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Neudeck: Westen hat in Syrien "richtig versagt"

Deutschland und andere Länder hätten in Syrien viel mehr humanitäre Hilfe leisten können, sagt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Weil Saudi-Arabien die Rebellen mit Geld und Waffen unterstütze, gewännen nun Islamisten an Macht.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.04.2013
    Christoph Heinemann: Mindestens 57 Menschen sind im Süden Syriens nach Angaben von Aktivisten bei einem Armeeeinsatz getötet worden. Unter den Toten seien auch sechs Kinder, das erklärte die oppositionsnahe syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der syrischen Staatsführung systematische Luftangriffe auf Zivilisten vor. Die Angaben aus Syrien können kaum überprüft werden, weil unabhängige Journalisten nur selten Zugang haben und ebenfalls um ihr Leben fürchten müssen.

    Vor dieser Sendung haben wir Rupert Neudeck erreicht, den Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Er hält sich im syrisch-türkischen Grenzgebiet auf, in der syrischen Ortschaft Harim. Ich habe ihn gefragt, welche Lage er dort vorgefunden hat.

    Rupert Neudeck: Die Lage in Syrien ist weiter so gespannt und durcheinander, dass man eigentlich keinen Gesamtüberblick geben kann. Man kann nur immer sagen, wie ist die Lage dort, wo man sich befindet. Ich habe mich das fünfte Mal aufgemacht, in das sogenannte befreite Syrien zu gehen. Das ist das Gebiet Syriens, das zur Grenze zur Türkei liegt. Und dort ist die Situation weiter unglaublich angespannt, weil die syrische Luftwaffe weiter mit einem unglaublichen Terror und einer Brutalität Zivilbevölkerung aus der Luft bombardiert und mit Raketen beschießt, wie man sich das kaum vorstellen kann. Ich habe wieder zwei Krankenhäuser gesehen, die in letzter Zeit durch syrischen Luftangriff kaputt gegangen sind. Ausdrücklich werden von dieser syrischen Luftwaffe Krankenhäuser und Schulen dort bombardiert, um den Terror und die Abschreckung gegenüber der Bevölkerung besonders groß zu machen. Diese Bevölkerung ist zu Teilen auch wirklich nicht mehr in der Lage, das auszuhalten in den Dörfern und den Städten.

    Ich bin gerade zurückgekommen von einem Flüchtlingslager, das direkt auf der türkisch-syrischen Grenze liegt. Zu einem Teil ist dieses Lager auf syrischem Gebiet, zum anderen Teil auf dem nicht militärisch besetzten Gebiet der Türkei, also dem, was man Niemandsland nennt. Dort befinden sich 28.000 Menschen in Zelten. Aber sie haben die Hoffnung, dass sie in wenigen Wochen zurückkehren können, denn das ist die Erwartung jetzt der Menschen, dass es doch zu Ende gehen sollte mit dem Regime, das ihnen so viel Pein bereitet.

    Heinemann: Was nährt diese Erwartung?

    Neudeck: Dass die Freie Syrische Armee, die ja diese Befreiung der Gebiete vorgenommen hat, doch in einem beständigen Fortgang ist, was weniger zu tun hat mit Unterstützung von außen, weder vom Westen, noch von Saudi-Arabien oder Katar, sondern aus eigener Kraft. Man erlebt auch einen ziemlichen Aufschwung bei diesen bewaffneten Kräften, den Rebellen. Deshalb hat mir auch der Leiter dieses Flüchtlingslagers, in dem ich da war, gesagt, er geht davon aus, dass in einem Monat das mit dem Regime Assad zu Ende geht.

    Heinemann: Herr Neudeck, unser Kollege Martin Durm, der in den letzten Tagen aus Aleppo berichtet hat, hat eine seiner Reportagen mit den Worten beendet, "das Versagen des Westens ist der Triumph der Islamisten." Nimmt die Bedeutung der Religion in dieser Auseinandersetzung zu?

    Neudeck: Ich bin ganz vorsichtig dabei, weil ich ja auch immer wieder erlebt habe, dass in diesen Ländern, die nicht europäische Länder sind, die nicht säkulare, laizistische Länder sind, die Religion sowieso eine größere Bedeutung hat. Und deshalb muss man sich vom Westen her immer wieder klar machen, die Religion spielt sowieso eine sehr große Rolle. Das gilt für Syrien, das galt aber auch schon für Ägypten, das gilt für den Iran, das gilt für Afghanistan. Wir müssen uns, glaube ich, als säkulare Europäer ein bisschen mehr darum bemühen, dieses Existenzial von Menschen in traditionell gewachsenen und gewordenen Ländern etwas besser zu verstehen.

