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Nationalsozialismus
Alfred Rosenbergs Tagebücher

Alfred Rosenberg war ein glühender Verehrer Adolf Hitlers und ein ausgemachter Judenhasser, der die Formel vom "jüdischen Bolschewismus" prägte. Rosenberg hat stets Tagebuch geführt - doch erst vor zwei Jahren tauchten seine Aufzeichnungen auf. Sie zeigen, dass sogar der Habitus des intellektuellen Geistesmenschen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem seine Rolle fand.

Von Martin Hubert | 22.06.2015
    Alfred Rosenberg (l.) und Adolf Hitler (M.) bei der Einweihung eines Kriegerdenkmals am 4. November 1923 in München.
    Alfred Rosenberg (l.) und Adolf Hitler (M.) bei der Einweihung eines Kriegerdenkmals am 4. November 1923 in München. (picture alliance / dpa)
    Was erwartet man im Jahr 2015 noch von dem wieder entdeckten Tagebuch eines Mannes, der die Formel vom "jüdischen Bolschewismus" mitprägte? Der ab 1941 Reichsminister der besetzten Ostgebiete war und nach 1945 wegen nationalsozialistischer Kriegsverbrechen angeklagt und hingerichtet wurde? Man hofft, aus den Berichten Alfred Rosenbergs noch einmal etwas über die Psychologie nationalsozialistischer Täter lernen zu können. Und man sucht nach neuen Enthüllungen über die damaligen politischen Realitäten.
    Die beiden Herausgeber des Tagebuchs, die Historiker Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, machen in ihrer ausführlichen Einleitung deutlich, dass Alfred Rosenbergs Notizen natürlich keine neue Sicht der NS-Zeit liefern. Das liegt schon daran, dass das Tagebuch große zeitliche und thematische Lücken aufweist. Um den Gesamtzusammenhang zwischen 1934 und 1944 verständlich zu machen, haben die Herausgeber daher in einem Anhang weitere Texte und Reden Alfred Rosenbergs hinzugefügt. Einen Punkt finden sie dennoch im Tagebuch, der bisherige Annahmen über Rosenbergs politischen Einfluss zumindest relativiert. Sie schreiben:
    "Für den 16. Juli 1941 hatte ihn Hitler zusammen mit Göring, Keitel, Lammers und Bormann ins Führerhauptquartier einbestellt, um - so Rosenberg - die 'Aufteilung des osteuropäischen Raums, ihre Form, Zielsetzungen, Leitung usw.' zu besprechen und ihn in sein Amt einzusetzen. Bormanns Aufzeichnung folgend haben Historiker die Besprechung überwiegend als Beleg für die Schwäche des Ostministeriums gegenüber konkurrierenden Kräften in Partei und Staat gedeutet. Rosenbergs Tagebucheintrag zeichnet dagegen ein anderes, nicht weniger subjektives Bild. Danach scheint er bei Hitler mit seiner Empfehlung durchgedrungen zu sein, die deutsche Besatzungspolitik über die Rohstoff-und Ernährungssicherung hinaus am Ziele einer langfristigen, ethnisch-geographischen Kriterien verpflichteten Neuordnung des europäischen Teils der Sowjetunion auszurichten."
    Rosenbergs Planspiele für das Baltikum
    Der Deutsch-Balte Rosenberg hatte ein detailliertes Programm entworfen, wie das Baltikum, Weißrussland oder die Ukraine neu geordnet werden müssten, um den deutschen Machtbereich langfristig zu sichern. Er trat dabei als ein Kenner der Völkerpsychologie auf, der sein Wissen einsetzen könne, um Deutschlands Herrschaft nicht nur durch Gewaltmaßnahmen, sondern auch politisch-strategisch auszubauen. Hitler nahm letztlich zwar Rosenbergs Vorschlag, die Ukraine als selbstständigen Staat zuzulassen, nicht an. Er ließ sich aber nach den Tagebuchnotizen zumindest ansatzweise auf Rosenbergs Planspiele ein. Der hoffte also, dass seine 1930 in der rassistischen Programmschrift "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" entworfene Ideologie geschichtsmächtig werden könnte. Rosenberg verstand Rasse weniger als ein biologisches denn als ein geistiges Prinzip, das die Kollektivseele eines Volkes kennzeichne. Sein Traum war es, als Experte der Rassenseelen die deutsche Zukunft gemeinsam mit dem Führer prägen zu können. Davon zeugt zum Beispiel ein Tagebucheintrag vom 12. August 1936:
    "In Nürnberg wächst die größte Kongresshalle der Welt. In allen kommenden Jahren und Jahrhunderten soll dort das Bekenntnis zum ewigen Deutschland abgelegt werden. Und in den Grundstein dieses Riesenhauses sind für alle Zeiten zwei Werke eingemauert. 'Mein Kampf' und der 'Mythus'.
