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Neue Akzente in der Außenpolitik?

Engels: Verbunden bin ich nun mit dem neuen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günther Verheugen, SPD. Guten Morgen!

    Verheugen: Guten Morgen!

    Engels: Herr Verheugen, wird Fischer polnische Bedenken gegen die neue deutsche Regierung ausräumen können?

    Verheugen: Ich bin sicher. Ich habe auch die Reaktionen der polnischen Politik anders wahrgenommen, als Ihr Korrespondent gerade berichtet hat. Wir hatten in den letzten Wochen hier sehr, sehr intensive Kontakte schon mit Polen, und die polnische Regierung weiß ganz genau, daß sie von der neuen Bundesregierung Kontinuität in den deutsch-polnischen Beziehungen erwarten darf, und sie weiß auch ganz genau, daß diese Bundesregierung mit der selben Entschlossenheit an der Erweiterung der Europäischen Union arbeitet wie die alte. Es ist ein kleiner Unterschied dabei; das ist richtig. Es ist ein gewisser Realismus in die Sache hineingekommen. Die Vorstellung, daß die EU-Erweiterung etwa bis zum Jahre 2000 abgeschlossen sein könnte, wie Bundeskanzler Kohl es in Polen gesagt hat, ist eben vollkommen unrealistisch. Auch das hat in Polen jeder gewußt, aber das heißt ja nicht, daß man den Prozeß nicht so schnell zu Ende bringen will, wie es nur möglich ist.

    Engels: Sie sagen, es ist ein neuer Realismus, den die Polen, aber auch, denke ich, Ungarn und andere osteuropäische Staaten zu erwarten haben von der deutschen Regierung. Ist das nicht mehr als nur ein Wermutstropfen für die Betroffenen?

    Verheugen: Nein. Ich glaube, das ist vernünftig, im Umgang zwischen den Staaten klarzumachen, daß man keine unerfüllbaren Versprechungen machen darf. Die Europäische Union und ihre Erweiterung sind ein zentrales Thema der neuen Regierung, aber es ist ganz klar, daß ein solcher gigantischer Schritt, wie wir ihn in Europa jetzt machen wollen, bedacht sein muß in seinen sozialen und ökonomischen Konsequenzen. Das war bisher nicht ausreichend geschehen.

    Engels: Das heißt, müssen wir nach innen erst einmal aufräumen, neu strukturieren, bevor wir weitere Mitglieder aufnehmen können?

    Verheugen: Ich glaube, wir müssen dafür sorgen, daß dieser Erweiterungsprozeß auch bei uns selbst, bei unseren Bürgerinnen und Bürgern verstanden wird und getragen wird, und er würde es zum Beispiel nicht und die Europapolitik würde ihre Legitimation im eigenen Land verlieren, wenn wir beispielsweise nicht Klarheit darüber schaffen würden, daß beim EU-Beitritt Polens eine lange Übergangsfrist geschaffen werden muß in bezug auf die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir können bei dem hohen Einkommensgefälle, das heute noch zwischen Deutschland und Polen besteht und das noch auf viele Jahre hinaus bestehen wird, nicht diesen Teil des EU-Vertrages sofort in Kraft setzen.

    Engels: Was heißt lange zeit?

    Verheugen: Das wird abhängen von der wirtschaftlichen Entwicklung in Polen selbst und der sozialen Entwicklung, die ja gefördert werden wird auch durch den EU-Beitritt. Das muß dann immer wieder überprüft werden.

    Engels: Wir haben zu Anfang über polnische Befürchtungen gesprochen. Welche Rolle wird die neue deutsche Regierung den Vertriebenenverbänden zubilligen?

    Verheugen: Ich glaube, die Vertriebenenverbände haben eine wichtige Funktion in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Sie können, sie müssen und ich glaube, sie wollen auch zur anhaltenden Versöhnung und zu einer engeren Zusammenarbeit beitragen, und bei dieser Aufgabe werden sie von der neuen Regierung auch unterstützt werden.

    Engels: Werden auch die Bedenken Polens, Tschechiens anders als bisher mit in Betracht gezogen?

    Verheugen: Gerhard Schröder hatte schon bei seinem Besuch in Warschau als Kandidat im Juni an dieser Stelle eine für Polen ganz wichtige Aussage gemacht, nämlich daß eine von ihm geführte Bundesregierung weder an Polen noch an Tschechien Forderungen richten wird, bilaterale Forderungen, die vor dem EU-Beitritt erfüllt werden müßten, und das bezog sich ganz eindeutig auf Entschädigungsforderungen.

