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Nationale Luftreviere

Der Mythos als sinnstiftende Ressource für eine Gesellschaft, die ein wie immer geartetes Projekt - eine Krise, gar? - bewältigen muss? Herfried Münkler meint, ja - denn lieber eine Varus-Schlacht und eine vermytheter Obama an der Siegessäule als Inspiration denn ein Beckmann.

Rezensiert von Harro Zimmermann | 30.03.2009
    Mythen, das hat der Autor von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts gelernt, sind Ausdrucksformen zivilisatorischer Evolution und besitzen wirkungsvolle historische Potenzen. Sie können befreiende oder einengende Sinnqualitäten annehmen, manchmal erstarren sie oder sie wirken handlungsstimulierend, in jedem Fall ist ihr Beitrag zur kollektiven Selbstverständigung und Gedächtnisbildung unverkennbar. Herfried Münklers Definition des politischen Mythos fällt handlich aus, er spricht ihm eine "dreifache Gliederung von narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung" zu, wobei der endlosen Umerzählbarkeit der Mythenkomplexe die größte Bedeutung zukommen soll. Bekanntlich sind die Deutschen, nach einem Wort Heinrich Heines, die unbestrittenen Meister der phantasmatischen Ausschmückung solcher "Luftreviere". Mit Kaiser Barbarossa beginnt Münklers Erkundungsfahrt ins Fabelgespinst deutscher Wesensschau und Nationalbeglaubigung:

    Als die Brüder Grimm unterwegs waren und die deutschen Sagen aufgeschrieben haben, haben sie auch aufgeschrieben, dass da irgendwo ein seltsames Wesen im Berge spukt, von dem man sagt, dass sei der Kaiser, und dann auch Friedrich der Erste, der mit dem roten Bart. Dann wurde auch irgendwie angeschlossen, wenn er wiederkommt, wird das Reich wieder erstehen. Das schreiben die Brüder Grimm auf zu einer Zeit, als Deutschland kein Reich mehr ist, die Kaiserkrone ist weg, sie hat sich nach Südosten, nach Wien, zurückgezogen auf der einen Seite, auf der anderen Seite hat sie Napoleon gehabt. Und jetzt setzen Variationen ein, indem Dichter und Schriftsteller immer neue Formen darüber erfinden, indem sie das auch in eine gebundene Sprache übersetzen, so dass Schüler es in der Schule auswendig lernen können. Das ist das, was ich narrative Variation nenne. Eingeschlossen natürlich Heinrich Heine, der in 'Deutschland ein Wintermärchen' sich Gedanken darüber macht, wie das ist, wenn die Amme ihm das erzählt, und wenn er eine kritische Perspektive darauf bekommt. Eigentlich möchte er dem Kaiser dort unten sagen, du bist ein altes Gespenst und wir brauchen dich nicht, aber dann fällt ihm die Reinszenierung von Gotik und Mittelalter ein in seiner Zeit, und er sagt, dann möchte ich aber doch lieber das Original haben und nicht diese Fälschung. Also, er setzt sich lange auseinander damit, variiert das also. Es ist eine Ressource, mit der unterschiedliche Leute ihre unterschiedlichen politischen Perspektiven einbringen. Und alle verstehen das und merken an kleinen Nuancen, ach der sieht das doch ganz anders. Wir brauchen keinen Kaiser, die einen, und die anderen, die dann sagen, also der erste Wilhelm mit dem weißen Bart ist der wiedergekehrte Friedrich mit dem roten Bart – Barbablanca Barbarossa.

