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"Natürlich habe ich gesehen, was in der DDR leider alles schiefläuft"

Die habilitierte Wirtschaftswissenschaftlerin Christa Luft gehörte seit 1958 der SED an. Im November 1989 trat sie als stellvertretende Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin in die DDR-Übergangsregierung von Hans Modrow ein. Ab 1990 prägte sie maßgeblich das Wirtschaftsprogramm der PDS. 1994 und 1998 wurde Christa Luft die PDS in den Bundestag gewählt.

Christa Luft im Gespräch mit Rainer Burchhardt |
    Sprecherin: Professor Doktor Christa Luft, geboren am 22. Februar 1938 in Krakow am See bei Güstrow in Mecklenburg, deutsche Gesellschaftswissenschaftlerin und Politikerin. Sie war stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates und Wirtschaftsministerin der DDR in der Modrow-Regierung und später Bundestagsabgeordnete der PDS. Nach dem Abitur studierte Luft ab 1956 an der Hochschule für Außenhandel und an der Hochschule für Ökonomie HFÖ in Berlin. 1960 graduierte sie dort zur Diplomökonomin, zur Doktor rer. oec. promovierte sie 1964. Mit einer Arbeit über Konsumentenverhalten und Marketing habilitierte Christa Luft an der HFÖ, dem führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institut der DDR in Berlin-Karlshorst. Politisch war sie seit 1958 in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands SED organisiert. Im November 1989 trat Luft als stellvertretende Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin in die DDR-Übergangsregierung von Hans Modrow ein. Nach den vorgezogenen Volkskammerwahlen von März 1990 bildete die Ost-CDU unter Lothar de Maizière eine Koalitionsregierung ohne die PDS. Luft wurde für die PDS in Chemnitz in die Volkskammer gewählt. Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 endete ihr Mandat. Politisch prägte Luft ab 1990 das PDS-Wirtschaftsprogramm maßgeblich. Bei der Bundestagswahl 1994 gewann sie ein PDS-Mandat in Berlin, und auch 1998 zog sie wieder für die PDS in den Bundestag ein. Allgemeines Ansehen erwarb sich Christa Luft als Obfrau der PDS im Haushaltsausschuss und als Haushaltspolitische Sprecherin. Parteiintern gehörte sie 1997 bis 1999 als Vertreterin des Reformflügels dem PDS-Vorstand an. Christa Luft verzichtete 2002 auf eine erneute Kandidatur für den Deutschen Bundestag. Sie hat zwei Söhne und lebt in Berlin.

    Christa Luft: "Ich komme aus einer Familie ohne akademischen Hintergrund, ich war die erste, die auf die Oberschule ging."

    Sprecherin: Frühe Kindheitserinnerungen an ein Paradies.

    Rainer Burchhardt: Frau Professor Luft, Ihr Leben, Ihr sehr abwechslungsreiches Leben begann in einem kleinen Dorf in der Nähe von Güstrow in Krakow. Sie sind geboren als Kind einer Arbeiterfamilie. Was für eine Familie war das?

    Luft: Also geboren bin ich in Krakow am See, das ist eine kleine Stadt, eine ganz hübsche kleine Stadt, mit einer Umgebung, von der Fritz Reuter mal gesagt hat, das sei das Paradies. Zum Beispiel kann man da heute noch Seeadler im freien Flug erleben. Aber dort war ich nicht lange, weil meine Eltern dann nach Wismar gezogen sind, und in Wismar hat mein Vater gearbeitet auf der Dornier-Werft.

    Burchardt: Während des Krieges.

    Luft: während des Krieges, und meine Mutter war in der Kantine der Dornier-Werft beschäftigt. Nach dem Kriegsende sind meine Eltern sieben Kilometer von Wismar abgelegen in ein Dorf gezogen, wo sie eine Siedlung übernommen haben, eine Neubauansiedlung von acht Hektar – das war damals das Maß, was gewährt wurde – mit einem Pferd, mit zwei Kühen, mit einem Schaf, mit einer Sau, die jedes Jahr zweimal ferkelte mindesten.

    Burchardt: Also erneut ein Paradies für Sie.

    Luft: Wieder ein Paradies für mich, jedenfalls, mit Federvieh, mit einem Hund, mit Katzen – also ich bin in einer tierreichen Umgebung aufgewachsen, habe frühzeitig eine Tierliebe entwickelt.

    Burchardt: Aber man …

    Luft: Ja, ich komme aus einer Familie ohne akademischen Hintergrund, ich war die Erste, die auf die Oberschule ging. Nach mir kamen dann noch Andere auf diesen Weg, aber es war eine Familie, die viel gearbeitet hat, in der ich gelernt habe, Respekt vor Arbeit, auch vor körperlicher Arbeit zu haben, und vor denjenigen, die sie ausüben. Den Respekt habe ich mir bis heute erhalten. Ich komme aus einer Familie, in der Vater und Mutter – da waren sie beide Anfang 40 – Bildungsabschlüsse nachgeholt haben, die sie vorher, in ihrer Jugend, nicht hatten machen können. Mein Vater hatte sich zum Meister qualifiziert auf der Schiffswerft Wismar. Meine Mutter hat eine Weiterbildung gemacht und wurde Küchenleiterin in einer polytechnischen Oberschule und hatte jeden Tag die Verantwortung für die gesunde und ordentliche Ernährung von mehreren hundert Schülern – also in so einer Umgebung bin ich aufgewachsen, und habe gute Erinnerungen daran.

    Burchardt: Ja, ja. Wenn wir jetzt die beiden Paradies-Phasen nehmen, so umklammern die ja eine nicht so schöne Zeit in Deutschland, nämlich den Zweiten Weltkrieg. Das war ihre Kindheit. Wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt oder noch heute in Erinnerung?