    Engels: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, ebenfalls ein Thema, dem sich Deutschland als zukünftiger Ratspräsidentskandidat ab 01. Januar 1999 widmen will. Was wird dort Neues passieren, passieren müssen? Es soll ja einen neuen Mann, eine neue Frau geben, die sozusagen als europäischer Außenminister oder zumindest als europäischer Botschafter fungieren sollen?

    Verheugen: Ja, der Entscheidungsprozeß darüber kommt allmählich in Gang. Formell kann das noch nicht entschieden werden, weil der Amsterdamer Vertrag, auf dessen Grundlage ja dieses Amt geschaffen werden soll, noch nicht überall ratifiziert ist. Das wird auch noch eine gewisse Zeit dauern. Ich rechne damit, daß diese Entscheidung während der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 fällt. Hier sind die Meinungen noch unterschiedlich. Insbesondere Frankreich und Großbritannien vertreten eine unterschiedliche Position, was den Charakter dieser Position angeht. Die Franzosen sagen, es muß ein Politiker sein mit hohem Gewicht, der auf gleicher Augenhöhe mit den Staatsmännern und Staatsfrauen der Welt verhandeln kann; die Engländer vertreten eine andere Position. Sie sagen, es sollte ein erfahrener Diplomat sein. Sie haben auch bereits einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Die neue Regierung hat sich in dieser Frage noch nicht festgelegt. Man kann die Entscheidung sinnvollerweise wohl auch erst dann treffen, wenn man weiß, ob überhaupt so eine Gestalt, wie Frankreich es sich vorstellt, zur Verfügung steht.

    Engels: Sie haben die unterschiedlichen Ansichten der Regierungen in Paris und London angesprochen. Es sind die beiden Stationen, die der neue Außenminister Fischer als erste heute besuchen wird: Paris und London. Könnte es hier zu einer neuen Achse, zu einem neuen Dreierbund innerhalb eines größer werdenden Europa kommen?

    Verheugen: Ich halte nichts von diesem Begriff des Dreiecks oder des Dreierbundes, aber was ich glaube, was geschehen muß und auch geschehen wird, ist eine Intensivierung sowohl der deutsch-britischen als auch der französisch-britischen Beziehungen. Wir haben ja eine Reihe von sehr positiven Schritten der Regierung Blair erlebt. Die ersten Entscheidungen, die diese Regierung im vergangenen Jahr getroffen hatte, waren europafreundlich. Die ganze Haltung hat sich ins Positive verändert, und vor wenigen Tagen erst hat die britische Regierung eine wichtige Ankündigung gemacht, nämlich daß sie auch bereit ist, an der Gestaltung einer europäischen Verteidigungspolitik mitzuwirken. Das war bisher in Großbritannien geradezu ein Tabu. Ich sehe also gute Möglichkeiten, die britische Politik stärker in die europäische einzubinden und Großbritannien in Europa die Rolle zu geben, die dieses große und wichtige Land auch verdient.

    Engels: Wird Paris an der Seite Bonns dort mitziehen?

    Verheugen: Ich glaube, ja.

    Engels: Hat die Kosovo-Krise, die letzte Entwicklung der vergangenen Wochen möglicherweise gezeigt, daß man in Europa schneller gemeinsam entscheiden muß, als das bisher der Fall ist?

    Verheugen: Ja, das ist ganz eindeutig. Die Kosovo-Krise war wieder einmal ein Beweis dafür, daß es eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, noch nicht gibt. Daß die Krise, so wie es jetzt aussieht, friedlich beigelegt werden konnte, muß man ehrlicherweise sagen, ist in erster Linie ein Verdienst der amerikanischen Diplomatie. Europa hat das nicht zustandegebracht. Wir sollten aber in Europa in der Lage sein, Krisen, die auf unserem eigenen Kontinent entstehen, selber anzugehen und selber zu lösen. Deshalb ist es ein wichtiges Anliegen der neuen Bundesregierung, die europäischen Möglichkeiten der Konfliktprävention und der friedlichen Konfliktregelung auszubauen und zu verstärken. Das wird ein ganz wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit sein und ist auch einer von den neuen Akzenten, über die Sie gesprochen haben.

    Engels: Reicht denn dort ein Außenminister, ein europäischer Außenminister aus, oder muß dort mehr passieren an Umstrukturierung?

    Verheugen: Dort muß nach meiner Meinung sehr viel mehr passieren. Daß was Sie den europäischen Außenminister nennen, ist ja nur ein Teil der Bemühungen, die unternommen werden. Wir brauchen wirklich eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, und zum Programm der jetzigen Bundesregierung gehört, daß sie auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik mehr europäische Gemeinschaftspolitik erreichen will.

    Engels: Das war in den "Informationen am Morgen" Günther Verheugen, SPD, der neue Staatsminister im Auswärtigen Amt. Vielen Dank nach Bonn.