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Neudeck: Menschen können sich Frieden gar nicht vorstellen

Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland sind zu Stein und Haus gewordene Verhinderungen eines zweiten Staates auf dem Gebiet von Palästina, konstatiert Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme. Von einem Siedlungsstopp könne man nicht sprechen.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.02.2010
    Christoph Heinemann: Benjamin Netanjahu hat die baldige Aufnahme neuer Friedensverhandlungen mit den Palästinensern angekündigt. Auf der jährlichen Sicherheitskonferenz in Herzliya sagte der israelische Ministerpräsident, er habe Grund zu der realistischen Annahme, dass es bereits in den kommenden Wochen zu Verhandlungen kommen werde. Diese würden ohne Vorbedingungen stattfinden, sagte Netanjahu. Damit würde sich Israel durchgesetzt haben. Die Regierung in Jerusalem ist seit längerem zur Wiederaufnahme von Gesprächen bereit, lehnt aber Vorbedingungen dafür ab. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hatte dagegen als Voraussetzung für eine Neuauflage der Friedensgespräche einen unbefristeten Baustopp Israels in den besetzten Gebieten verlangt. Netanjahu hatte im November einen befristeten Baustopp verfügt. – Wir sind im Westjordanland verbunden mit Rupert Neudeck, dem Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Sie befinden sich in der so bezeichneten Zone C, Herr Neudeck, des Westjordanlandes. Wo genau?

    Rupert Neudeck: Ja. Wir sind hier in der Schule Talitha Kumi. Das ist eine große deutsche Auslandsschule, die an der Grenze der Demarkationslinie sich befindet, und das ist so ein großer Hafen, wo man immer wieder mal zurück kann, wenn man in diesem Gebiet sich aufhält.

    Heinemann: Werden dort in diesem Gebiet weiterhin Siedlungen gebaut?

    Neudeck: Ja. Wir waren gestern nun auf dem Berg, wo wir ein Begegnungszentrum unterstützt haben, und von diesem Berg – der liegt auf halber Strecke zwischen Bethlehem und Hebron -, dort kann man das sehr gut sehen. Fünf Siedlungen sind um diesen Berg herum und fressen sich immer mehr an diesen Palästinenserberg heran, und in diesen Siedlungen, also in Neve Daniel, in Betar Hilit, in Eleazar, in Alon Shvout, das sind so die Namen dieser Siedlungen, wird kräftig gebaut. Es ist nichts zu sehen von einem Stopp von Bauten. Ich glaube, das meint die deutsche Bevölkerung immer, wenn Friedensverhandlungen gewesen sind oder Resolutionen verabschiedet werden, dass es dann einen Stopp gibt, weil diese Siedlungen sind natürlich die zu Stein und Haus gewordenen Verhinderungen eines zweiten Staates auf dem Gebiet von Palästina, weil diese Siedlungen sich ja alle erstrecken oder aufgebaut werden, wenn man so will, illegal auf palästinensischem Gebiet, auf dem Gebiet des künftigen Staates Palästina, den man sich ja nicht anders vorstellen kann als im Westjordanland und im Gazastreifen. Deshalb ist das Wort Frieden natürlich für die Menschen hier ein Wort, das sie weit in die Zukunft verbannt haben und sich heute gar nicht vorstellen können, wie das aussehen sollte.

    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben mit Ihrer Organisation dort eine Solaranlage errichtet. Werden Sie dabei von den Behörden unterstützt?