    Luft: Mir ist – mal abgesehen davon, dass mein Vater auch dann jahrelang weg war, im Krieg war, glücklicherweise gesund nach Hause kam, was ja nicht vielen Kinder damals beschert worden ist – ich habe in Erinnerung, dass ich, eingeschult 1944, oft nach Hause gehen konnte, weil wegen Fliegeralarm war die Schule dann zu. Auf Wismar fielen ganz viele Bomben, wegen der Flugzeug-Werft, wegen der Werft überhaupt, die es dort gab. Und ich erinnere mich, dass 19… – na, es war 44 – fielen Bomben auf die drei großen Kirchen in Wismar, von denen dann lange auch – also nach dem Krieg noch – zu sehen war, was da zerstört worden ist. Und eine Sache wird mir bis an mein Lebensende nicht aus dem Sinn gehen: Ich bin mit meiner Mutti im April 1945 – waren wir auf einer Wiese, es war schon schönes Wetter, das Gras war sehr grün, Butterblumenblüten, und wir sammelten für unsere Kaninchen Futter. Und über uns flogen plötzlich zwei Tiefflieger. Die wollten sicher nach Wismar, wir waren sieben Kilometer weg davon. Und die machten sich was draus, über uns.

    Burchardt: Wussten Sie, ob das Russen oder Amerikaner oder Engländer waren?

    Luft: Das waren Amerikaner, das waren Amerikaner, ja – die machten sich was draus, über uns zu kreisen. Man glaubt, das sei elend lange gewesen, natürlich war das nun auch nicht elend lange. Aber das bleibt mir in Erinnerung, wie diese Flugzeuge sich uns näherten, immer niedriger kamen, immer niedriger kamen und dann abdrehten nach Wismar und dort auch noch wieder Bomben warfen. Also …

    Burchardt: Es war ein grausames Spiel mit Kindern.

    Luft: Das war ein grausames Spiel. Diese Schulunterbrechung ist mir in Erinnerung, ganz besonders, dann die Abwesenheit meines Vaters natürlich und dieses Erlebnis mit den Tieffliegern.

    Sprecherin: Deutschlandfunk – das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit der ehemaligen DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft.

    Luft: Ich höre mir gerne Orgelkonzerte an.

    Sprecherin: Weiterführende Ausbildung und Lehrjahre in der DDR.

    Burchardt: In Ihre Schulzeit fällt dann ja die Gründung der DDR. Wie haben Sie das empfunden? Haben Sie gesagt, das ist jetzt gut, dass hier zwei deutsche Staaten entstehen, oder war für sie schon absehbar – ich meine, Sie waren da, wie alt waren Sie da?

    Luft: Elf.

    Burchardt: Sie waren elf Jahre - nicht so richtig, oder?

    Luft: Nein, also, da kann ich wirklich …

    Burchardt: Aber wurde da nicht schon politisch irgendwie agitiert?

    Luft: Da kann ich wirklich keine glaubwürdige Antwort drauf geben. Also das war genau wie – ich werde manchmal gefragt: Wie haben Sie denn 1953 empfunden, den Aufstand?

    Burchardt: Das wäre meine nächste Frage.

    Luft: Ja, aber da war ich 15. Und oben in Mecklenburg war das auch nicht so ein Ereignis. Es war nicht so wie in Berlin oder meinetwegen Leipzig, wo es große Industrieansiedlungen gab und dort Menschen gesagt haben, wir wollen das nicht mehr. Ich habe das so nicht erlebt.

    Burchardt: Aber war das nicht Thema in der Schule? Es war ja sogar bei uns in der Schule im Westen der Fall.

    Luft: Ja, das glaube ich schon, aber es mag bei denen – nein, nein, das wäre falsch, wenn ich das jetzt sage, weil das noch gar keine Rolle gespielt hat. Ich wollte eben sagen: Also die Grenze geschlossen wurde, da gab es natürlich.

    Burchardt: 61, ja.

    Luft: 61, ja, besonders bei denen, die Verwandte ersten Grades hatten, – ich hatte keine Verwandten ersten Grades, sondern zweiten Grades im Westen damals – aber was 49 - ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nur, es wurden Pionierorganisationen gegründet, das fanden wir ganz schön, da hatte man eine nachschulische Beschäftigung, Arbeit, es gab dort Zirkel für verschiedene Interessensgruppen, es gab Ausflüge, es gab Reisen in den Harz, nach Weimar – da habe ich das erste Mal den langen "Faust" im Nationaltheater gesehen in der achten Klasse.

    Burchardt: In Weimar?

    Luft: Also das waren schon für uns damals auch glückliche Momente. Vieles konnte man als Kind in dem Alter nicht abschätzen, was alles noch so damit verbunden war.

    Burchardt: Sie sind aber davon unabhängig 1952 in die FDJ, also in die Freie Deutsche Jugend eingetreten, in die Organisation. War das sozusagen das Gruppenerlebnis oder war das eine individuelle Entscheidung?

    Luft: Nein, das war sozusagen es war normal, es galt als normal, es galt als üblich. Also ich kann mich nicht erinnern, dass ich vorher das Statut der FDJ gelesen hätte, um mich zu entscheiden, sondern da gingen alle hin, und dann habe ich das auch gemacht.

    Burchardt: Das war auch das Jahr, als Sie auf die Oberschule beziehungsweise auf eine spezielle Fakultät an der Oberschule kamen, vielleicht erzählen Sie das mal?

    Luft: Nein, das war nicht eine spezielle Fakultät. Ich bin ganz normal nach Grevesmühlen. Also eigentlich hätte Wismar für mich infrage kommen müssen als Schulort für die Oberschule, aber das war eben in der DDR so. Man wurde auch einfach eingeteilt. Und so kam ich nach Grevesmühlen – eine kleine, auch schöne Stadt, und dort habe ich drei Jahre die Oberschule besucht bis zur elften Klasse, war überzeugt, ich mache dort auch das Abitur, also gehe bis zur zwölften Klasse, und dann wurde ich kurz vor Ende des elften Schuljahres zusammen mit drei weiteren – noch einem Mädchen und zwei Jungs – zum Direktor und einem weiteren Angehörigen des Lehrerkollektivs gerufen, und es wurde gefragt: Hättet ihr nicht Lust, währet ihr bereit, oder was spräche dagegen, dass ihr nach Halle geht? In Halle gibt es eine ABF II, eine Einrichtung, wo Jugendliche, vor allen Dingen aus Elternhäusern, die mit körperlicher Arbeit zu tun hatten, also Arbeiter aus den Bauern-Elternhäusern, auf das Abitur vorbereitet werden.

    Burchardt: Wir sollten vielleicht für die Nichtkundigen sagen, ABF heißt Arbeiter- und Bauernfakultät.

