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Neudefinition der Masse-Einheit
Wettrennen um das neue Kilogramm

Das Urkilogramm ist zu leicht. Der Zylinder aus Platin-Iridium, der in einem Tresor bei Paris liegt, hat als Messobjekt ausdient. Bis 2018 soll es eine Neudefinition des Kilogramms geben. Wer dabei das Sagen hat, wird dadurch entschieden, wer genauer messen kann. Die Physiker der Physikalisch Technischen Bundesanstalt wollen mit einer Kugel aus Silizium das Rennen machen.

Von Veronika Köberlein | 26.03.2015
    Die exakt ein Kilogramm schwere, hochreine Siliziumkugel der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig.
    Die exakt ein Kilogramm schwere, hochreine Siliziumkugel der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Die Neudefinition des Kilogramms liegt in Arnold Nicolaus' Hand. Der Physiker umfasst mit weißen Stoffhandschuhen eine Tennisball-große, metallisch schwarz glänzende Kugel, die in etwa so viel wiegt wie ein Liter Wasser. Sie soll die neue Verkörperung der wichtigsten Masseeinheit auf der Erde werden: dem Kilogramm. Rund zwei Millionen Euro kostet der Ball aus reinem Silizium. Angst, sie fallen zu lassen, hat Nicolaus trotzdem nicht.
    "Dann wäre sie natürlich zerstört, aber prinzipiell bedeutet das nur viel Arbeit. Aber es ist eben nichts verloren an der Grundidee. Man würde einfach eine neue Kugel machen, und hätte dann einfach wieder eine neue Maßverkörperung für das Kilogramm. Das geht nicht für das Urkilogramm. Wenn das runterfällt, ist es kaputt und dann gibt's kein Kilogramm mehr."
    Die Grundidee ist, das Kilogramm - ähnlich wie die Einheit Meter - über eine Naturkonstante zu definieren. Denn ein Messobjekt wie das Urkilogramm, das man aus Vorsicht am liebsten nur alle 50 Jahre aus seinem Tresor in Paris herausholt, ist für Metrologen ungeeignet. Auch der Umstand, dass es nur ein Exemplar davon gibt, ist der Fachwelt ein Dorn im Auge. Seit knapp 20 Jahren feilen die Wissenschaftler der Physikalisch Technischen Bundesanstalt in Braunschweig deswegen an einer Alternative.
    "Die Neudefinition wird extrem abstrakt sein. Für einen normalen Menschen kaum zu verstehen. Es wird einfach der Wert einer physikalischen Fundamentalkonstante festgelegt, in diesem Fall eben die Planck-Konstante. Die Planck-Konstante hängt von der Masse ab und in dem Augenblick, wo ich sie festlege, lege ich auch das Kilogramm fest."
    Kugel soll so rund wie möglich sein
    Horst Bettin ist Leiter des Projekts "Avogadro" an der PTB. Seine Mitarbeiter prüfen, ob sich die abstrakte Definition, die auf mikroskopischen Größen basiert, auch in der makroskopischen Welt realisieren lässt. Dafür müssen sie ein Objekt formen, dessen Masse, Volumen und Atomeigenschaften so genau wie möglich messbar sind. Aus Silizium lässt sich relativ leicht ein sehr regelmäßiger, großer Einkristall herstellen. Ein Ball aus dem Halbmetall eignet sich daher besonders gut dafür, seine Atome abzuzählen. Je präziser das gelingt, umso präziser ist nachher die Masse definiert. Um das Volumen des Kristalls exakt messen zu können, versucht man, daraus eine Kugel zu schleifen, die so rund wie möglich ist.
    "Wir vergleichen das immer gerne mit der Erde. Wenn die Erde so schön rund wäre wie unsere Kugel, dann wäre der höchste Berg im Vergleich zum niedrigsten Tal so etwas wie fünf bis zehn Meter hoch. Und naja, wenn ich jetzt im Tal stünde, dann wäre der nächste Berg eben 5000 Kilometer weiter weg. So fantastisch rund sind diese Kugeln. Und das ist leider für die Messungen auch nötig."
    Denn was die Genauigkeit anbelangt, liegt im Moment ein weiteres Verfahren zur Bestimmung des Kilogramms um Haaresbreite vorne: Die Watt-Waage, ein Experiment, bei dem mechanische mit elektrischer Leistung verglichen wird, um ebenfalls die Planck-Konstante und damit das Kilogramm zu bestimmen. Die Forschungsgruppe um Arnold Nicolaus aus Braunschweig hat die kanadischen Kollegen mit den Messwerten, die sie vor Weihnachten veröffentlicht hat, jedoch fast eingeholt.
    "Dazu war es eben wichtig, einen Zahlenwert zu liefern, der auch eine Unsicherheit hat, die klein genug ist. Und das macht uns eben stolz, dass wir so einen super Wert gelandet haben."
    Genauigkeit ist kaum zu übertreffen
    Die Genauigkeit des neuen Messwertes ist kaum zu übertreffen: Beim Zählen von hundert Millionen Atomen liegen die Forscher um höchstens zwei Teilchen daneben. Doch Nicolaus ist besessen davon, die Geometrie des Kristalls noch runder zu schleifen, um im Kilorennen auf der Zielgeraden die Nase vorne zu haben.
    "Für die nächsten zwei Jahre haben wir einfach so viele Optionen noch offen, die wir angreifen wollen. Wir erwarten also zumindest also noch eine Halbierung der momentanen Messunsicherheit. Und diesen Eindruck haben wir eben von unseren Kollegen an der Watt-Waage nicht gewonnen, die haben eben nicht dieses kontinuierliche System gezeigt."
    In diesen Tagen geht das Rennen in die nächste Etappe: Ein neuer Rohkristall trifft an der PTB ein, aus dem zwei neue Siliziumbälle geformt und vermessen werden. Eine perfekte Kugelform wird Arnold Nicolaus auch hier nie erreichen, selbst wenn er noch hundert weitere Jahre daran feilen würde. Wenn jedoch 2018 die neue Definition formuliert wird, will er dafür sorgen, dass der Anteil, den die Braunschweiger Wissenschaftler daran haben, so schwer wie möglich wiegt.