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Nathalie Azoulai: "An Liebe stirbt man nicht"
Racine-Verse als Balsam für Verlassene

Was tun, wenn die große Liebe den Abflug macht? Den Schmerz von Nathalie Azoulais Erzählerin vermag allein das Rezitieren von Jean Racines Versen zu lindern. Die Erfahrungen des berühmten französischen Dramatikers aus dem 17. Jahrhundert entpuppen sich als äußerst aktuell.

Von Christoph Vormweg | 02.02.2018
    Eine Frauenhand mit rot lackierten Fingernägeln berührt am 03.03.2014 in Berlin ein schwarzes Herz, das auf eine Mauer gespüht wurde.
    Nathalie Azoulais Erzählerin ist auf der Suche nach einem Heilmittel gegen Liebeskummer (dpa / Inga Kjer)
    In Frankreich erfreut sich Jean Racine, wie die Theater-Spielpläne zeigen, weiterhin großer Beliebtheit. Das liegt auch daran, dass er in seinen Tragödien zugespitzte seelische Konflikte verarbeitet, die ganz heutig sind: zum Beispiel den Liebeskummer. Wie Racines Heldin Bérénice ist auch Nathalie Azoulais Erzählerin gerade vom Mann ihres Lebens verlassen worden. Das laute Rezitieren von Jean Racines Alexandrinern, ihr – wie es heißt - beständiges "Kauen", entpuppt sich für sie als einzig wirksames Mittel zur Linderung des Trennungsschmerzes.
    "Sie findet immer einen Vers, der sich an die Konturen ihrer Launen schmiegt, Wut, Verlassenheit, Starre und Trübsinn ... Racine ist ein Selbstbedienungsladen für Liebeskranke. Wenn sie versteht, wie dieser Provinzbürger so ergreifende Verse über die Liebe der Frauen schreiben konnte, dann wird sie auch verstehen, warum Titus sie verlassen hat. Es ist absurd, es ist unlogisch, aber in Racine ahnt sie den Ort, an dem das Männliche dem Weiblichen am nächsten kommt, ein Fels von Gibraltar, der die Geschlechter verbindet."
    Mit dem ständigen Deklamieren von Racines Versen wächst in der Erzählerin das Bedürfnis, selbst "etwas zu gestalten". Doch läuft der Roman "An Liebe stirbt man nicht" keineswegs auf selbsttherapeutische oder gar autopoetische Nabelschau hinaus. Im Gegenteil. Nathalie Azoulais Erzählerin will den Frauenversteher Racine ganz durchleuchten. Also macht sie sich daran, seinen Werdegang im 17. Jahrhundert zu erkunden und zu erzählen. Die Romanform gibt ihr dabei weit größere Freiheiten als eine klassische Biografie. Denn sie imaginiert seine intimen Gefühle und Gedanken, seine unerlaubten Begegnungen an geheimen Orten et cetera.
    Die Liebe zu Gott reicht Racine bald nicht mehr
    Mit ihrer Fantasie und ihren Deutungen füllt sie die Leerstellen der Überlieferung und zeichnet das Bild eines hochintelligenten, sensiblen, lebenshungrigen Waisenkindes, dass im Kloster von Port-Royal beim Übersetzen aus dem Lateinischen und Griechischen seine Faszination für die Sprache entdeckt. Die strenggläubige, am lateinischen Kirchenlehrer Augustinus orientierte Bewegung der Jansenisten, die im Konflikt mit dem Papst und Ludwig XIV. steht, prägt den jungen Racine. Doch die Liebe zu Gott ist ihm – trotz des innigen Verhältnisses zu seinen Lehrern - bald nicht mehr genug. Er will mit Versen die Welt erobern. Die Freundschaft zu einem jungen Adeligen öffnet ihm dabei erste Türen.
    "Jean blickt aus dem Fenster der Kutsche, die ihn nach Paris bringt, und begreift, dass man den Raum durchziehen kann, wie Gefühle uns durchziehen: Die vertrauten Landschaften weichen, während so viele neue herannahen. Er ist traurig und trunken zugleich, doch er hat weder Vermögen noch Status. Er hat nur ein Ziel, nämlich, Verse zu schreiben, die gefallen und bleiben. An die Stelle von Herkunft oder Vorsehung muss er eine Karriere setzen, so viel steht fest."