    Luft: Genau, ja – und das Ziel war, vorbereitet zu werden für ein Studium im Ausland. Ausland hieß damals für uns Sowjetunion, alle anderen sozialistischen Länder. Das war damit verbunden, dass auf dieser ABF II dann auch große Teile des Unterrichts in der Fremdsprache, in der russischen Sprache stattfanden, weil man ja nicht ganz unbeleckt ins Ausland kommen konnte, um dann dort etwa Vorlesungen folgen zu können. Ich muss sagen, ich bin nicht mit wehenden Fahnen, habe ich dort nicht ja gesagt, musste mich auch erst mit meinen Eltern beraten.

    Burchardt: Wurde Ihre Linientreue da irgendwo nachgefragt?

    Luft: Linientreue – ja, heute würde man vielleicht das so benennen. Natürlich wurde keine.

    Burchardt: Also sagen wir politische Zuverlässigkeit, wertneutral.

    Luft: Hat keiner. Ja, aber ich meine, was heißt politische Zuverlässigkeit? Vielleicht hat eine Rolle gespielt, dass ich keine Verwandten ersten Grades hatte in der Bundesrepublik. Das hat sicher eine Rolle gespielt. Ich war nie irgendwie mit großer Renitenz aufgefallen, das stimmt auch. Aber dennoch sage ich mir im Rückblick, ich habe mir auch nicht einfach alles gefallen lassen. Ich erinnere mich an das Aufnahmegespräch, das wir in Rostock hatten. Wir mussten dann zu viert nach Rostock und jeder einzeln zu einem Aufnahmegespräch für dieses Studium an der ABF II in Halle, und neben vielen anderen Dingen wurde ich dort zum Beispiel gefragt: Wie stehst Du denn zur Kirche? Oder vielleicht haben sie auch gesagt, wie stehen Sie, das weiß ich nicht mehr genau. Aber wir waren ja immerhin elfte Klasse, und vielleicht haben sie uns schon mit Sie angesprochen. Ich war innerlich empört über diese Frage. Ich dachte, das geht Euch gar nichts an, wie ich zur Kirche stehe! Aber bitte, wenn ihr es wissen wollt. Da habe ich gesagt: Ich höre mir gerne Orgelkonzerte an.

    Burchardt: Genial!

    Luft: Und habe gedacht, jetzt ist die Sache gelaufen.

    Burchardt: Genial.

    Luft: Denn ich sah die Gesichter. Aber nach einer – die haben sich dann beraten – und nach einer Beratung haben sie mir gesagt: Na gut, also.

    Burchardt: Gegen Orgeln kann man auch nichts sagen.

    Luft: Ja, und da bin ich dann nach Halle gekommen, das erste Mal einige Wochen immer von zuhause weg. In Grevesmühlen war ich auch schon ein Jahr in einem Internat gewesen, weil von meinem Dorf nach Grevesmühlen fuhr – ich musste ja immer mit dem Zug dort hinfahren, und im Winter hatte der Zug immer Verspätung. Das war so wie heute. Aber damals gab es ja auch noch viel weniger Möglichkeiten der Schneeberäumung. Und da ja mehrere aus dem Dorf immer zu spät kamen, hatte man uns in Grevesmühlen in einer Villa Internatszimmer eingerichtet. Also ich kannte schon ein bisschen, aber immer doch nur für drei, vier Tage von zuhause weg zu sein, und dann ging ich nach Halle, und da mussten wir doch alle sechs Wochen einmal nach Hause fahren, das war ein straffes Regime dort.

    Burchardt: War das kadermäßig schon, wie man heute oftmals hört? Oder haben Sie das Gefühl gehabt, dass Sie kadermäßig schon geschult werden in eine ganz bestimmte politische Richtung?

    Luft: Ich habe das vielleicht damals – ja gut, natürlich hat man empfunden, dass die, die da das Sagen hatten, ziemlich stramme Leute nach außen zu sein schienen und sich auch so gaben. Es trat für mich dann zwei Jahre später, 58 war das, eine – also ich bin bald vom Pferd gefallen, als ich hörte, dass Herr Wokittel, der war damals der Chef in Halle an der ABF II, der war abgehauen, der war gen Westen.

    Burchardt: Der hat rübergemacht.

    Luft: Da hat der sich abgesetzt und noch ein paar andere, genau die, die die Allerschärfsten damals waren. Das gab einem als Jugendlicher damals schon einen ziemlichen Stich. Ich habe in Halle auch erlebt die Enthüllungen von Chruschtschow über Stalin. Das hat uns, also ja, wir wussten alle nicht mehr, was wir machen sollten. Wir waren ja.

    Burchardt: Ja, da war die Entstalinisierung ja schon unterwegs, 58.

    Luft: Ja, aber die Entstalinisierung, da ging es ja im Grunde nur um Verbrechensbekämpfung, und diese schlimmen Verbrechen aufzuklären und nicht mehr zu zulassen. Manches andere an Gesten hat sich ja doch noch eine Weile gehalten, nicht?

    Burchardt: Sie haben dann in den 60er-Jahren promoviert und hinterher auch Ihre Habil geschrieben, im Wesentlichen als großes Thema der Außenhandel. War das für Sie damals schon klar von Anfang an, ich gehe in die Ökonomie, ich werde so etwas wie eine Wirtschaftsprofessorin, wie sie es ja dann auch später geworden sind, und auch dann in Ihrer Funktion etwa im RGW, im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – besser im Westen als Comecon bekannt?

    Luft: Nein, das war überhaupt nicht klar. Im Gegenteil, für mich stand fest: Du machst irgendwas, wenn es um die Berufswahl geht, was mit Tieren zu tun hat. Und als ich dann auf die Oberschule kam, festigte sich bei mir der Wunsch: Du wirst Veterinärmedizin studieren, und zwar in Rostock. Das war die nächste Universität, und die hatte eine gute veterinärmedizinische Fakultät. Und ich wusste auch schon: Wenn du da fertig bist, dann gehst du auf die Insel Riems bei Greifswald und arbeitest in dem Tierseuchenforschungsinstitut.

    Burchardt: So konkret war das alles?

