovers diskutiert, die Diskutanten bleiben aber nach Sanyals Ansicht in alten Mustern gefangen.
    "Vergewaltigungsskripte" nennt sie die Deutungen. Eines dieser Skripte besagt: Der Mann kann eben nicht anders, wegen der Gene und der Genitalien. Er hat immer Lust und bekommt nie genug. "Notzucht" hieß Vergewaltigung im deutschen Strafrecht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Eine Straftat zwar, aber eher Verrichtung einer Notdurft als richtiges Verbrechen. "Notzucht": Das klingt entschuldbar, als müsse der Mann seinen sexuellen Überdruck loswerden. Das Verbrechen wurde zum "Dampfkesselmodell" verniedlicht. Sanyal führt aus:
    "Als das Dampfkesselmodell aufkam, stellte es erst einmal einen Widerspruch zu der allgemeinen Auffassung dar, dass Männer das rationale Geschlecht seien. Wie konnte ihr Sexualtrieb dann dermaßen irrational sein?"
    Wer ist Täter, wer ist Opfer?
    Wegen dieser angeblich leicht erregbaren Libido, kehrte sich die Entdeckung weiblicher Lust durch die Psychoanalyse gegen die Frau. Vergewaltigung warf im 20. Jahrhundert die Frage auf: Hat sie es und ihn nicht provoziert?
    Die Frauenbewegung wehrte sich gegen solche Schuldzuweisungen. Susan Brownmiller schrieb 1975 den ersten feministischen Bestseller zum Thema Vergewaltigung "Gegen den Willen". Brownmiller hob, anders als Dampfkessel-und Notdurft-Modelle, auf die Gewalt ab. Vergewaltigung wurde zum echten Verbrechen - und alle Männer kamen als Verbrecher in Frage.
    Sanyal hat keine Hemmungen, frauenbewegte Vergewaltigungsskripte anzuzweifeln. Sie kritisiert: "Damit hatte der Anti-Rape-Aktivismus - so viel wir ihm auch zu verdanken haben, […] - paradoxerweise eben das erreicht, was Brownmiller als Absicht 'allen Männern' unterstellte, nämlich dass ein signifikanter Teil der weiblichen Bevölkerung in konstanter Furcht lebte, einer Furcht, die es selbstverständlich auch davor gegeben hatte, jedoch nicht in demselben Ausmaß."
    Nur Jungfrauen können vergewaltigt werden?
    Fürchten müssen Frauen nicht nur die inneren und äußeren Verletzungen, sondern nach wie vor den Verlust der Ehre. Rape, da klingt "Raub der Ehre" mit. Vergewaltigung als sozialer Tod, als seelischer Tod - ein altes Deutungsmuster, das keine Frauenbewegung hinwegfegte. Zu den Standardsprüchen gehört: Nur ehrbare weibliche Wesen - Jungfrauen - können überhaupt vergewaltigt werden, Luder nicht. Dieses vermeintlich überholte Dogma kramten Journalisten im Prozess gegen Gina-Lisa Lohfink hervor. Sanyal beobachtet:
    "Die Berichterstattung, die wie hypnotisiert um Lohfinks sexualisierten Körper kreiste, erweckte den Eindruck einer Reise zurück in die Zeit vor den 1980er Jahren, als die sexuelle Vergangenheit des Opfers noch Gegenstand der gerichtlichen Verhandlung gewesen war."
    Narrative nach der Silvesternacht von Köln
    All diese Skripte, die Sanyal zerpflückt und zerreißt, schreiben vor, wer sich wie zu verhalten hat, weil er oder sie entweder Täter oder Opfer, Mann oder Frau ist. Das sind die Fesseln, von denen die Lektüre befreien soll. Die Autorin weist zum Beispiel nach, dass die Angst vorm Schwarzen Mann auch im feministischen Milieu existiert. Und dass sie ins bürgerliche Milieu zurückgekehrt ist: dunkle Hände auf weißem Frauenkörper - mit diesem Titelbild griff das Magazin "Focus" nach der Kölner Silvesternacht den Narrativ vom triebhaften schwarzen Mann auf. Zu "Köln" schreibt die Autorin:
    "Es scheint ein Merkmal von Geschichten über Vergewaltigungen zu sein, dass sie als sinnstiftende Erzählungen gelesen werden, die über sich selbst hinausweisen. […] So wurde im Kontext der Flüchtlingsdebatte der 'geschändete' Körper der Frau zu dem Land, das sich nicht vor dem Eindringen einer dunklen Bedrohung wehren könne."