    Buchcover: Nathalie Azoulai:
    Wie Jean Racines Heldin wird auch Nathalie Azoulais Erzählerin verlassen (Buchcover: Secession Verlag; Foto: AFP / JACQUES DEMARTHON)
    In ihrem Roman "An Liebe stirbt man nicht" besticht Nathalie Azoulai durch eine genaue, klare, psychologisch versierte Prosa. Sie versteht es, nicht nur die Widersprüche ihrer Figuren herauszuarbeiten, sondern auch die Subtilität von Racines Sprache, die ihre Botschaften vor der Zensur verbergen muss. Immer wieder rückt Jean Racines Zerrissenheit in den Fokus: zwischen seiner asketisch-religiösen Erziehung und seiner Gier nach Erfolg. Und Erfolg – daran hat sich bis heute nichts geändert – funktioniert nicht nur über Talent, sondern auch über die richtigen Beziehungen.
    Das Herz als "wildes Tier"
    Doch verbirgt sich hinter dem Parade-Karrieristen Racine ein Schriftsteller, der - trotz seiner antiken Stoffe - immer das Neue sucht, das Risiko, den Regelverstoß. Das bestimmt auch sein Verhältnis zu den Frauen. Affären mit den angesagten, aber verheirateten Schauspielerinnen verschaffen seinen Tragödien die große Wirkung. Der einstige Diener Gottes wird zum egozentrischen Diener seiner selbst – bis zu dem Tag, als er mit seiner Liebe gegen Wände läuft. Racine lernt die Eifersucht kennen, das Herz als "wildes Tier". Und genau diese Lebensphase interessiert die Erzählerin. Sie will wissen, wie er das Martyrium des Verlassenwerdens in Kreation verwandelt und ein neues Stück entwirft:
    "Wenn der Tod unsere Liebe dahinrafft, dann mag er sie uns zwar nehmen, aber er nimmt uns nichts anderes, während die Tatsache, einfach verlassen zu werden, uns alles entzieht, auf einen Schlag, indem auf den allerersten Schwur das schwarze Licht der Lüge geworfen wird. Es klingt pathetisch, aber er weiß nichts Besseres: Er vergleicht seinen Schmerz mit dem einer Heldin, wägt beide Leiden gegeneinander ab, geht den Weg der Fiktion, um die Wirklichkeit ertragen zu können."
    "An Liebe stirbt man nicht" ist der mitreißende, hoch spannende Roman einer Suchenden, die drei Jahrhunderte überspringt, um sich selbst wiederzufinden. Besonders intensiv ist die Passage, in der Nathalie Azoulai die Liebeswirren des 17. Jahrhunderts mit kunstvollen Überblendungen in die Gegenwart katapultiert. Denn die Modernität Jean Racines ist frappierend. So befragt er zur Vorbereitung eines neuen Theaterstücks mehrere Frauen über die - wie es heißt - "verborgenen Winkel der Seele". Seine Neugier ist grenzenlos, vor allem aber unbelastet von den religiösen Vorurteilen des 17. Jahrhunderts, die unterwürfige, selbstlos-treue Ehefrauen fordern. Er will die Liebe auf Teufel komm raus begreifen. Und das macht auch die Sogkraft von Nathalie Azoulias Prosa von der ersten Seite an aus: Sie spiegelt immer die erotische Komponente mit, die Racines Lernen vorantreibt.
    Racine als knallharter Opportunist
    Die Charakterschwächen des Erfolgsdramatikers kehrt die Roman-Autorin dabei nie unter den Teppich. Racine erscheint als knallharter Opportunist. Um die Freiräume zu behalten, die er in der französischen Theaterszene von Paris und Versailles genießt, um die Sittenwächter und neidvollen Intriganten mundtot zu machen, dient er Ludwig XIV. schließlich sogar in vorauseilendem Gehorsam als Geschichtsschreiber, der die königlichen Untaten heroisiert.
    "Es gibt nicht einen Menschen, der kein Monster wäre"
    Mit solchen Sprüchen bekämpft Racine- ganz heutig - seine regelmäßig aufkommenden Gewissensbisse. Denn seine religiösen Prägungen kann er nie ganz abschütteln, zumal da ihm seine Tante Agnès, Nonne im Kloster von Port-Royal, regelmäßig böse Briefe schreibt. Und so steuert der von Paul Sourzac hervorragend übersetzte Roman auf sein Finale zu, wo sich der Meister des Alexandriners entscheiden muss: für oder gegen den Sonnenkönig. Wie er sich entscheidet und mit welchen Folgen sei hier so wenig verraten wie die Seelenlage von Nathalie Azoulais Erzählerin am Ende des Buches.
    Nathalie Azoulai: An Liebe stirbt man nicht. Aus dem Französischen von Paul Sourzac.
    Secession Verlag, Zürich 2017. 250 Seiten, 23 Euro