    Luft: Das war für mich klar! So, und dann kam diese Werbeaktion nach Halle zu gehen – da hatte ich den Wunsch auch noch nicht abgeschrieben. Aber ich wurde nun in Halle einsortiert – in Halle gab es drei Züge, wie das damals hieß: einen medizinischen, einen naturwissenschaftlichen und einen sprachlichen Zweig. Ich kam von Grevesmühlen von der Oberschule aus einem sprachlichen Zweig, hatte also drei Fremdsprachen dort gehabt.

    Burchardt: Welche waren das?

    Luft: Das waren – Russisch war immer die Hauptsprache -, und dann konnte man wählen Französisch und Englisch, und Latein hatte ich dort ein Jahr. Und ich wurde in Halle einsortiert – da gab es auch keine Widerrede – in einen naturwissenschaftlichen Zweig mit ganz viel Mathematik. Meine erste Vier schrieb ich dort in Mathe – Vieren kannte ich vorher gar nicht –, weil Andere waren viel weiter in Mathe als ich. Ich musste also mich auf den Hosenboden setzen und das nachholen. Das habe ich auch geschafft. Aber damals, dann war für mich diese Möglichkeit, doch noch in die Veterinärmedizin zu kommen, die war erledigt, weil ich in Halle kein Latein mehr hatte. Und ich brauchte damals das kleine Latinum, was zwei Jahre umfasste, ich hatte aber von Grevesmühlen nur ein Jahr mitgebracht. Also, es stand also im Stillen schon immer für mich die Frage, du musst irgendwie dich auch umorientieren. Und dann kam wieder 1955, im Frühjahr 55, kam eine Gruppe von Hochschullehrern, von – ja, Lehrern, die waren schon Hochschullehrer – aus Berlin-Staaken. Dort war eine Hochschule für Außenhandel neu gegründet worden, und die suchten natürlich Leute, die dort studieren werden. Und da für mich die Sache mit der Veterinärmedizin sich leider erledigt hatte, habe ich mir überlegt: Du hast Interesse für Fremdsprachen, Du hast Interesse für Wirtschaft und Politik, vielleicht verbindet sich das da ganz gut. Und ich kam dann nach Berlin-Staaken an diese Hochschule für Außenhandel.

    Sprecherin: Heute im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks: Christa Luft, ehemalige Wirtschaftsministerin der DDR.

    Luft: Natürlich habe ich gesehen, was in der DDR leider alles schiefläuft.

    Sprecherin: Die DDR als geteilter Himmel. Und: Moskauer Einblicke auf den realen Sozialismus.

    Burchardt: Diese Periode ist ja auch nicht ganz uninteressant, wenn wir wieder den zeitgeschichtlichen Hintergrund nehmen. 1985 hatten wir das sogenannte Berlin-Ultimatum und 1961 das von Ihnen ja auch schon erwähnte Ereignis Berliner Mauer, Trennung. Vielleicht ganz kurz einen Rekurs, Christa Wolf ist gerade gestorben, in diesen Tagen. Was hat die eigentlich für Sie bedeutet in der DDR damals? Sie war ja eigentlich hin- und hergerissen zwischen Zustimmung zum System, aber auf der einen Seite, bei "Nachdenken über Christa T." – damit sind Sie sicherlich nicht gemeint –, aber da geht es ja um eine Persönlichkeit, die einerseits die Individualität, auf der anderen Seite aber in einem kollektiven System versucht zu bewahren.

    Luft: Also ich konnte das gut nachvollziehen, was sie geschrieben hat. "Der geteilte Himmel" war ja dann ein herausragendes Buch, in der DDR nicht so. Es war nicht so gern gesehen.

    Burchardt: Das war west-östliche Liebe.

    Luft: Ja, genau. Aber das Gefühl, was Christa Wolf immer beschrieben hat, auch noch bis in ihre letzten Monate, dass sie mit dem Land verbunden war, die Fehler gesehen hat, aber deshalb nicht hingeschmissen hat und gesagt hat, ich mache auch die Mücke, sondern versucht hat, im Inneren mit ihren Mitteln, etwas zu verändern und Menschen den Blick zu öffnen für etwas Anderes. Das hat mir eigentlich an ihr immer imponiert. Ansonsten ging es vielen in der DDR so, wie sie es beschrieben hat. Und von ihr wusste man, wenn Sie etwas schreibt, dann wird das auch zur Kenntnis genommen. Wenn ich da irgendwas damals geschrieben hätte, hätten die gesagt, wer ist denn die, ja? Aber es war schon so. Ich konnte das auch an meiner Person festmachen. Natürlich habe ich gesehen, mit zunehmendem Blick, mit zunehmendem Alter – auch hat mir mein Aufenthalt in Moskau dabei sehr geholfen –, was in der DDR leider alles schiefläuft. Das war...

    Burchardt: Das war schon 78 bis 81, da waren Sie im Moskau beim RGW als stellvertretende Direktorin.

    Luft: Ja, ja, genau. Also das blieb einen ja nicht verborgen. Aber ich gebe auch zu, ich habe zu denen gehört, die gesagt haben, es ist schlimm, dass ein Land schließlich 40 Jahre geteilt ist, das ist das Ergebnis eines Zweiten Weltkrieges, den Deutschland angefangen hat, verloren hat, dafür eine Strafe bekommen hat, an der wir jetzt leider alle teilhaben.

    Burchardt: Aber war die Strafe nicht auch ein geteilter Himmel?

    Luft: Freilich war das so. Bloß, was sollte man, was konnte man. Es hat wenige Menschen gegeben, die unter dem Dach der Kirche opponiert haben. Nun hätten wir ja alle unter das Dach der Kirche schlüpfen können, von mir aus, bitte. Das war nicht mein Ausweg. Also hat man gehofft, es muss doch irgendwann mal, also mal abgesehen davon, das die auch nicht das ewige Leben haben, die da oben sitzen, – irgendwann müssen die auch ersetzt werden durch jüngere Leute, dann wird vielleicht was anders. Dann hat man auch gehofft, dass irgendwie im Ausland was passiert, und das auf das, was im Inneren der DDR läuft, abfärbt.

    Burchardt: War denn Prag 68, der Prager Frühling, hätte das nicht ein diesbezügliches Signal sein können?

    Luft: Das hätte sicher so ein Signal sein können, und da erinnere ich mich auch, dass Ota Sik. Mein Mann war Politökonom, der hat natürlich Ota Sik gelesen, und …

    Burchardt: "Dritter Weg".

