Montag, 29. April 2024

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"Natürlich haben wir Parallelgesellschaften"

Christine Heuer: Multikulti ist gescheitert, so wird ein Mann zitiert, der wissen muss, wovon er spricht, der Bürgermeister des größten Berliner Bezirks Neukölln, Heinz Buschkowski. Er ist übrigens Sozialdemokrat. In Neukölln ist jeder dritte Bürger Einwanderer. Menschen aus 163 Nationen sind dort versammelt, und ihr Zusammenleben hat mit dem, was wir uns optimistisch unter einem Schmelztiegel vorstellen, offenbar wenig zu tun. Wir wollen nachhaken. Guten Morgen, Herr Buschkowski.

Moderation: Christine Heuer | 17.11.2004
    Heinz Buschkowski: Guten Morgen, Frau Heuer.

    Heuer: In diesen Tagen wird mitunter geäußert, es gäbe in Deutschland nicht das, was Kritiker Parallelgesellschaften nennen. Gibt es eine in Neukölln?

    Buschkowski: Also ich glaube, es gibt nicht nur eine in Neukölln. Das ist eine Sozialromantik, die da durchlebt, die da sagt, es gibt keine Parallelgesellschaften. Natürlich haben wir Parallelgesellschaften - das ist auch nicht weiter verwunderlich. Überall dort, wo Sie gesellschaftliche Minderheiten, wo Problemstellungen sind der Integration in die Mehrheitsgesellschaft, das heißt Abkopplung vom Bildungssystem und Abkopplung vom Wohlstand der Mehrheitsgesellschaft, bildet sich so etwas ganz automatisch heraus.

    Heuer: Woran erkennt man denn eine Parallelgesellschaft?

    Buschkowski: Darüber kann man soziologisch sicher lange Doktorarbeiten schreiben. Ich empfinde eine Parallelgesellschaft, indem ich erkennen muss, dass Menschen in ihrer Heimatsprache quasi ein tägliches Leben führen können, ohne sich der deutschen Sprache zu bemächtigen, auch ohne eigentlich die Regeln der Mehrheitsgesellschaft dafür zu brauchen. Bei uns in Neukölln ist das so, dass für die einzelnen Hauptethnien eine komplette Infrastruktur entstanden ist, vom eigenen Kindergarten über die eigenen Geschäfte, Rechtsanwälte, Reisebüro, Banken, bis zu Ärzten der Altenpflege. Sie können bei uns ein Leben führen, ohne sich dabei der deutschen Sprache bedienen zu müssen, es sei denn natürlich, Sie nehmen am offiziellen Leben teil. Da gilt das nicht, aber für den normalen Alltag ist das überhaupt kein Problem, und daraus folgt, dass dann im Alltag auch die eigenen Normen und Regeln Beachtung finden, weniger die der Mehrheitsgesellschaft.

    Heuer: Gibt es so etwas in Neukölln nur unter Moslems?

    Buschkowski: Nein, das ist keine Frage des Glaubens. Sie haben derartige Dinge in Berlin-Marzahn, wo ein hoher Anteil russischstämmiger Bevölkerung ist. Sie haben so etwas bei uns, wo die Hauptethnien eben Türken und Araber sind. Aber Sie haben das woanders, da sind es Marokkaner und Antillianer wie in Holland oder Algerier in Paris. Ich denke nicht, dass es eine Frage des Glaubens ist. Ich glaube auch nicht, dass es eine Frage einer bestimmten Ethnie ist. Es ist immer das Problem, wenn Sie eine gesellschaftliche Minderheit haben, die sich ausgegrenzt fühlt oder die ausgegrenzt ist, die sich auch irgendwann bewusst abkapselt. Wir haben das Gefühl bei uns, dass die Barrieren in der dritten Generation vielfach - natürlich nicht immer, es gibt natürlich auch Integrationserfolge - insbesondere in den bildungsfernen Schichten viel höher sind als früher. Die Ethnien schotten sich auch untereinander sehr viel stärker gegeneinander ab. Das Besinnen auf die eigenen Wurzeln, die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, das pflanzt man alles in die Kinder, und insofern ist das, was wir mal geglaubt haben vor 20 Jahren, dass wir in der dritten Generation überhaupt keine Sprachprobleme mehr haben werden, dass eine multikulturelle Gesellschaft entstehe aus dem Partizipieren der einzelnen Lebensentwürfe, das ist quasi nicht eingetreten. Das ist erst mal gar keine Schuldzuweisung, sondern nur die Feststellung, dass wir heute ein Nebeneinander haben, teilweise ein Gegeneinander, aber eben nicht das Entstehen einer völlig neuen Multikultur.