    Nach dem Fall Barbarossa untersucht Münkler die Mythengeschichte des Nibelungenliedes. Schon im 18. Jahrhundert dem Wunschbild der politischen Mannhaftigkeit verfügbar, wächst ihm im 19. Jahrhundert die Aura einer "Feld- und Zeltpoesie" zu, mit der man Armeen aus dem Boden stampfen kann. Der Mythos von Siegfried und den Nibelungen fügt sich ganz der machtlüsternen Nervosität des Wilhelminismus ein, und noch die Dolchstoßlegende von 1918, selbst der Kadavergehorsam vor Stalingrad, erfahren ihre mythische Überhöhung und Rechtfertigung im Namen jenes literarisch bezeugten Heldentums. Wie tief sich in solche Interpretationen die Zeitverhältnisse und Wechselstimmungen der Geschichte eingeschrieben haben, ist nirgendwo sinnfälliger zu studieren als an der Gestalt des Doktor Faust. Mal als kühner Welterforscher begriffen, mal als verzweifelt hinfälliges Individuum der Moderne – hier mutiert ein Stoff der protestantischen Predigtliteratur zum vielschichtigen nationalen Mythos der Deutschen.
    Danach wendet sich Münkler dem Kampf gegen die Romania, der Aura Preußens und der berühmten Burgen und Städte, schließlich den politischen Mythen nach 1945 zu. Tacitus beschert den Humanisten mit seiner romkritischen "Germania" den womöglich nachhaltigsten Gründungsmythos. Die aus ihm hergeleiteten Imagines und Spruchweisheiten von deutscher Treue und Redlichkeit, von deutschem Mut und Freiheitssinn, immer wieder inkarniert in Hermann und der siegreichen Varus-Schlacht, reichen bis in die nazistische Wahnideologie hinein, das Sonderbewusstsein der Nation hat hier kraft verschiedenster "Narrationen" immer wieder fröhliche Urständ' gefeiert. Selbst der Mythos Preußens gehört noch in diese Zentralperspektive deutscher Selbstbeglaubigung. Viel länger als die Königin-Luise-Vergötterung wird sich die Friedrich-Zwei-Adoration durchhalten, bis in die Sterbestunde des Diktators Hitler hinein. Im Attentatsversuch Stauffenbergs hat sich der Preußenmythos dann ein letztes Mal ermannt zu Freiheit und Würde, insoweit ragt er noch in den Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland hinüber. Eine pointierte geschichtliche Exkursion unternimmt Münkler auch durch die deutschen Städte- und Burgenlandschaften – von der Wartburg über die kulturideologisch schillernde Aura der Dichtermetropole Weimar, die historisch geschlagenen Kunst- und Kultstädte Dresden und Nürnberg, bis hin zur nationalen Hysterie um den Kölner Dombau, und zu Weinseligkeit und Kriegsgebrüll um den alten Vater Rhein.
    Ganz anders lautet Münklers Diagnose der deutschen Nachkriegsära, in der sich der große Atem kollektiver Mythenproduktion erschöpft hat. Währungsreform, Wirtschaftswunder und Leistungsstolz sind seiner Argumentation zufolge eher "Gründungserzählungen" denn Gründungsmythen, haben sich doch nicht einmal der 17. Juni 1953 oder der Mauerfall von 1989 in der "dünnen" Staatssymbolik der Bundesrepublik durchsetzen können. Münkler ist von der Notwendigkeit ermutigender mythischer Großerzählungen – auch heute noch – überzeugt:

    Ich bin davon überzeugt, dass eigentlich demokratische Gesellschaften noch weniger auskommen ohne politische Mythen als autokratische Gesellschaften. Also der große preußische König brauchte nicht unbedingt Mythen. Der ist hinterher zwar mythisiert worden, aber er selber hat durch sein Wort den Staat regiert. Aber wie bekommt man eine Ansammlung von Leuten, die ganz unterschiedliche Vorstellungen, ganz unterschiedliche Lebenslagen haben, dazu, ein Projekt durchzuführen, das ein gemeinsames Projekt ist und bei dem nicht in jeder gleichen Weise gewinnen wird. Also man braucht eigentlich eine Erzählung, die ihnen allen, oder den meisten von ihnen, das Zutrauen schafft, dass sie das schaffen können, was sie da machen müssen. Oder aber zumindest, dass sie ihrer politischen Führung vertrauen, bereit sind, ihr zu folgen, also ihnen Kredit einräumen für die nächsten Jahre. Vielleicht kann man in Zuständen, in denen es allen gut geht, und die Wirtschaft brummt und jedes Jahr kommen fünf Prozent Wachstum dazu, und es ist etwas zu verteilen, eher darauf verzichten, dass man solche Sinnstiftungsressourcen hat. Aber in Situationen eines doch tief greifenden Umbaus oder des Herausarbeitens aus einer Krise, gar Depression, wie wir sie gegenwärtig haben, braucht man das. Das zeigt sich ja, wenn wir einen Blick auf die USA werfen. Die Hunderttausend, die sich bei Obamas Auftritt hier bei der Siegessäule versammelt haben, haben ja zum Ausdruck gebracht, dass sie ein Bedürfnis danach haben, und dass ihnen die Becksteins doch zu wenig sind.

    Herfried Münkler mag sich nicht recht entscheiden, ob die "nüchterne Profanität", die er dem bundesdeutschen Gemeinwesen attestiert, einen demokratischen Vorzug darstellt, oder ob sie Ausdruck eines Defizits ist, dem man die numinose "German Angst" zur Last legen müsse. Jedenfalls beklagt er ausdrücklich, dass die deutschen Intellektuellen seit 1989 keine "gründungs- und orientierungsmythischen Erzählungen" vorgelegt, sondern diese den "Funktionsäquivalenten" überlassen haben, die aus Medien und Tagespublizistik geflossen sind, und oftmals nur kurzlebigen Kampagnencharakter besessen hätten. Am Ende bleibt die Frage - wollen wir wirklich das Ende des politischen Mythos beklagen?

    Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen.
    Rowohlt Berlin 2009, 606 Seiten, 24, 90 Euro