    Luft: Und ich habe dadurch auch. Wir haben das Buch zu Hause, im Bücherschrank damals gehabt, und wir haben es gelesen, und wir haben uns gewundert, weshalb Ota Sick so geprügelt wird von unserer Obrigkeit. Wir fanden das eigentlich einen Weg, den man hätte beschreiten sollen.

    Burchardt: Aber es gab ja dann die zweite Chance, und die dann auch leichtfertig, auch mit großer Strafe vertan wurde von der DDR-Führung, als Gorbatschow an die Macht kam 1985 und Glasnost, also mehr Transparenz, und Perestroika, also Umbau der Wirtschaft im Osten, auch versucht hat, durchzusetzen, und das Ergebnis ist ja auch bekannt. Nur: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, war damals eine gängige Formel, ich weiß gar nicht, ob Gorbatschow es wirklich wortwörtlich so gesagt hat, aber sie ist ja eingängig. Die DDR ist dann eben auch bestraft worden, weil die Führungsköpfe da einfach zu stur gewesen sind.

    Luft: Na ja, ich will mal so anfangen: Ich habe, auch schon bevor ich 78 mit der ganzen Familie nach Moskau gegangen bin, als Touristin das Land des Öfteren besucht. Als Touristin, als Tourist bekommt man immer die schönen Ecken vorgeführt, und wer findet nicht die Kreml-Anlage toll und den Roten Platz und das Gum und die Gorki-Straße und so weiter, den Arbat. Aber als ich dann dorthin kam und wir unter den Menschen gelebt haben, da sind mir natürlich ganz schnell viele Dinge aufgefallen. Zum einen fand ich wirklich, das hat mich fast gekränkt, wie Menschen, die dort in den oberen Funktionen waren, egal ob in politischen oder im Wirtschaftsbereich oder wo auch immer, die sind mit ihren Untergebenen, mit den Beschäftigten mitunter umgegangen, dass mir der Hut hochgegangen ist, also dieses, ich bin hier oben und ihr seid. So. Dann Frauen haben die körperlich schwere Arbeit gemacht, die Männer haben auf dem Bau geguckt, dass die Frauen die Arbeiten machen. Dann habe ich Krankenhäuser von innen gesehen und mir gesagt, Mensch, dann habe ich gesehen, wenn getankt wurde an der Tankstelle, und da liefen 30 Liter Sprit vorbei, das war nicht schlimm. Kisten, wenn die Kaufhäuser beliefert worden sind mit Gemüse, mit was, in großen, schweren Holzkisten – die wurden nicht wieder eingesammelt, sondern die wurden vor dem Geschäft abgefackelt am Abend. Das sind so Dinge, wo ich mir gesagt habe: Das kann nicht sein, das kann nicht das Vorbild sein für das, was wir machen wollen in einem sozialistischen System. Ich habe von innen Werkhallen gesehen, habe gesehen, Umwelt-, Arbeitsschutz wird kleingeschrieben. Also es gab so viele Erlebnisse, wo ich mir gesagt habe: Das kann nicht das sein, wovor wir knien. Und wenn ich nach Hause gekommen bin in den Sommerferien und habe vor meinen Kollegen berichtet auf deren Bitte hin, was ich so erlebt habe, und ich habe solche Sachen erzählt, dann haben die gesagt, nun fängt die auch noch an, an dem Lack umherzukratzen.

    Burchardt: Vielleicht da auch eine ganz für Sie auch nicht so ganz bequeme, aber sehr persönliche Frage: Hat Sie dann nicht auch nachträglich bis heute es nachdenklich gemacht? Sie wurden ja eine Zeit lang als IM geführt, Stasi-Mitarbeit, haben Sie auch selber eingeräumt in einem Bundestagsausschuss später mal, dass Sie gesagt haben, Mensch, für wen arbeite ich hier eigentlich? Sie haben ja eine konstruktiv-kritische Attitüde gegenüber dem real existierenden Sozialismus gehabt, wenn ich das nicht ganz falsch sehe.

    Luft: Na ja, also wenn das Wort IM fällt, dann denkt ja jeder immer gleich, also da ist jemand, der hat den eigenen Ehegatten beobachtet und weitergeleitet, Freunde und Kollegen und Bekannte.

    Burchardt: Gab es ja leider auch.

    Luft: Gab es auch. Ich will nur sagen: Es gab eben auch IMs, die was anderes gemacht haben, und ich will die Story nicht erzählen, wie ich da überhaupt dazu gekommen bin, das hat einen völlig anderen Hintergrund. Das war 63, da kamen mal an einem Abend, ich wohnte noch zur Untermiete, zwei Männer zu mir und zeigten mir da irgend so eine Marke, ich hatte keine Ahnung, was das für eine Marke ist, und dann fragten die mich: Sie sind doch, stehen kurz vor der Promotion, und Sie lieben doch sicher Ihre Hochschule und interessieren sich für das, was dort vor sich geht? Ich sage, ja. Na ja, wir haben den Verdacht, da ist jemand, der kommt von irgendwo aus dem Westen und der ist so ein Agent und der interessiert sich für vieles an der Hochschule. Können Sie sich nicht mal mit dem treffen und gucken, was der überhaupt will? Ich war ohne Argwohn, und an meiner Hochschule hing ich wirklich.

    Burchardt: Aber Sie fühlten sich auch nicht unter Druck gesetzt oder erpresst?

    Luft: Nein, nein. Und ich habe mich also mit diesem Mann in der Mokka-Milch-Eisbar auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zum Tanztee war ich dorthin bestellt. Und da saß der an so einem …

    Burchardt: Speed-Dating würde man heute sagen.

    Luft: … am Tisch. Und ich will das alles abkürzen, ja, der interessierte sich dann: Was macht denn der und was hat denn der für ein Faible und trinkt der gern Cognac und Pipapo, solche Sachen. Ich stand kurz vor der Promotion, ich habe mit jeder Minute gegeizt und dachte, mit dem führst Du hier so ein Blabla-Gespräch? Deshalb hat das auch nicht lange gedauert. Ich habe zwei, drei Mal mich mit diesem Mann getroffen, und dann habe ich gesagt, ich habe anderes zu tun. Als ich konfrontiert worden bin 1995 mit …

    Burchardt: Das war aus der Gauck-Behörde.