    Neudeck: Nein! Der Palästinenser Daoud Nasar, der auf diesem, seinem Berg ein Begegnungszentrum gebaut hat, wo sich Menschen, wo Schulklassen sich zu Begegnungen treffen können – und das findet auch ständig statt -, wo auch Delegationen aus aller Herren Länder dort hinkommen, der hat keine Unterstützung von den Behörden, und dennoch reagiert er eben nicht, wie man menschlich verstehbar reagieren könnte, nämlich mit Reaktionen des Hasses und der Gewalt und der Rache, sondern er sagt, nein, als Christen – er ist ein palästinensischer Christ – dürfen wir das nicht tun, sondern wir müssen einfach unsere Enttäuschungen, die wir haben mit der anderen Seite, die dürfen wir nicht in solchen Reaktionen ausufern lassen, sondern wir müssen einfach aufbauen, und er baut auf diesem Berg jetzt nicht nur eine Begegnungsstätte, sondern er ist dabei, mit unserer Hilfe ein Berufsausbildungszentrum auch noch zu errichten, weil junge Palästinenser brauchen für den Aufbau eines eigenen Staates, den er schon vorwegnimmt, natürlich ganz besonders die Berufe wie zum Beispiel Bautechniker, Solartechniker, Elektrotechniker. Das will er alles dort machen. Er hatte aber bisher überhaupt keinen Strom auf diesem Berg. Rings herum in den fünf Siedlungen ist Strom satt. Dort kann man so ab 17 Uhr, wenn so die Dämmerung einbricht, die ganze Straßenbeleuchtung sehen, das ganze Gelände ist fast touristisch erhellt, wenn man so will. Aber er hatte keinen Strom und deshalb haben wir ihm gesagt, das ist eine ideale Situation für alternative, für erneuerbare Energie, und wir haben ihm aus Deutschland eine Solaranlage besorgt.

    Das war nun wieder ganz schwierig, weil der Beschluss zu dieser Installation geschah von den Seiten der Grünhelme vor zweieinhalb Jahren und das dauert eben so lange, weil man so eine Solaranlage erst mal nach Israel importieren muss, dann muss man eine Firma in Israel finden, die muss bereit sein und in der Lage sein, diese Anlage durch die Mauer auf den Berg zu bringen, und das ist eine Sache von zwei Jahren. Das muss man sich eben so realistisch, so schwierig vorstellen.

    Heinemann: Herr Neudeck, die israelische Regierung führt an, gerade im Westjordanland gehe es wirtschaftlich bergauf. Das ist doch eine gute Nachricht, gerade für die Palästinenser.

    Neudeck: Ich weiß nicht, was der Hintergrund oder der Untergrund, der reale Hintergrund dieser Meldung ist, denn eigentlich muss man folgendes sagen – das klingt ganz absurd für deutsche Zuhörer: Die Siedlungen sind natürlich große Arbeitgeber für die palästinensische Bevölkerung darum herum. Das sagen mir die Palästinenser hier andauernd. Die jungen Leute haben ja gar keine andere Wahl, als die einzigen Arbeitsplätze anzunehmen, die sie in den Neubauten, in den neu zu bauenden Siedlungen haben. Wir sehen das hier auch an dem Berg, wo wir gestern den ganzen Tag verbracht haben. Junge Palästinenser kommen in diese Siedlungen, um Arbeitsplätze anzunehmen. Wenn man das so will, ist das eine wirtschaftliche Tatsache, die zu Gunsten der Beschäftigung von Palästinensern sich ausschlägt, aber das schafft natürlich noch nicht die Befriedigung, die über das Wirtschaftliche hinausgeht.

    Es muss hier – das wissen wir ja nun seit 50 Jahren mindestens – eine zweite Heimstadt für die Palästinenser geben auf diesem Gebiet Palästina, was wir geografisch Palästina nennen, weil es einen jüdischen Staat geben soll, der eben nicht eine Mehrheit von Palästinensern oder Arabern haben soll, und deshalb muss es bald eben – so lange hat das ja nun schon gedauert und die Geduld der Menschen ist sehr strapaziert – diesen zweiten palästinensischen Staat geben. Es kann nicht anders sein, als dass er dadurch entsteht, dass es auf diesem Gelände dessen, was wir die Westbank oder Westjordanland nennen und den Gazastreifen, diesen zweiten Staat geben muss. Daran zweifeln die Menschen hier, denn sie haben jetzt zu lange gewartet und so viele Enttäuschungen erlebt.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, direkt aus dem Westjordanland. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören!