Freitag, 19. April 2024

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Nava Ebrahimi: "Das Paradies meines Nachbarn"
Als Kind in der Kriegshölle

Ali, smarter Designer in München, wird von seiner Vergangenheit eingeholt: Ein Brief seiner verstorbenen Mutter erinnert ihn an verdrängte Erlebnisse aus dem Ersten Golfkrieg und entlarvt eine Lebenslüge. Nava Ebrahimis Roman erzählt vom Irak-Iran-Krieg - und von deutsch-iranischen Begegnungen.

Von Melanie Weidemüller | 30.07.2020
Soldaten der irakischen Truppen mit Abwehrwaffen einer befestigten Stellung im Juni 1984.
Nicht nur im Iran bis heute ein Tabu: der Erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran (picture alliance / Merliac)
"Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie für mich."

Es ist eine Nachricht aus Teheran, die den Produktdesigner Ali Najjar wie der Blitz trifft und sein gesamtes Leben ins Wanken bringt. Najjar ist Mitte vierzig, Exil-Iraner, Kreativchef einer Münchner Agentur oder, wie er selber über sich sagt: "Ein erfolgreiches Arschloch".
Vom Kindersoldaten zum Agenturchef
Mit dem angekündigten Brief seiner verstorbenen Mutter holt Ali Najjar unverhofft die Vergangenheit ein, jene Erlebnisse im Iran, die er Jahrzehnte lang verdrängt hat. Derweil hat der Exil-Iraner seine Biografie zu einer Story frisiert, die die deutschen Hochglanzmagazine auf verquere Art lieben: Ali Najjar, der Stardesigner, kämpft als Kindersoldat in den 80er Jahren im Ersten Golfkrieg, flüchtet mit vierzehn Jahren allein über die Türkei nach Deutschland und macht Karriere. Tough, ironisch und cool bis zur Arroganz: So präsentiert sich Najjar in Fernseh-Talk-Shows, mit sicherem Instinkt für die Wirkung starker Statements wie "Ich war im Krieg, ich habe vor nichts Angst". Das lief gut und steigerte seine Prominenz, war allerdings nur die halbe Wahrheit.
Ali Najjar ist eine der drei Hauptfiguren in Nava Ebrahimis neuem Roman "Das Paradies meines Nachbarn". Und ebenso wenig, wie der smarte Designer dem Klischee eines Migranten entspricht, so wenig tun es die anderen Figuren in dieser raffiniert gebauten Geschichte um Identität, Lebenslügen und verdrängte Schuld.

Die Wahrheit klärt sich erst am Ende des Romans auf, aber nehmen wir es vorweg: Jede der 224 Seiten ist die Lektüre wert. Nava Ebrahimi erzählt spannend, sprachlich elegant und vermag es, die Abgründe des Ayatollah-Regimes im Iran der 80er Jahre ebenso glaubwürdig zu schildern wie den Agenturalltag der Münchner Hipster-Szene. Ja, mehr noch: Ebrahimi schafft es, die so unterschiedlichen Lebens-Welten plausibel zu verknüpfen.
In die smarte Agenturwelt bricht plötzlich der Tod ein
In die schöne Blase der Agenturwelt bricht der Tod gleich zu Beginn des Romans unvermittelt ein, als der frühere Agenturchef beim Marathonlauf einem Herzinfarkt erliegt. Erzählt wird die Episode aus der Perspektive des Mitarbeiters Sina Koshbin, einer weiteren Hauptfigur.

"Die jüngeren Designer waren geschockt, geradezu traumatisiert von der Erkenntnis, dass der Tod selbst vor ihrer Berufsgruppe nicht Halt machte. Dass auch ein gutaussehender Kreativchef Mitte vierzig, der stets die angesagtesten Sneaker trug und neuerdings auch Milchbreiflecken auf der rechten Schulter hatte, einfach so wegsterben konnte. Zwischen den Sichtbetonwänden und Apple-Bildschirmen hatten sie vergessen oder tatsächlich nie realisiert, dass sie sich in einem Körper aus Knochen, Fleisch und Blut durch Raum und Zeit bewegten. Ihnen schien nicht bewusst zu sein, dass, wenn jemand ihnen die Bauchdecke aufschlitzte, Gedärme samt Inhalt sowie andere Innereien herausquellen würden."

