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Navid Kermani: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen"
Fragen nach Gott

Der Kölner Schriftsteller Navid Kermani lehrt seiner 12-jährigen Tochter den Islam. Aus diesem Dialog entstand sein neues Buch: ein Vater-Tochter-Gespräch, in dem sich Kermani als gläubiger Muslim positioniert, aber auch die vergleichende Perspektive zu anderen Weltreligionen sucht.

Von Christoph Vormweg | 07.02.2022
Navid Kermani und sein Buch: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen"
Navid Kermani und sein Buch: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" (Autorenportrait: Heike Bogenberger / Cover: Carl Hanser Verlag)
Der Vater erklärt seiner Tochter die Welt: Mit einer solchen Gesprächs-Konstellation hat der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun vor Jahren einen internationalen Bestseller gelandet. In seinem Buch „Papa, was ist ein Fremder?“ wandte er sich gegen die in Frankreich zunehmende Ausländerfeindlichkeit.
Auch Navid Kermani, Wahlkölner mit iranischen Wurzeln, kämpft für Annäherung und Respekt zwischen Kulturen und Religionen. Anlass für sein neues Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ war einer der letzten Wünsche seines verstorbenen Vaters: Er solle seiner 12-jährigen Enkelin den Islam ihrer iranischen Vorfahren lehren. Doch warum hat Navid Kermani den Dialog mit seiner Tochter öffentlich gemacht?
Interview mit dem Schriftsteller Navid Kermani über seine Fragen nach Gott
„Was mich beunruhigt, ist das religiöse Unwissen, das sich ausbreitet. Denn so wie der Glaube nur in Freiheit entstehen kann, setzt ihrerseits die Freiheit das Wissen voraus. Wenn du die Religion überhaupt nicht kennst, bist du auch nicht frei, dich von ihr abzuwenden. Insofern ist die Freiheit kein Geschenk, sondern eine Aufgabe: nämlich dass du über den eigenen, nun einmal beschränkten Horizont deiner eigenen Welt hinauszublicken lernst.

Kein Glaube ohne Wissen

Über den Wunsch seines Vaters geht Navid Kermani weit hinaus. Es genügt dem habilitierten, ungemein belesenen Orientalisten nicht, allein den Islam in den Fokus zu stellen. Immer sucht er die vergleichende Perspektive zu den anderen Weltreligionen, vor allem zum Christentum. Denn seine Tochter, deren Mutter iranische und deutsche Wurzeln hat, nimmt auf dem Gymnasium am katholischen Religionsunterricht teil.
Kermani will sie vor allem von zwei Dingen überzeugen: zum einen, dass es – seiner Erfahrung nach - existentiell bereichernd, ja beglückend sei, an Gott zu glauben – egal in welcher Religion; zum anderen, dass der in meist mehrdeutigen Versen verfasste Koran einen ganz besonderen literarischen Reiz habe. In jedem Fall: Nicht die so kontrovers gedeuteten heiligen Schriften sieht er als Hindernis bei seiner Überzeugungsarbeit, sondern das Gebaren der sogenannten Religionsführer:
„Das ganze Elend des heutigen Islams lässt sich unter anderem damit erklären, dass ein Großteil unserer Gelehrten die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran verloren hat. Die Folgen sehen wir heute in der islamischen Welt: Rückständigkeit, Armut, Unvernunft, Humorlosigkeit, Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit. So ein fast schon abgestorbener Islam hat nichts mehr zu sagen in einer Welt, in der nicht nur die Quantenphysik, sondern nach vielen Kriegen und Völkermorden endlich die Menschenrechte entdeckt worden sind. Dabei fänden die Muslime für beides eine Grundlage im Koran. Denn der Koran preist die Vernunft und erklärt jeden Menschen für gleich.“

Aufforderung zum geistigen Austausch

Anhand zahlreicher Zitate belegt Navid Kermani, dass der Koran heute von Hasspredigern genauso mißbraucht wird wie von westlichen Polit-Strategen, die den Islam zum Feindbild stilisieren wollen. Sein Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ fordert im öffentlichen wie im privaten Raum zum gegenseitigen Austausch auf. Der sehr persönliche Dialog mit seiner Tochter dient ihm zugleich zur selbstkritischen Weiterentwicklung der eigenen religiösen Positionen.
Bezeichnend ist, dass Kermani nicht nur seine Kinder und deren Freunde als Gegen- und Korrekturleser gewonnen hat, sondern auch hochkarätige Theologen, Philosophen und Schriftsteller. Sein Buch ist eine auf jeder Seite bereichernde Herausforderung für Jugendliche wie für Erwachsene. Stilistisch bemüht sich Kermani dabei immer um Anschaulichkeit und Verständlichkeit. Mehr noch: Auch für Humor ist gesorgt – sei es durch beharrliches Nachfragen, mit dem seine frühreife Tochter immer wieder seine Schreibplanung durcheinanderbringt, sei es durch selbstironische Einschübe zur eigenen Vaterrolle.

Für eine zeitgemäße Rolle der Religionen

Als eigenwilliger Vermittler zwischen Orient und Abendland, zwischen Islam und Christentum besticht Navid Kermani auch in diesem höchst philosophischen Buch durch Differenzieren und permanentes Argumentieren. Seine große Stärke liegt darin, dass er seine Position als Schriftsteller nie mit der eines Predigers verwechselt. Vielmehr will er die kreativen Kräfte der Jugend aktivieren, um dem Islam eine zeitgemäße, mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen vereinbare Zukunft zu eröffnen.
Navid Kermani:Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott.“
Hanser Verlag, München
240 Seiten, 22 Euro