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Neu-Delhi
Indiens Gesellschaft ein Jahr nach der brutalen Massenvergewaltigung

Am 28. Dezember jährt sich der Tod einer 23-jährigen Studentin nach einer brutalen Gruppenvergewaltigung im indischen Neu-Delhi. Die Regierung verschärfte daraufhin die Gesetze, aber gesellschaftlich hat sich bis heute kaum etwas verändert, sagen Beobachter.

Von Sandra Petersmann | 28.12.2013
    Dhakla ist ein Dorf im nordindischen Bundesstaat Haryana. Hier kommen auf 1000 Männer weniger als 880 Frauen. In keinem anderen Teil Indiens lässt sich deutlicher ablesen, dass Mädchen das unerwünschte Geschlecht sind. In Dörfern wie Dhakla geben Männer wie Om Prakash den Ton an. Er hat zwei Söhne und zwei Töchter. Sein Land hat er schon zu Lebzeiten an die beiden Söhne überschrieben.
    "Wenn ich das Land noch besitzen würde, könnten meine Töchter ihr Erbe einfordern. Ein neues Gesetz erlaubt ihnen das, aber wir würden sie sozial boykottieren. Sie dürften dieses Haus nicht mehr betreten. Auch das Dorf würde sie ächten. Töchter erben von ihren Ehemännern, dort liegen ihre Rechte. Aber sie haben kein Recht, ihren Brüdern das Erbe streitig zu machen."
    Om Prakash ist der Ansicht, dass er seinen Töchtern ein guter Vater ist. Er hat sie zur Schule geschickt, er hat ihre Mitgift erwirtschaftet, er hat ihre Ehemänner ausgesucht.
    "Wir Väter tun alles für unsere Töchter". sagt er. "Wir beschenken sie reichlich, wenn sie heiraten und wenn sie Kinder bekommen, dann beschenken wir auch die Kinder." In seinen Augen ist es pure Gier, wenn die Töchter ihre Väter um einen Erbteil bitten."
    Der respektierte Dorfälteste begreift sich als prinzipientreuer Mann.
    "Als die Gruppenvergewaltigung in Neu-Delhi geschah, gab es dort Massenproteste. Aber wir hier auf dem Land haben die Sache anders gesehen. Das Mädchen lebte in der Stadt, um zu studieren, nicht um sich nachts mit einem jungen Mann im Kino rumzutreiben. Warum war sie so spät am Abend noch draußen unterwegs? Hier bei uns gilt so ein Mädchen als charakterlos."
    Seine 37-jährige Tochter Priti nickt zu den Ausführungen ihres Vaters. Sie hat zwei Kinder und lehrt Hauswirtschaft an einer Fachhochschule für Mädchen.
    "Ja, die junge Frau war das Opfer, aber ihre Sicherheit hätte ihre erste Priorität sein müssen. Sie hätte so spät abends nicht mehr unterwegs sein sollen. Wenn sie der Tradition gefolgt und zu Hause gewesen wäre, dann würde sie heute noch leben."
    Doch auch auf dem Land tut sich was. Frauen wie Chhavi Rajawat verkörpern den langsamen Wandel. Die 36-Jährige hat ihren Management-Job aufgegeben, um als Bürgermeisterin das verarmte Dorf ihres Großvaters umzukrempeln.
    "Ich habe kein Problem damit, die Männer zu ermahnen, wenn ich der Meinung bin, dass ich eingreifen sollte. Ich verlange nicht, dass sie mir gehorchen. Ich versuche ihnen eher klar zu machen, dass es andere Pfade gibt, als die ausgetretenen, die sie kennen. Ich ermuntere sie, über ihre Grenzen hinauszudenken."
    Chhavi Rajawat treibt in Soda vor allem die Trinkwasserversorgung und den Bau von Toiletten voran, um die Frauen vor Infektionen, Schlangenbissen und Gewalt zu schützen. Ihr Amtsvorgänger wirft ihr vor, mit den Toiletten falsche Prioritäten zu setzen, hochnäsig und aggressiv zu sein. Doch die Frauen von Soda nehmen ihre Bürgermeisterin anders wahr.
    "Jetzt müssen wir uns nicht mehr den ganzen Tag zurückhalten und auf die Dunkelheit warten, um uns in den Feldern zu erleichtern", betonen sie mit Nachdruck.