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Ibsen, illegale Einwanderer und eine Rabenmutter

In seinem Kinodebüt verlegt Regisseur Simon Stone Ibsens "Die Wildente" kurzerhand nach Australien. Ihm gelingt eine betörende und zeitgemäße Adaption. Außerdem starten "Desierto" - ein herausragender Thriller, der an der mexikanisch-amerikanischen Grenze spielt und "Lotte", in dem sich eine Frau ihrer Vergangenheit stellen muss.

Von Hartwig Tegeler | 26.10.2016
    Regisseur Jonas Cuaron posiert mit dem Victory-Zeichen vor einem 'Desierto' Plakat in Mexico City
    Jonas Cuaron schuf den düsteren Thriller "Desierto" (DPA / EFE / Sashenka Gutierrez)
    "Die Wildente" von Simon Stone
    Ein Mann kehrt in seine Heimatstadt zurück und enthüllt ein lange vergrabenes Familiengeheimnis. Diesen Plot von Henrick Ibsens Theaterstück "Die Wildente" hat Simon Stone in die Jetztzeit übertragen. In einer düsteren, nebelverhangenen australischen Landschaft spielt "Die Wildente", in der das Geheimnis einer vergangenen Liebe alles zerstört. Weil der notorische Besserwisser Christian etwas enthüllen will. Die alte Beziehung nämlich zwischen seinem Vater Henry und Charlotte, die nun mit Oliver verheiratet ist. Aber dass Henry mit seinem Sohn sprechen will, es wird nichts ändern. Christian Zerstörungswut, sein Wunsch nach Rache ist nicht zu bändigen.
    Simon Stone, Theater-Regiestar, in Australien aufgewachsen, hat in seinem Kinodebüt die Crème de la Crème der australischen Schauspieler versammelt: Geoffrey Rush, Sam Neill, Mirando Otto. "Es ist ein Film über Menschen, die versuchen, gut zu handeln, die lieben und scheitern." So beschreibt Simon Stone seine betörende, grandios gespielte, spannende und verstörende zeitgenössische Adaption von Henrick Ibsens "Die Wildente".
    Man könnte auch sagen: Während das Blockbuster-Kino von kindischen Phantasien erzählt, erzählt Simon Stone von Menschen, ihren Stärken und Schwächen. Dass Stones Film bei uns nur in der Originalfassung mit Untertiteln ins Kino kommt, kann den Cineasten freuen. Letztendlich ist dies aber vor allem Ausdruck dafür, wie wenig der Verleih an seinen Film glaubt. Beschämend.
    "Die Wildente" von Simon Stone - herausragend.
    "Lotte" von Julius Schultheiß
    Sie braucht Raum" sagt Lotte zu Greta in Julius Schultheiß´ Film "Lotte". Die titelgebende Berlinerin, Anfang 30, ist besessen von ihrer Unabhängigkeit. Zuviel Alkohol, Koks auch, und der Job im Krankenhaus fliegt ihr um die Ohren. Ach ja, eine Wohnung fehlt ebenso. Als Lotte für drei Monate bei einem alten Kumpel unterkommt, trifft sie durch Zufall in der Notaufnahme auf Greta. Greta ist Lottes Tochter, aufgewachsen beim Vater. Lotte hatte keinen Kontakt, nun aber klebt Greta an Lotte, die erst mal um sich haut:
    "Weißt du, ich habe mir das überlegt. Du kannst einfach nicht hierbleiben.
    Und warum?
    Warum? Ich brauche mehr Freiraum. Muss allein sein."
    Warum Lotte, die ihre Tochter mit 15 bekommen hat, die sie nie sehen wollte, welche Rolle Lottes Mutter dabei spielte, erfahren wir nicht, es wird nur angedeutet. Filmemacher Julius Schultheiß stellt die Psychologie seiner Figuren zurück hinter der Energie der Geschichte der jungen Frau in einem flirrenden Berlin. Und das überzeugt. Karin Hanczewski als Lotte ist dabei ebenso eine Entdeckung wie Zita Aretz als Tochter Greta. Manche emotionale oder auch psychologische Wendung dieser Geschichte: "Ich bin ihre Mutter! Ich bin ihre Mutter!" erscheint vielleicht nicht überzeugend. Aber das ändert nichts daran, dass dies ein sehr, sehr kraftvoller Film über eine sehr unkonventionelle, ruppige, kotzbrockige, abweisende junge Frau ist, die am Ende, wenn man so will mit dem Abspann sich den eigenen Dämonen stellen wird, auch, wenn sie das nie wollte. Greta sei Dank.
    "Lotte" von Julius Schultheiß - empfehlenswert.
    "Desierto - Tödliche Hetzjagd" von Jonás Cuaróns Thriller
    "Na dann, wollen wir jagen?" Dies ist eine brutale, schnörkellose Geschichte, ein schwarzes Gemälde über die Gegenwart. Jonás Cuaróns Thriller "Desierto - Tödliche Hetzjagd". "Willkommen in Amerika. Von jetzt an müssen wir alle sehr vorsichtig sein. Selbst, wenn es nur ein verschissener Bauer ist, versteckt euch." Ein Redneck, Ex-Soldat, macht mit seinem Scharfschützen-Gewehr und seinem Schäferhund im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko Jagd auf Migranten, die ins "Gelobte Land" wollen. "Trinkt nicht euer ganzes Wasser. Wir habe noch anderthalb Tage vor uns."
    Nach und nach ermordet der selbsternannte Grenzwächter die Fliehenden. Der mexikanische Regisseur Jonás Cuarón kümmert sich in seinem Film keinen Deut um Psychologie. "Desierto - Tödliche Jagd" ist physisches Genrekino. Aber selten war ein Survival-Thriller so aufgeladen mit gesellschaftlicher Realität, diesem Hass auf die Flüchtlinge, mit den großen Lügen, die Populisten à la Trump produzieren, um Sündenböcke für ihre Unzufriedenheit und Angst auszumachen. Wie sagt der mörderische Redneck in "Desierto", bevor er die nächsten Schüsse auf die Flüchtenden abgibt? "Ich habe dieses Land geliebt. Jetzt nicht mehr."
    "Ich konnte mir die Erfahrung der mexikanischen Migranten nur als Horrorfilm vorstellen," sagt der Filmemacher Jonás Cuarón. Ob am Ende von "Desierto" jemand überlebt, ist dabei weniger entscheidend als die Düsternis, die trotz der gleißenden Helligkeit der Sonora-Wüste diesen Film durchzieht. Kalte Zeiten.
    "Desierto - Tödliche Hetzjagd" von Jonás Cuarón - als DVD, BluRay und VideoOnDemand erschienen und Mexikos offizieller Anwärter auf den "Auslands"-Oscar 2017 - herausragend.