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Nicht mehr bei Sinnen

Von einer im Vollrausch abgeschlossenen Wette handelt die Komödie „100 Dinge“. Die Odyssee eines Kiffers durch Los Angeles beschreibt „Under the Silver Lake“. Und „Skandalregisseur“ Gaspar Noé schickt im Film „Climax" eine Tanztruppe auf einen LSD-Trip.

Von Jörg Albrecht | 05.12.2018
    Ein tanzendes Paar im Halbdunkel schreit sich an.
    Szene aus Gaspar Noés Film "Climax" (Alamode Filmverleih)
    "Alles ist weg. Meine Möbel. Meine Wertsachen. Wir müssen die Polizei rufen. Was ist passiert?"
    "Dir darf man einfach keinen Alkohol geben."
    "Ich habe einen Filmriss."
    Stunden vorher hatten die beiden besten Freunde Paul und Toni – Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer – eine echte Schnapsidee. Die beiden Chefs eines erfolgreichen Start-ups in Berlin haben gewettet, 100 Tage lang auf all das verzichten zu können, was sie jemals in ihrem Leben gekauft haben. Wer hält länger durch? Die Zeugen der Wette haben kurzerhand sämtliche Gegenstände und Kleidungsstücke von Paul und Toni entfernen und einlagern lassen. Und so stehen die Zwei jetzt splitterfasernackt in einem leergeräumten Loft. Jeden Tag um Mitternacht dürfen sie allerdings jeweils eine Sache auslösen. So ohne Hab und Gut ist der Kopf frei für tiefschürfende Erkenntnisse.
    Etwas Philosophie und viele Binsenweisheiten
    "Aber wenn ich Sachen kaufe, um glücklich zu werden – was heißt denn das dann im Umkehrschluss?"
    "Dass du nicht glücklich bist."
    "Genau."
    "Dein Hirn kommt aus der Steinzeit. Es hat ständig Angst zu verhungern. Horten und Fressen."
    "Ich bin doch kein Neandertaler, ich habe doch meinen freien Willen."
    "Es gibt überhaupt keinen freien Willen."
    Hört, hört! Sollten Fitz, der auch Regie geführt sowie das Drehbuch geschrieben hat, und Schweighöfer, der hier als Produzent fungiert, etwa eine philosophische Komödie gedreht haben? Schließlich greifen sie Erich Fromms Kerngedanken vom modernen Menschen auf, der viele Dinge hat und viele Gegenstände gebraucht, aber nur sehr wenig ist. Der Unterschied zwischen Haben und Sein eben. Okay, das ist dann vielleicht doch ein wenig zu viel der Ehre angesichts der vielen Binsenweisheiten über Besitz und Glück, die zwischen den überwiegend gelungenen Gags zu vernehmen sind.
    "100 Dinge": akzeptabel
    "Kommst du mit rein auf einen Drink?"
    Das Angebot kann Sam nicht ausschlagen. Seit Kurzem ist der 33-Jährige, der so in den Tag hineinlebt, der kifft und Comics liest, voll auf seine Nachbarin Sarah fixiert.
    "Ich konnte sehen, dass du mich beobachtet hast."
    "Nein, habe ich nicht."
    "Am Pool. Hast du masturbiert?"
    "Nein. Nein."
    "Ist nicht ungewöhnlich. Ich masturbiere auch."
    "Ich auch."
    "Tun wir es nicht alle?"
    "Ja, aber ich habe nur geguckt."
    Ein typischer Dialog aus David Robert Mitchells L.A.-Story "Under the Silver Lake". In der geht es neben Sex mit sich selbst auch noch um einen Hundemörder und einen entführten Milliardär, um Stinktiere und eine sektenähnliche Popgruppe. Nichts passt hier zusammen – außer man glaubt an Verschwörungstheorien.
    Seltsame Zeichen im Zimmer
    Als Sarah plötzlich über Nacht verschwunden ist und Sam in ihrem verlassenen Appartement seltsame Zeichen entdeckt, macht er sich auf die Suche nach ihr.
    "Sei still!"
    "Was?"
    "Es bedeutet: Sei still! Diesen Code benutzen Landstreicher."
    "Okay, und wieso ist das in Sarahs Zimmer und für wen ist diese stille Botschaft gedacht?"
    "Weiß nicht. Für dich vielleicht."
    "Under the Silver Lake" mit Andrew Garfield in der Hauptrolle ist ein durchaus ambitioniertes Verwirrspiel, aber in Sachen Storytelling ist der Film unterentwickelt. Zu viele lose Enden und leere Versprechungen lassen das Interesse an Sams Odyssee nach und nach schwinden. Da nützt auch der hervorragende Soundtrack nichts, der Erinnerungen an Hitchcock weckt. Die düster-verschlungenen Filmrätsel eines David Lynch waren da ungleich reizvoller.
    "Under the Silver Lake": zwiespältig
    "Tanzt, tanzt – sonst sind wir verloren", das war der Untertitel von Wim Wenders' Pina-Bausch-Film. "Tanzt, tanzt – und ihr seid verloren", so könnte der von Gaspar Noés neuem Film "Climax" heißen. Im Jahr 1996 probt eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus 21 Tänzerinnen und Tänzern in einer alten Schule einen letzten Durchlauf, bevor es am nächsten Tag auf Tournee durch Frankreich gehen soll. Zufrieden mit dem Resultat feiern die jungen Leute bei Sangria und Musik.
    Drogenrausch vor einer entfesselten Kamera
    "Fühlt ihr euch nicht ein bisschen komisch?"
    "Was hast du gemacht? Was hast du in die Sangria getan? Ich fühle mich nicht gut."
    "Wovon redest du da? Ich habe nichts getan."
    "Irgendwas ist in der Sangria."
    Das "Irgendwas" ist vermutlich LSD und schickt nicht nur jeden, der von der Sangria getrunken hat, auf einen Trip. Der Drogencocktail wird auch für gruppendynamische Prozesse sorgen und schon vorher angelegte und kurz angerissene Konflikte eskalieren lassen. Den Kontrollverlust, der sich in Sex und Gewalt äußert, fängt eine entfesselte Kamera in oft langen Einstellungen ein. Die Sogwirkung der Bilder wird durch die treibenden Beats akustisch noch verstärkt "Climax" ist ein extremer Film. Ein intensives Kinoerlebnis ist garantiert.
    "Climax": herausragend