    Luft: … aus der Gauck-Behörde, nachdem ich in der Volkskammer überprüft worden bin und da war nichts gefunden, und ich, bevor ich überhaupt kandidiert habe für den Bundestag, habe ich gesagt: Natürlich überprüft Ihr mich. Und es kam null heraus. Und ich war acht Monate im Bundestag, und dann wurde plötzlich eine Akte gefunden, in einer Opferakte, nicht in meiner, in einer Opferakte. Ich weiß bis heute nicht, wer dieses Opfer war.

    Burchardt: Aber im Gegensatz zu vielen haben Sie es ja freiwillig eingeräumt und haben gesagt, es war so, und gut ist und relativ.

    Luft: Ja, aber ich will jetzt auch sagen, es war damals, es war dieser Herr, mit dem ich mich dort hatte treffen sollen in der Mokka-Milch-Eisbar, das war ein sogenannter OibE, wie ich dann später erfuhr.

    Burchardt: Ein was?

    Luft: Ein OibE, ein Offizier im besonderen Einsatz, also ein MfS-Mann.

    Burchardt: Der hat sie gecheckt.

    Luft: Der sollte mich checken, ob ich geeignet wäre, Agentenführung in der Bundesrepublik zu machen. Und dafür war ich offenbar nicht geeignet. Ich hatte das damals nicht durchschaut, das gebe ich zu. Ich war blauäugig, ich hatte nie mit dem MfS vorher zu tun, auch in meiner Umgebung hatte niemand mit dem was zu tun, sodass ich hätte argwöhnisch werden können. Ich weiß nur: Es war mir damals einfach ein bisschen für mich unter meinem Niveau, mich mit so was zu beschäftigen, und habe dann eben auch das zu erkennen gegeben.

    Luft: Es ist ein Anachronismus, dass ein Land 40 Jahre lang geteilt ist.

    Sprecherin: Reformbestrebungen in der späten DDR, Mauerfall und die deutsche Einheit.

    Burchardt: Frau Luft, Sie waren ja später in der Modrow-Regierung ein paar Monate lang, praktisch nach dem Mauerfall bis zu den Volkskammerwahlen im März waren Sie DDR-Wirtschaftsministerin. Wie haben Sie eigentlich vorher die letzten Monate also auch sozusagen parallel zu den Leipziger Demonstrationen, wie haben Sie das empfunden? Oder haben Sie gesagt, Gott sei Dank, endlich steht das Volk auf?

    Luft: In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre gab es nur noch ein paar ganz Betonköpfige, die das nicht sehen wollten, was geschah, wie es unruhiger wurde in der Bevölkerung, und gar nicht mal wegen irgendwelcher Versorgungsprobleme, sondern weil man es geistig satt hatte. Ich bin, also als ich aus der Sowjetunion zurückgekommen bin, war eine meiner Schlussfolgerungen, Du musst etwas tun, dort, wo Du Verantwortung trägst für geistige Öffnung der Studenten, und habe dann mit Unterstützung des Außenhandelsministers Beil und des Hochschulministers, aber besonders von Beil, es geschafft, dass zwölf, dreizehn Studenten aus jedem Studienjahr ins Ausland gehen konnten, zunächst ein halbes Jahr und dann ein ganzes Jahr.

    Burchardt: Ins östliche oder auch ins westliche?

    Luft: Nach Wien sind die gegangen. Wir hatten auch in Stockholm ein und in London, das waren aber wenige, und die kamen immer zurück mit einer doppelten Erfahrung, die sagten: Also da und da und da sind die viel weiter als wir. Computer waren für uns ja damals noch fast ein Fremdwort. Und die beherrschten das alle, als die zurückkamen, sagten, da müssen wir uns auf den Hosenboden setzen. Andererseits sitzen da, die immatrikulieren an den Universitäten immer drei Mal mehr, als sie dann später Plätze haben, und dann werden die alle aussortiert. Also die kamen mit doppelten Erfahrungen zurück. Für mich war das eine …

    Burchardt: War für Sie als Ökonomin nicht auch klar, dass die Globalisierung ja auch damals schon in den 80er-Jahren – das ist ja keine Erfindung der Jahrhundertwende oder der Jahrtausendwende –, dass die schon längst unterwegs war?

    Luft: Ja, natürlich, das hatte ich gerade auch durch meinen Moskauer Aufenthalt sehen können, denn von dort bin ich nach Genf gekommen, dort bin ich nach New York gekommen zu UNO-Veranstaltungen, das internationale Institut war mit akkreditiert bei diesen UNO-Organisationen, und natürlich öffneten sich da die Horizonte. Und es hat mich wirklich gestört, dass wir, wir hätten es ja nicht alles nachmachen müssen, was im Ausland war, aber wir hätten es öffentlich zur Kenntnis nehmen müssen und daraus unsere Schlussfolgerungen ziehen müssen. Ich bin dann 1988 Rektorin der Hochschule für Ökonomie geworden, und ich habe in meiner Antrittsrede etwas gesagt, wofür ich sicherlich, wenn die DDR noch eine Weile länger existiert hätte, noch mal irgendwann zur Brust genommen worden wäre.

    Burchardt: Was haben Sie gesagt?

    Luft: Ich habe gesagt, das war meine volle Überzeugung: Ich möchte, dass dieses große Potenzial was wir im Lehrkörper haben und unter den Studenten haben, dass wir nicht im Nachhinein immer bejubeln müssen, wie weise die Parteiführung wieder Beschlüsse gefasst hat, sondern ich möchte, dass wir im Vorfeld daran mitarbeiten können – ein Riesenbeifall in dem Saal, im Auditorium Maximum.

    Burchardt: Waren Sie da auch ein bisschen die Speerspitze von Glasnost und Perestroika?

    Luft: So würde ich mich nicht bezeichnen, würde ich mich nicht bezeichnen, aber nein, das war durch die Jahre mein Empfinden. Wir haben ja nicht nur im Glashaus gehockt und wiedergekäut, was im ND stand, sondern wir haben …

    Burchardt: Im "Neuen Deutschland".

