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Neu im Kino: "Wild"
Die mit dem Wolf lebt

Die Begegnung war Zufall, doch von jetzt an muss Anja ihn unbedingt wiedersehen, von jetzt an hat sie endlich einen Freund: den Wolf. In Nicolette Krebitz' Drama "Wild" kommen sich Mensch und Wolf erstaunlich nah.

Von Rüdiger Suchsland | 14.04.2016
    Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung
    Anna, gespielt von Lilith Stangenberg, nimmt einen Wolf auf - in ihrer Hochhauswohnung (Heimatfilm)
    Ein kurzer Moment nur, da trifft sich ihr Blick. Ihre Augen sehen einander an, weit aus der Distanz, doch die Blicke kommen sich nahe und es ist um sie beide geschehen. Ein Schlüsselmoment, ein Blick in den Abgrund, wie in ein anderes Leben, in eine zuvor nie gekannte Intensität des Daseins. Bloß handelt es sich hier um die Begegnung zwischen Mensch und einem Wolf, einem wilden Tier, das sich in den Wäldern in der Nähe der Stadt an die Menschen gewöhnt hat, und von ihren Abfällen ernährt.
    Die Begegnung im Park war Zufall: Doch von jetzt an muss Anja ihn unbedingt wiedersehen, will ihn anlocken, einfangen, verzaubern. Von jetzt an hat Anja, die Büroangestellte und IT-Expertin, Mädchen für alles und die weibliche Variante eines Computer-Nerds, endlich einen Freund, den Wolf. Sie kümmert sich um ihn, bringt ihm seine Lieblingsspeisen, und irgendwann übernachtet er bei ihr. Am Morgen danach:
    "Jetzt mach' ich uns Frühstück ... Wie schlau Du bist ... Guck mal, da ist ein Hühnerei. Kennst du doch bestimmt. Also ich esse Eier ohne Schale. Ich esse sie gerührt oder als Spiegelei."
    Die Rotkäppchen-Geschichte schwebt zwischen den Bildern
    Es geht also um Zoophilie, weniger vornehm ausgedrückt, um Liebe und vielleicht mehr zwischen Mensch und Tier.
    "Ich hab 'nen Wolf gesehen im Park."
    Natürlich schwebt die Rotkäppchen-Geschichte zwischen den Bildern dieses Films. Das Nachdenken über das Mensch-Tier-Verhältnis kennt zum einen das wilde Tier als Bedrohung, zum anderen als Opfer des Menschen. Hier ist die Herausforderung eine dritte: Wie kann man zwischen zwei sehr unterschiedlichen Wesen vermitteln, ohne die Eigenart der einen Seite der der anderen zu opfern? Selbstverständlich ist zumindest ein tieferer Sinn des Films die menschliche Perspektive: ein Nachdenken über den Wolf in uns, über das Verhältnis zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten, die Zähmung des Animalischen und die Entfaltung des Menschlichen.
    Nicht unterschätzen darf man in diesem Film aber die Oberflächen über der Tiefe. Regisseurin Nicolette Krebitz zeigt eine anonyme Trabantenstadt, Wohnsilos der Vorstadt - gedreht wurde in Halle-Neustadt, dessen Tristesse und Billiglohnwirtschaft, gelegentlich angespielt, aber nicht ausbuchstabiert wird. Die Kleidung ist unglamourös, die Farben pastellen und blass-entsättigt - wie die Büroräume, die Autos. All das lässt die Tierwelt um so prachtvoller erscheinen.
    Die Grenzen zwischen Gefangenem und Wärterin verschmelzen
    Krebitz' Inszenierung ist klar, aber offen. Getragen von großer Geistesgegenwart, mit der die Regisseurin Spuren legt, und Assoziationsräume absteckt, sich auch wilde atmosphärische Sprünge und Perspektivwechsel gestattet. Souverän balanciert Krebitz über dem Abgrund zwischen Thesenkino, Autorenfilm-Verschrobenheit, und Zurück-zur-Natur-Kitsch.
    Wie es Anja gelingt, das scheue wilde Wesen in ihre Wohnung zu locken, ist ein großartig und schön inszeniertes filmisches Kleinod für sich: eine "Lappjagd". Zuerst ist der Wolf ein Gefangener, doch dann verschmelzen die Grenzen zwischen Gefangenem und Wärterin. Und Anjas Wohnung verwandelt sich immer mehr in ein Wolfsgehege. So wie er seine Scheu abwirft, tut auch sie das mit ihrer und entdeckt die Wölfin in sich. Nicht nur die Wände ihrer Wohnung reißt sie ein.
    Diese gleichberechtigte Annäherung ist nicht nur ein Tabubruch. Sie ist ein intensives sinnliches wie intellektuelles Experiment. Sinnlich - denn es geht hier um Lecken, Tasten, Fühlen, Heulen, Schmatzen, um Wärme. Und ein intellektuelles: Denn Nicolette Krebitz' hoch spannender Film fordert seine Zuschauer heraus: Er bleibt in mindestens einer Hinsicht rätselhaft: Wie sehr ist das, was wir sehen, auch wörtlich gemeint, wie sehr soll es als Metapher stehen für anderes?
    Krebitz' Film hat viele Bezugsebenen: Es gibt auch die des Horrorkinos, in der Individuen zu "Wolfsmenschen" mutieren. Und eine letzte ist die der Utopie der Befreiung aus dem Korsett des Gesellschaftlichen, die Emanzipation von der Kontrolle hin zur Freiheit.