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NATO darf nicht "Dauertüröffner für Regimewechsel" werden

"Die islamische Welt muss ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen," fordert Roderich Kiesewetter und warnt vor einer Überforderung der NATO, sollte sie sich in Syrien engagieren wollen.

26.04.2011
    Silvia Engels: Baschar al-Assad, der Machthaber in Syrien, hatte in den ersten Wochen der Demonstrationen gegen sein Regime eine Art Doppelstrategie gewählt. Neben hartem Vorgehen hatten seine Sicherheitskräfte auch einige politische Zugeständnisse angekündigt. Doch mittlerweile scheint sich das Regime ganz auf Gewalt festgelegt zu haben, am Wochenende starben mehrere Menschen, als das Militär hart vorging.
    Am Telefon ist nun Roderich Kiesewetter, er ist für die CDU Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages und er ist Oberst der Reserve. Guten Tag, Herr Kiesewetter.

    Roderich Kiesewetter: Ich grüße Sie, Frau Engels.

    Engels: Wir haben gerade noch eine Situationsbeschreibung aus Syrien gehört, dort eskaliert seit einigen Tagen die Gewalt. Wie sollte sich Deutschland, wie sollte sich Europa und wie sollte sich der UN-Sicherheitsrat gegenüber Syrien positionieren?

    Kiesewetter: Ich denke, dass der UN-Sicherheitsrat sehr rasch eine Resolution verabschieden muss. Aber viel entscheidender ist ja, was praktisch geschieht, und hier halte ich es für ganz wichtig, dass wir von Anfang an klar machen, dass ein weiteres militärisches Eingreifen, so wie wir das in Libyen haben, die westliche Gemeinschaft sicherlich überfordern würde. Viel wichtiger ist es, dass wir von der Europäischen Union aus eine ganz neue Nachbarschaftspolitik starten mit konkreten Themen. Die alte Nachbarschaftspolitik, der Mittelmeerdialog, war zu verkrustet und ist gescheitert. Es geht doch letztlich auch darum, dass wir der Bevölkerung eine Perspektive vermitteln. Es geht darum, den Agrarmarkt zu öffnen, Bildung und Ausbildung zu erreichen.

    Engels: Aber erst mal wird jetzt dort geschossen, erst mal eskaliert die Gewalt. Nun hat sich Großbritannien als ersten Schritt erst mal für die Verschärfung von Sanktionen ausgesprochen. Da könnten eben Möglichkeiten eines Embargos oder Kontensperrungen infrage kommen. Muss das nicht als Erstes geschehen?

    Kiesewetter: Hier sind jetzt ja auch die Vereinigten Staaten daran, die gleichfalls ein entsprechendes Embargo wollen. Ich halte sehr viel davon, dass wir sehr rasch mit Sanktionen beginnen, da ist auch Deutschland in der Pflicht. Die Sanktionen müssen natürlich gezielt sein. Wir sehen das im Iran, wie wirksam sie sein können, wenn man sie gezielt macht. Es geht auch darum, Vermögen einzufrieren, Auslandsvermögen des syrischen Regierungsclans. Mit dem entsprechenden Regierungschef haben wir ja seit zehn Jahren den jüngsten Diktator der arabischen Welt. Baschar al-Assad ist entzaubert und hier geht es darum, diese Entzauberung fortzusetzen, und es geht aber auch darum, das ist mir ganz wichtig, dass die islamische Welt selber zeigen kann, dass sie selbst etwas leisten kann. Also wir von der Europäischen Union aus und den Vereinten Nationen müssen die Arabische Liga stärken. Die Arabische Liga muss in allererster Linie auf Syrien einwirken und zur Not auch mit militärischer Gewalt. Es kann nicht sein, dass immer die westlichen Regierungen und Gemeinschaften eingreifen; die islamische Welt muss ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, gerne geleitet und unterstützt durch Deutschland, durch die Europäische Union und die Vereinten Nationen.

    Engels: Das heißt, im Unterschied zu Libyen, wo Sie ja sagen, Syrien sollte nicht auf eine militärische Eskalation mit NATO-Luftschlägen zum Beispiel geführt werden, ist der andere Blick, dass Sie sagen, wenn andere arabische Staaten militärisch intervenieren, dann würden Sie, dann sollte auch Deutschland das unterstützen?