    Das können auch jene Neidhammel nicht aus der Welt schaffen, die von meinen Gedanken zehren; aber zu klein sind, das eingestehen zu wollen."
    In Rosenbergs Tagebuch finden sich kaum private Schilderungen. Auch die brutale Vernichtung von Juden und Bolschewiken, für die der glühende Antisemit und Antikommunist im Osten mitverantwortlich war, wird kaum direkt thematisiert. Es enthält vor allem das Psychogramm eines Menschen, der sich als Intellektueller innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung verstand. Rosenberg beklagte etwa, dass er als "schwach" eingeschätzt und als "Philosoph" verunglimpft worden sei. Er wusste auch, dass Hitler sein Mythus-Buch für zu schwierig und seine radikal antiklerikale Haltung für taktisch unklug hielt. Trotzdem versuchte er sich mit Hitler zu identifizieren, indem er die intellektuelle Abneigung gegen die Masse kultivierte.
    "Die Propaganda, die der Führer macht, bildet immer Formen heraus; was aber amtlich dann oft geschieht, ist Masse, Übersteigerung. Das ist am Ende wirkungslos, wie wenn man sich überfressen hat. Diese Massenhaftigkeit ist eine Gefahr auch für die Erziehung der Partei: Mit Dr. Ley bin ich hier heftig aneinandergeraten, der das Prinzip der Massenveranstaltung und 'Kraft durch Freude' auf die Schulung übertragen will. Er will nachgerade alles machen und die Gestalten beginnen zu zerfliessen. Den Gedanken einer Ordensform habe ich aufgebracht, Ley will aber Ordenshäuser mit 1000 Mann! Also Disqualifizierung der Ordensidee."
    Rosenberg stilisiert sich zur Legende
    Der Reichsleiter der NSDAP Robert Ley, Joseph Goebbels und viele andere waren für Alfred Rosenberg reine Propagandisten - während er und die wahren Parteigenossen die reinen Ideen der Bewegung verkörperten: eine neue Volksreligion des starken Willens, die Fähigkeit zu formender Führung und zum geistig überlegenen Herrentum. Als sich die militärische Niederlage Deutschlands abzeichnete, machte Rosenberg dafür dann auch mangelnden Geist und fehlendes Führertum mit verantwortlich. Jürgen Matthäus und Frank Bajohr meinen, dass das auch als Versuch zu werten sei, sich reinzuwaschen und an einer eigenen Legende zu arbeiten. Das spielt sicher eine Rolle. Die Tagebuchnotizen belegen jedoch, dass sich Alfred Rosenberg bis zuletzt mit seiner Idee des geistigen Führermenschen voll und ganz identifizierte. Vom weltanschaulich begründetem Antisemitismus und Massenmord hat er sich nie distanziert. Und noch angesichts des Bombenhagels auf deutschen Städte wollte er derjenige sein, der die rettende Idee für die Zukunft liefert.
    "Angesichts dieser Vernichtung der Großstädte erscheint mir für die Zukunft eine Chance für Wiederentdeckung des Ländlichen gegeben wie noch nie. Wir müssen diesen Wink des Schicksals verstehen und nie mehr die Bildung ähnlicher Weltstädte zulassen. Die Fliegerwaffe ist der stärkste Druck für diesen Gedanken: die höchstentwickelte Technik zwingt wieder aufs Land, spricht gegen Hochhäuser."
    Alfred Rosenberg war eine intellektuelle Variante des autoritären Charakters. Einerseits unterwarf er sich der Autorität des wahren Führers, andererseits wertete er alles Abweichende ab und gab es der Vernichtung preis. Sein spät veröffentlichtes Tagebuch ist daher ein lehrreiches Dokument. Es zeigt, wie sogar der Habitus des intellektuellen Geistesmenschen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem seine Rolle spielen konnte.
    Jürgen Matthäus und Frank Bajohr (Hg.): "Alfred Rosenberg: Die Tagebücher von 1934 bis 1944"
    S. Fischer; 656 Seiten; 26,99 Euro.
    ISBN-13: 9783100023872