    Dazu kommt, dass ich dem Kollegen Durm sehr Recht gebe. Die Brigaden, die innerhalb der Freien Syrischen Armee, sagen wir mal, einen islamischen Anhauch haben, der bei uns in die Richtung geht von Islamismus, vielleicht auch von Salafismus, vielleicht auch von Dschihadismus, diese Brigaden nehmen natürlich an Stärke und Bedeutung zu, weil sie von dem einzigen Land, das auf der ganzen Welt diese Bewegungen unterstützt, heftig finanziell unterstützt werden, und das ist von Saudi-Arabien. Die Islamisten sind in der Tat in der Vorderhand jetzt, weil sie eben mehr Kraft haben, weil sie mehr Geld haben, weil sie mehr Waffen haben, und das hat auch damit zu tun, dass der Westen in Bezug auf die Unterstützung dieser Rebellion, die eine authentische junge Rebellion ist, richtig versagt hat.

    Heinemann: Geht das so weit, dass Sie nach der Zeit Assads mit einem Bürgerkrieg in Syrien rechnen? Wir haben in der Reportage eben von Martin Durm einen Kämpfer gehört, der gesagt hat, nach Assad geht es den Alawiten an die Gurgel.

    Neudeck: Ja es gibt natürlich solche Menschen. Es gibt natürlich solche Vertreter der Rebellion. Das ist ja auch unter Menschen durchaus verstehbar. Das ist nicht entschuldbar, aber es ist verstehbar, dass nach 60 Jahren absoluter Geheimdienstdiktatur der Familie Assad, erst Vater Assad und dann Sohn Assad an der Spitze mit den Alawiten und auch den Christen, die auch kollaboriert haben, dass es da Bewegungen, innere Emotionen gibt in Richtung Rache, Hass, Revanche. Das ist etwas, was in der Philosophie eben als das Unmenschliche, als das Menschliche beschrieben wird. Es ist eine menschliche Bewegung, von der wir hoffen können, dass sie nicht so zum Ausdruck kommt, sondern dass sie in eine Bewegung kommt, dass diese syrische Gesellschaft zu einer einheitlichen gehen wird, die alle Denominationen in ethnischer und auch in konfessioneller, religiöser Hinsicht zusammenfassen kann.

    Heinemann: Es gibt, Herr Neudeck, auch hoffnungsvolle Zeichen. Wir hören im Hintergrund bei Ihnen spielende Kinder. Das ist ein Friedensklang für ein Land. Zurück zu dem, was Sie eben gesagt haben. Sie sagten, der Westen hätte viel mehr tun können. Aber Sie wissen: Es gibt keinen UN-Beschluss, der Sicherheitsrat ist blockiert. Wie hätte der Westen denn helfen können?

    Neudeck: Na ja, mit ein bisschen mehr Fantasie hätte ich mir sehr viel mehr vorstellen können. Es ist zum Beispiel nicht gelungen, dass das Auswärtige Amt so etwas Ähnliches an der türkischen Grenze eingerichtet hat, wie wir das im Bosnien-Krieg hatten, der uns ja auch in Deutschland überfallen hat und den wir gar nicht für möglich gehalten haben. Dort gab es damals vom Auswärtigen Amt mit an der Spitze einem Botschafter ein humanitäres Büro für humanitäre Hilfe. Das hat allen Organisationen und allen Initiativen geholfen, über die Grenze zu kommen. Die Türkei ist ein befreundetes Land, man hätte sehr viel mehr tun können, um die humanitäre Bewegung in diesem Lande, um die Lieferung in der Kälte damals von Heizöl und von Heizmaterial, von Mehl für das Grundnahrungsmittel der Syrer, für das Brot, für die Ausrüstung der neuen Büros der Zivilverwaltung zu befördern.

    Man hätte sich sehr viel mehr vorstellen können, was seitens auch der Bundesrepublik Deutschland hier im Lande hätte geschehen können. Aber das ist nicht geschehen, auch aufgrund von Risikoscheu, die in unseren Ländern natürlich zunimmt. Der UNHCR fehlt hier völlig. Ich habe überhaupt nicht in den Flüchtlingslagern noch nicht mal den Schimmer des Anscheins einer Präsenz des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen erlebt. Nichts davon ist da, weil eben die Risikoscheu dieser sehr vornehm gewordenen Verbände das alles verhindert. Es braucht bei humanitären Katastrophen, es braucht ein wenig mehr Beherztheit, als in den Tarifordnungen des öffentlichen Dienstes bei uns vorgeschrieben ist.

    Heinemann: Unterdessen hat US-Präsident Barack Obama für die syrische Opposition zehn Millionen Dollar freigegeben. Das Geld ist für den obersten Militärrat der aufständischen Freien Syrischen Armee bestimmt und soll ausschließlich für nichtmilitärische Zwecke ausgegeben werden, hieß es in Washington. – Rupert Neudeck war das, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Wir haben ihn vor dieser Sendung in Syrien erreicht.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Rupert Neudeck
    Rupert Neudeck kritisiert die fehlende humanitäre Hilfe für Syrien (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)