    Kiesewetter: Wir sollten auf jeden Fall die Arabische Liga zur Selbsthilfe ermutigen. Es ist doch ganz entscheidend, dass die Vereinten Nationen über einige wirksame Unterorganisationen verfügen – das ist die OSZE, das ist die NATO, das ist die EU -, aber im arabischen Raum gibt es so etwas nicht. Die Afrikanische Union beginnt mühsam, sich zu sammeln. Die Arabische Liga hat erkannt – und nur deswegen hat ja auch dann die NATO letztlich eingegriffen -, dass es auf sie selber ankommt, zu unterstützen. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate machen das ja in Libyen. Aber es darf nicht sein, dass die NATO der Dauertüröffner für Regimewechsel ist. Und wir sehen ja, wie schwierig und mühsam es ist, in Libyen einen Regimewechsel durch militärische Eingriffe herbeizuführen. Wir brauchen für Syrien eine Gesamtstrategie, ohne einen militärischen Eingriff der NATO. Dafür plädiere ich, weil wir unser westliches Bündnis hier nicht überfordern dürfen und hier die Araber fordern müssen. Und ich glaube auch, dass Israel – das ist ja auch am Brennpunkt zu Israel -, dass auch Israel ein ganz großes Interesse daran hat, nicht die einzige Demokratie in der Region zu bleiben.

    Engels: Herr Kiesewetter, Sie sagen einerseits, nun sollten sich die arabischen Staaten, auch die Arabische Liga stärker engagieren, die NATO sei mit einem militärischen Eingreifen bei Syrien einfach überfordert. Aber misst man da nicht in zweierlei Maß, denn was unterscheidet denn das harte Vorgehen des Regimes in Syrien vom harten Vorgehen des Diktators Gaddafi in Libyen? Hat man da einfach seine eigenen Messlatten zu hoch gelegt und kann sie nun nicht erfüllen?

    Kiesewetter: Wir haben sehr hohe Messlatten, das ist völlig richtig, und als Nächstes steht ja möglicherweise Jemen vor der Haustür, und aus meiner Sicht ist das eine Überforderung, gleichwohl die Mittelmeer-Region deutlich näher an uns liegt als vielleicht Jemen. Aber es ist doch letztlich die Frage, wie wir mit einer gescheiterten Mittelmeer-Politik umgehen, und die Antwort darauf kann nicht ein fortgesetztes kontinuierliches militärisches Eingreifen der NATO sein. Dagegen sollten wir uns durchaus verwehren. Viel wichtiger ist, dass unsere Außenpolitik wieder dazu führt, dass Europa mit einer Stimme spricht. Das ist uns ja leider in der Abstimmung mit Libyen nicht gelungen. Das ist aber nichts, was kurzfristig hilft, Frau Engels. Das sage ich Ihnen auch ganz offen. Möglicherweise müssen wir sehr rasch mit Sanktionen beginnen und auch die Araber unterstützen, aber es kann nicht sein, dass wir den Systemwechsel immer von außen herbeiführen und dann von der westlichen Welt. Jetzt ist die islamische Welt gefordert zu zeigen, dass ihr Demokratie und Menschenrechte am Herzen liegen, und da müssen wir sie stellen und fordern, übrigens auch den Diktator in Syrien.

    Engels: Dann schauen wir noch mal kurz auf Libyen, dort ist ja kein Ende der Kämpfe in Sicht. War es dann aus heutiger Sicht doch richtig, dass sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat enthalten hat?

    Kiesewetter: Die Enthaltung war aus meiner – das ist meine ganz persönliche Sicht – Sicht nicht richtig. Wir hätten zustimmen können, aber dann mit bestimmten Vorbehalten eben anderes leisten, zum Beispiel humanitäre Hilfe. Aber das ist vergessen, das war vor wenigen Wochen. Jetzt geht es darum, dass wir in Libyen einen schnellen Systemwechsel schaffen, entweder durch eine Lösung, dass Gaddafi das Land verlässt, was sicherlich nicht befriedigend ist, denn er gehört vor den internationalen Gerichtshof, oder aber eben durch kontinuierliche Unterstützung der Rebellen, verbunden mit humanitärer Hilfe und dem Waffenembargo, gleichwohl wir auch hier keine ganze Hilfe leisten können, weil ungehindert über den Tschad Waffen und Munition nach Libyen einfließen. Also es zeigt auch wiederum und gerade das Beispiel Libyen zeigt, wie unglücklich es wäre, jetzt auch militärisch in Syrien einzugreifen. Wir hätten Baustellen, die wir nicht zu Ende bringen können.

    Engels: Roderich Kiesewetter, er ist für die CDU im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Kiesewetter: Herzlichen Dank! Auf Wiederhören.

    Engels: Auf Wiederhören.

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