    Luft: Ja. Wir haben Forschungsarbeiten gemacht, auch zu Themen, die nicht gern gesehen waren. Zum Beispiel haben wir eine Studie gemacht, schon 87: Wir müssen die Mark der DDR konvertierbar machen, wir müssen diese Abschottung gegenüber dem Weltmarkt überwinden, wir dürfen nicht unsere eigenen Leistungskriterien anlegen, sondern wir müssen uns international messen. Dazu braucht man eine konvertierbare Währung, dazu braucht man Preise, die die Kosten widerspiegeln und nicht durch Subventionen verzerrt sind.

    Burchardt: Haben Sie sich denn als einsame Ruferin in der Wüste empfunden?

    Luft: Ich sehe in diesem Auditorium Maximum Ende Oktober 1988 die erste Reihe, die war besetzt mit Ehrengästen. Also da rührten sich nicht so viele Hände, oder wenn, dann höflicher Beifall. Der Rest in dem Saal hat getobt. Und ich hatte auch gleich angekündigt: Ich möchte diesen Satz, den ich eben gesagt habe, den möchte ich jetzt untermauern, und ich werde ab morgen früh Kommissionen, kleine Gruppen bilden, die sich mit verschiedenen Themen befassen, Analysen vorlegen, Vorschläge machen: Was müsste man, was könnte man ändern und wie? Wir haben dann zu 14 solcher Themen Gruppen gebildet, die waren alle mit Begeisterung dabei. Und die sollten dienen als Vorbereitung. Unseren Beitrag sollten die darstellen zur Vorbereitung des, ich glaube, das war der zehnte Parteitag der SED im Mai 1990. Dazu sollten die Vorbereitungen dienen. Wir haben diese 14 Studien dann an Ministerien, ans ZK verschickt, also bestenfalls kriegten wir eine Eingangsbestätigung, wir kriegten aber auch: Also über so ein Thema denkt man nicht mal, schreiben ist schon gar nicht, ist schon ganz unterm Strich. Und zumal diese Konvertierbarkeitsgeschichte – da sind wir sehr mit angeeckt.

    Burchardt: Welche Gefühle haben Sie eigentlich übermannt, als die Mauer fiel? Da war ja nun, dieses Wort vom Wahnsinn ging immer um, viele wollten es nicht glauben, Schabowski hat angeblich einen Irrtum gemacht mit seiner Formulierung, dass das nun alles sofort geöffnet sei, und dann eben auch die Entwicklung hin zu den Volkskammerwahlen, die dann ja sozusagen aus Deutschland zunächst einmal einen CDU-Staat gemacht haben.

    Luft: Also ich will erstens sagen, dass ich nicht erst 1989, als die Mauer fiel, sondern vorher in der Familie, auch mit Studenten darüber gesprochen habe, auch im Kollegenkreis: Es ist ein Anachronismus, dass ein Land 40 Jahre geteilt ist. Ich wusste, woher das kommt, aber …

    Burchardt: Nordkorea macht es noch 30 Jahre.

    Luft: Korea macht es immer noch. Also dass das ein Ende haben musste, sollte, das war mir klar. Das Ende, wie es dann gekommen ist, habe ich wirklich für eine Katastrophe gehalten.

    Burchardt: Warum?

    Luft: Weil völlig unvorbereitet, völlig unkonditioniert sind wir da gelaufen, und wie gesagt, man hätte dieses Zusammenkommen der beiden deutschen Staaten meiner Meinung nach – das ist meine Meinung bis heute – anders organisieren müssen. Und deshalb war ja auch leider nicht so sehr öffentlich und auch öffentlich nicht geduldet, aber doch, im Kollegenkreis haben wir über Konföderation gesprochen, über Vertragsgemeinschaften, über solche Dinge. Das wäre ein Weg gewesen, dann wäre dieses Zusammenkommen vor allen Dingen für die DDR-Bürgerinnen und Bürger nicht so unterwürfig, nicht so.

    Burchardt: Aber ist es nicht auf der anderen Seite auch so, wenn ich dazwischenfragen darf, dass mit der Währungsunion im Juli ein großes, zumindest wahrnehmbares, angebliches Bedürfnis der Bevölkerung aus dem Osten, dass diesem Bedürfnis entsprochen wurde, nach dem Motto, kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr?

    Luft: Ja, ja. Na ja, ich meine, das ist ein ganz normales, menschliches Verhalten. Wenn man übers Westfernsehen, über Verwandtenbesuche "Omo" und alle komischen, alle anderen Markenartikel ansehen oder auch fühlen kann, und zu Hause so was nicht hat, dass es einen Run gibt, wenn die erste Gelegenheit sich bietet. Ich glaube, das ist ein menschliches Verhalten. Aber es wurde auch, es hat nicht allzu lange gedauert, dann haben die Leute festgestellt: Mein Gott, ja, es gibt da 25 Wurstsorten in der Auslage, die sind farblich eins schöner als, eine schöner als die andere – schmecken tun sie fast alle gleich.

    Burchardt: Hießen teilweise auch "Rügenwalder".

    Luft: Ja. Also dieser Run auf Konsumgüter aus den alten Bundesländern hat sich, zumindest was Nahrungsmittel anbetrifft, Lebensmittel anbetrifft, bald erledigt. Man merkte dann, dass unsere Brötchen ganz gut waren im Osten, dass Brot wie Brot schmeckte, dass Spreewälder Gurken und Halberstädter Würsten was wert sind.

    Burchardt: Und die Mieten wurden teurer.