Das zufällige Zusammentreffen von Sina Koshbin und seinem neuen Chef Ali Najjar bringt den Plot ins Rollen. Aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Protagonisten, die sich als Ich-Erzähler abwechseln, schildert der Roman ihre tragisch miteinander verstrickten Lebensgeschichten. Sina ist Ende dreißig, Halb-Iraner, Ehemann und Vater einer kleinen Tochter und steckt beruflich wie privat in einer frühen Midlife Crisis. Das Persischste an Sina sind sein Name und sein Aussehen, als Sohn einer alleinerziehenden Deutschen wuchs er in München auf.
Drei völlig verschiedene Männer aus dem Iran
Ganz anders der dritte Protagonist: Ali-Reza musste im Iran-Irak-Krieg als Kindersoldat an die Front, stapfte auf den Minenfeldern über zerfetzte Körper und verätzte sich die Lungen am Giftgas. Als Überlebender sitzt er seitdem, schwer traumatisiert, in Teheran im Rollstuhl. Dass Ali-Reza dieses Schicksal quasi als Stellvertreter Ali Najjars erlitt, steigert die Tragik zur Ungeheuerlichkeit. Und vielleicht ahnt der so forsch auftretende Agenturchef, dass er die Konfrontation mit der Wahrheit nicht erträgt, als er seinem Kollegen Sina Koshbin textet:

"Hey, Koshbin, ich bin's Ali. Ich brauche dich. Rasier dir den Schädel und pack' deine Sachen, wir fliegen nach Dubai."
In der unwirklichen Retorten-Metropole Dubai, wo die Briefübergabe stattfinden soll, kommt es zu einer Art Showdown, der nicht nur die Lebenslüge des Stardesigners aufdeckt. Die Kriegs-Schilderungen des Invaliden Ali-Reza und der Abschiedsbrief von Najjars Mutter – voller Wut auf die fanatischen Mullahs und den Tod tausender iranischer Kinder – gehören zu den intensivsten Passagen des Romans. Sie zeigen nicht zuletzt, wie erschreckend leicht Kinder ideologisch zu indoktrinieren sind. Die manipulative Mischung aus Männlichkeitsidealen, Gruppenzwang und dem Versprechen auf einen Platz im Paradies nach dem Märtyrer-Tod funktioniert leider allzu gut, um sie für politische Zwecke zu missbrauchen. So fungiert Najjars Mutter auch als weibliche Schlüsselfigur, sind doch alle Soldaten Söhne, Söhne stolzer oder verzweifelter Mütter. Najjars Mutter wollte keine Märtyrer-Mutter sein, doch sie weiß, auch ihr kommt eine Mitschuld zu, wenn sie ihrem Sohn schreibt:

"Du trägst keine Schuld, und du trägst sie doch. Ich schätze, das heißt es, zu leben."
Deutsch-iranische Begegnungen, Wahrnehmungen, Vorurteile
Nava Ebrahimis Roman erzählt aus der Konfliktregion am Persischen Golf, im Grunde aber geht es um deutsch-iranische Begegnungen. Um die gegenseitige Wahrnehmung, Ahnungslosigkeit, Vorurteile. Und dabei schauen wir uns selber an.
Nava Ebrahimi und ihr Roman „Das Paradies meines Nachbarn“
Keine Angst vor politischen Themen: Nava Ebrahimi (Foto: btb Verlag/Peter Rigaud/Shotview, Buchcover: btb Verlag)
Der Erste Golfkrieg, in dem das Ayatollah-Regime Anfang der 80er Jahre zehntausende Kinder als lebende Minen-Detektoren in den sicheren Tod schickte, ist nicht nur im Iran bis heute ein Tabu. An dem von irakischer Seite eingesetzten Giftgas verdiente die deutsche Industrie fleißig mit, während man sich öffentlich über den bösen Diktator Saddam Hussein empörte. Den damals entstandenen Hass vieler Iraner auf die Doppelmoral der westlichen Welt könnte niemand glaubhafter formulieren als Ali-Reza, der ehemalige Kindersoldat:

"Der Westen hatte sie verlassen, verraten, sich mit Milliarden-Rüstungsgeschäften bereichert und dann, als sie verstümmelt und nach Luft ringend in ihren Blutlachen gelegen hatten, weggeschaut. Das Schlimmste dabei war, dass sich die Menschen aus dem Westen während alldem als fortschrittlicher, als ihnen moralisch überlegen empfanden."
"Das Paradies meines Nachbarn" kann die Hölle sein. Dieses Dilemma reflektiert der Roman aus ungewohnten Perspektiven. Nach ihrem erst vor drei Jahren veröffentlichten Debüt "Sechzehn Wörter" hat Nava Ebrahimi sich mit ihrem zweiten Roman in der Gegenwartsliteratur etabliert. Vielleicht ist es dessen erstaunlichste Leistung, die Distanz zwischen dem schicken Design eines Smoothie-Makers und tödlichem Giftgas gering erscheinen zu lassen. Auch darin zeigt sich Zeitgenossenschaft.
Nava Ebrahimi: "Das Paradies meines Nachbarn"
btb Verlag, München. 224 Seiten, 20 Euro.