    Heuer: Woran liegt denn das? Sie haben die Erziehung durch die Eltern angesprochen. Was passiert in den Schulen?

    Buschkowski: Also das Elternhaus ist ein ganz wesentlicher Faktor. Das sagen alle unsere Lehrer, unsere Elternvertreter, dass die Bildungsferne der Eltern ein ganz entscheidender Punkt ist. Ein zweiter Punkt ist einfach das Nichtverstehen unseres Bildungssystems und der Bedeutung von Bildung. Es ist eben eine Fehlleitung, wenn zu Hause die Mutter mit dem Kind nur die Heimatsprache pflegt, wenn der Fernseher rund um die Uhr nur in der Heimatsprache läuft. Dann kommen mit sechs Jahren Kinder in die Schule, die kein Wort Deutsch sprechen, und das kann die Schule gar nicht mehr aufholen. Dann haben Sie das Ergebnis wie bei uns in Neukölln Nord, wo 70 Prozent der Schüler die Schule verlassen ohne einen Schulabschluss oder nur mit dem geringsten, der Hauptschule. Das reicht heute für eine qualifizierte Berufsausbildung nicht mehr aus, aber für Eltern, die selbst Analphabeten sind, ist das überhaupt nicht nachzuvollziehen.

    Heuer: Nun kann keiner in die Familien hineinregieren, dennoch: Sie sind der Bürgermeister des Bezirks Neukölln. Wie wollen Sie die Situation verändern?

    Buschkowski: Also in die Familien hineinregieren natürlich nicht. Aber wir müssen auch, denke ich, umdenken. Integration ist kein Naturgesetz, das sich von allein vollzieht, sondern wir müssen als Gesellschaft auch deutlich formulieren, was wir als integrationsbereite Gesellschaft erwarten, wie integrationswillige Menschen sich zu verhalten haben, indem sie die Sprache erlernen, indem sie auch an den Regeln unserer Gesellschaft teilnehmen, indem sie die Dinge befolgen, die bei uns selbstverständlich sind. Gewalt in der Familie ist ein ganz wichtiger Punkt, weil 85 Prozent unserer jugendlichen Straftäter alle eigene Gewalterfahrungen haben. Was wir machen können, ist, dass wir uns aktiv um diese Gebiete kümmern, indem wir nicht sagen, das regelt sich schon, sondern da müssen wir rein, da müssen wir in die frühkindliche Erziehung mehr investieren. Wir müssen in die Schulen mehr investieren. Die Schulen müssen ein Grund sein, dort zu bleiben und nicht fortzuziehen, weil das Kernproblem ist die Segregation in diesen Gebieten, also die soziale Entmischung. Wenn die Kinder in die Schulen kommen, ziehen die integrierten Migranten fort, weil sie sagen, mein Kind erhält hier nicht die richtige Ausbildung, und wenn immer die wegziehen, die integriert sind, ja mit wem wollen Sie die Integration weiterbetreiben? Das sind doch gerade die, die ihren Landsleuten sagen sollen, schau, ich habe es geschafft, ich habe es so gemacht, mache es mir nach.

    Heuer: Ich danke Ihnen für das Gespräch.