    Sexuelle Gewalt richtet sich auch gegen Männer
    Mit feuilletonistisch-leichtfüßiger Akribie legt Sanyal die Schwächen der meisten Deutungsmuster offen, ganz gleich, ob sie Vergewaltigung mit Genen, Glauben oder Kultur - neudeutsch Rape Culture - erklären. Die Sternchen sind für sie kein niedlicher Spleen, sie sind die Zukunft. Vergewaltigung sei das gegendertste Verbrechen überhaupt. Wer den Sternchen konsequent folgt, wer das Geschlecht als soziales Konstrukt begreift, kann offenbar den Kontext ändern, der Vergewaltigung möglich macht.
    "In dem Diskurs um sexuelle Gewalt ist es […] wichtig, der Verletzlichkeit von allen Geschlechtern Platz einzuräumen. Nicht zuletzt, weil Menschen, die ihre eigenen Gefühle zulassen dürfen, diese leichter bei anderen wahrnehmen und respektvoller mit Grenzen umgehen können. Wenn Weiblichkeit nicht essenziell ist, dann kann auch Männlichkeit nicht essenziell sein."
    Sexualisierte Gewalt sei eben gerade nicht abhängig vom Geschlecht, behauptet die Autorin und führt einige Beispiele an für sexuell gewalttätige Frauen. Aber bis Geschlechterverhältnisse, Kontexte und Kulturen geändert sind, dürfte es noch lange dauern. Und bis dahin dürften allen Genderambitionen zum Trotz vor allem Frauen vergewaltigt werden.
    "Nein heißt Nein" und "Ja heißt Ja"
    Was folgt politisch aus Sanyals Gedanken über Gewalt und Sexualität, Täter und Opfer, Ehre und Scham, Gene und Gender? Im Sommer 2016 beschloss der Deutsche Bundestag eine Änderung des Sexualstrafrechts, "Nein heißt Nein" soll fortan der Grundsatz sein.
    "Damit wurde vollendet, was 1974 angefangen wurde, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung zu einem verbindlichen Rechtsgut zu machen. Das ändert die sexuelle Landschaft maßgeblich und nachhaltig, was es jedoch noch nicht ändert, ist das Geschlechterverhältnis."
    "Ja heißt Ja" ist Sanyals Schlusswort überschrieben. Das sieht wie ein kleines Wortspiel aus, zielt aber aufs große Ganze: eine neue Sprache, eine neue Ethik der Liebe, eine neue Gesellschaft. Dass dies dann doch etwas zu dürftig ist, dürfte der Autorin bewusst gewesen sein. Sie entschuldigt sich sogar für die "schlechte Nachricht", dass es ihr um "grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen" geht, die nun einmal nicht sofort zu haben sind.
    Sanyal trägt - das auffallend lange Endnotenverzeichnis beweist es - Bedeutendes, Bizarres, Unfassbares zusammen. Der assoziative Stil, die schnellen Kommentare zwischendurch, machen die Lektüre schwindelerregend. Als befreiende Botschaft bleibt aber am Ende doch nur der Traum einer geschlechtergerechten Gesellschaft. Es ist längst nicht alles gesagt zum Thema Vergewaltigung. Aber wer etwas dazu sagen will, sollte dieses wilde Buch gelesen haben.
    Mithu Melanie Sanyal: "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens"
    Edition Nautilus, Hamburg 2016. 240 Seiten, 16 Euro.