    Luft: Die Mieten wurden teurer. Ich sage mal ein Erlebnis: Als ich in der Modrow-Regierung war, war die Modrow-Regierung eingeladen von Herrn Kohl: Als Gegenbesuch für seinen Besuch in Dresden sollten wir im Februar nach Bonn kommen. Und das war Mitte Februar, am 12. und 13. Februar. Und bevor es dort im Nato-Saal zu einer großen Begegnung der beiden Regierungen kam, musste jeder von uns mit einem Partner aus der Bundesregierung eine Stunde vorher Vorgespräch machen. Ich war die Partnerin von Herrn Horst Köhler, der damals Finanzstaatssekretär im Bundesfinanzministerium war. Er empfing mich ganz freundlich und nach, was man immer so erzählt, wie war der Flug und so weiter, wie geht es Ihnen, sagte er zu mir, na, Frau Luft, springen Sie jetzt nicht drei Meter hoch? Ich sage, warum sollte ich? Na, Sie haben doch gehört, in den letzten Tagen, der Bundeskanzler wird Ihnen auch heute offiziell, der DDR anbieten, die D-Mark zu übernehmen alsbald. Im Übrigen, dass dieses Angebot kam, das wussten wir nicht durch ein Telefonat oder einen Brief von Kohl, die Modrow-Regierung, sondern das erfuhren wir auch aus der Presse, wie alle anderen. Also so waren die Verhältnisse. Und ich sagte zu Herrn Köhler, also ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer die D-Mark nicht toll findet, eine harte Währung, für die man sich Wünsche erfüllen kann, die man sich bisher nicht erfüllen konnte. Aber ich will Ihnen auch sagen: Ich sehe auch noch ein paar Pferdefüße. Ja, welche? Na, ich sage, man muss diese Mark sich dann auch erarbeiten können, man muss sie sich verdienen können, und ich sehe: Wenn diese Übertragung der D-Mark auf die DDR kommt, dann werden wir alsbald überschwemmt von Waren aus den alten Bundesländern, dann werden unsere Waren, bei uns produzierte, rausgehen aus den Regalen und wir werden die Ostmärkte verlieren. Da sagt der Mensch und war völlig konsterniert über diesen Einwand und sagte zu mir: Frau Luft, warum sind Sie denn derartig arrogant? Ich werde das nie vergessen.

    Burchardt: Ähnliches haben Sie dann auch – wir kommen zum, müssen zum Schluss kommen, Frau Luft, Sie waren ja dann auch Bundestagsabgeordnete für die PDS eine Zeit lang. Haben Sie dasselbe auch im Parlament erlebt?

    Luft: Ja, das habe ich natürlich erlebt. Immer, wenn ich irgendwas … Ich war ja im Bürgschaftsausschuss und im Haushaltsausschuss und musste oft reden, und habe natürlich auch diese Reden benutzt, um auf manche Legende zu sprechen zu kommen, die es da gab, also zum Beispiel, die DDR war total pleite, und pleite heißt immer, Du kriegst keine Kredite mehr von niemandem oder Du kannst deine Fälligkeiten nicht zum Zeitpunkt bedienen. Das hat es nicht gegeben in der DDR – was überhaupt nicht bedeutet, dass wir wirtschaftlich enorme, enorme Schwierigkeiten hatten. So, also immer, wenn ich solche Sachen erzählt habe, dann hieß das, also hören Sie doch bloß auf, Sie haben schon einen Staat ruiniert, und jetzt erzählen Sie uns hier, wie toll das alles war und so weiter. Oder auch, wenn ich gesagt habe, wir bräuchten, wenn wir die deutsche Einheit wirklich vollenden wollen, dann müssen wir anknüpfen an das, was de Maizière mal gesagt hat, Teilung überwinden heißt auch Teilen lernen: Wir brauchen so etwas wie nach dem Zweiten Weltkrieg, da gab es diesen Lastenausgleich, wir brauchen so etwas wie eine einmalige Vermögensabgabe. Na, also dann sind die ja fast aufgesprungen von ihren Sesseln.

    Burchardt: Das war der Soli.

    Luft: Obwohl das ja Biedenkopf und von Weizsäcker damals auch gesagt haben, beide CDU-Mitglieder, beide wurden abgewatscht in ihren Parteien. Ich glaube, das ist ein Thema, was bis heute aktuell ist, aktueller jetzt noch geworden ist durch die Krise, aber weil Sie darauf anspielen, ja wohl, im Plenum, muss ich sagen, im Plenum, wenn die Medien dabei waren, dann wurde ich auch abgewatscht wie alle anderen aus der PDS-Gruppe, die wir am Anfang waren, später eine Fraktion. In den Ausschüssen war das schon ein anderes Klima.

    Sprecherin: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch, heute mit der ehemaligen DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft. Aktuelle Kritik: die Vorhersehbaren Geburtsfehler des Euro


    Burchardt: Zum Abschluss, da Sie das Wort Krise ja auch in den Mund genommen haben soeben, Frau Luft: Was treibt Sie um, wenn Sie jetzt hören, dass möglicherweise das Euro-Europa vor dem Bankrott steht?

    Luft: Ich gebe zu, ich habe, als der Euro eingeführt wurde, nicht Hurra geschrien, nicht, weil ich nicht eine Gemeinschaftswährung für gut gehalten habe, sondern weil ich mir gesagt habe: Das kann nicht gut gehen, wenn da nur monetäre Kriterien aufgemacht werden für die Teilnahmemöglichkeit an dieser Währung und keine realwirtschaftlichen Füße abgefragt werden. Und genau das ist uns jetzt passiert, nicht wahr. Letztendlich sagt man sich, wir hätten von Anfang an gucken müssen: Wie hoch sind die Arbeitslosenquoten in den einzelnen Ländern, wie ist deren Export-Import-Bilanz, haben die auch zukunftsfähige Wirtschaftsstrukturen? Das alles hat damals keine Rolle gespielt, sondern damals hieß es, wir machen diese Gemeinschaftswährung, um, na ja, zum einen in Europa Frieden zu sichern – das ist ein Argument, das hat mich überzeugt –, und wir wollen etwas machen, damit wir gegen den Dollar und möglicherweise gegen Ostasien, gegen den Währungsraum dort, auch einen Trumpf haben. Aber es zeigt sich genau das am Euro, was schon bei der D-Mark-Einführung in Ostdeutschland ein Problem war: Man hat nicht auf die realwirtschaftlichen Bedingungen geguckt, sondern nur auf die monetäre Seite. Und da kriegt man ganz schnell Zustimmung in der Bevölkerung, aber allmählich bröckelt das dann, wenn nämlich die Wahrheiten ans Licht kommen. Und sicherlich haben die Griechen in ihrer Wirtschaft, in ihrem Staatswesen überhaupt, sie haben allerhand da noch zu bereinigen. Aber die Griechen haben natürlich nicht Schuld daran, dass der Euro jetzt so kriselt, sondern jetzt kommt zum Vorschein, wo die Geburtsfehler dieser Gemeinschaftswährung liegen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.