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Von Aggregat- und Gemütszuständen

Die gewaltigen Kräfte des Elements Wasser fängt der Dokumentarfilm "Aquarela" ein. Von einer jungen Frau aus Glasgow und ihrem großen Traum erzählt das Sozialdrama "Wild Rose" und ein surreales Verhör steht im Mittelpunkt der schwarzen Komödie "Die Wache!".

Von Jörg Albrecht | 11.12.2019
Eine junge Frau steht auf der Strasse und blickt nach oben
Jessie Buckley in Tom Harpers Film "Wild Rose" (www.imago-images.de)
Dämmerung am zugefrorenen Baikalsee in Sibirien. Die Landschaft ist in blaues Licht getaucht. Mit Ansichten vom größten Süßwasserreservoir der Erde eröffnet Victor Kossakovsky seinen Film "Aquarela", den er mit einer Framerate von 96 Bildern pro Sekunde gedreht hat statt der üblichen 24. So glasklar die Aufnahmen, so erkennbar ist "Aquarela" mehr Filmessay als Naturdoku.
Auf dem See bewegen sich Männer mit Werkzeugen, mit denen sie ganz offensichtlich keine Fische fangen wollen. Sie angeln sich etwas anderes. Die Männer haben unter der Eisdecke einen PKW entdeckt, den sie mit einer Winde an die Oberfläche ziehen. Es ist Frühling geworden am Baikalsee. Obwohl das Eis bereits schmilzt, fahren immer noch Autos über den See. Ein Spiel mit dem Leben. "Guck mal! Noch eins. Die brechen gleich ein!" Ruft einer aus dem Bergungstrupp.
Reise zu den Wassern der Erde
Vom Baikalsee führt die filmische Reise weiter: erst nach Grönland zu abbrechenden Eisbergen und dann hinaus auf den offenen Ozean. Ein Segelboot nimmt den Kampf mit den Wellen auf. Es schließen sich apokalyptische Bilder von den Folgen eines Wirbelsturms an, bevor "Aquarela" mit Eindrücken vom höchsten Wasserfall der Erde, dem Salto Àngel in Venezuela, enden wird.
"Aquarela" ist ein visuelles, aber auch ein akustisches Erlebnis: eine unkommentierte Reise um die Erde, die auf die Kraft der Bilder und Töne vertraut und in der das Wasser zum Hauptdarsteller wird. Ein Hauptdarsteller, der seinen Aggregatzustand ändert und der stets in Bewegung ist. Selten sind Naturgewalten so poetisch eingefangen worden.
"Aquarela": empfehlenswert
"Die Kinder sagen, sie sind eine Country- und Westernsängerin."
"Verarschen Sie mich? Das ist nur Country."
"Sie müssen sehr gut sein. Die ganze Woche höre ich nur Rose-Lynn, Rose-Lynn. Wieso gerade Country?"
"Drei Akkorde und die Wahrheit."
Rose-Lynn. Den perfekten Namen für einen Country-Star hätte sie zumindest schon. Und singen kann sie auch. Doch von ihrem großen Traum, nach Nashville zu gehen, um dort berühmt zu werden, ist Rose-Lynn – Anfang 20 und aus Glasgow – weiter entfernt als jemals zuvor. Nach einem Jahr Haft steht sie vor der Herausforderung, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Zu diesem Leben gehören auch ihre zwei kleinen Kinder, um die sich in der Zwischenzeit die Großmutter gekümmert hat und die sich von ihr entfremdet haben. Dann bietet sich Rose-Lynn die Chance, mit einem Privatkonzert das Geld für eine USA-Reise zusammenzubekommen.
Jessie Buckley - A Star is Born
"Ich kriege dort die Chance, etwas aus meinem Leben zu machen. Das ist mit Sicherheit auch gut für sie."
"Gut für sie? Sie nicht im Stich zu lassen immer wieder und wieder und wieder – das wäre mal richtig gut für die Beiden. Und ich dachte, du hättest dich geändert."
Reduziert man das auf die Frage, ob Rose-Lynn lernt Verantwortung zu übernehmen oder aber ob sie weiter für ihren großen Traum lebt, dann ahnt man schnell, welche Richtung "Wild Rose" von Tom Harper einschlagen wird. Das hier ist definitiv keine weitere "A Star is Born"-Geschichte, sondern eine bewegende, in der britischen Arbeiterschicht angesiedelte Charakterstudie, wie sie das Kino von der Insel so perfekt beherrscht. Was allerdings Hauptdarstellerin Jessie Buckley betrifft, so kommt man nicht umhin festzustellen: A Star is Born.
"Wild Rose": empfehlenswert
"Kommen Sie mal zu mir!"
"Das wird jetzt leider nicht gehen, Chef. Ich bin gerade sehr konzentriert bei einer Sache sozusagen."
"Gut. Kommen Sie trotzdem hierher!"
"Nein, geht nicht. Ich muss diesen Brief fertigschreiben. Solche Aufgaben liegen mir sozusagen gar nicht."
"Würden Sie bitte das dauernde 'sozusagen' unterlassen, wenn es möglich ist."
"Entschuldigung."
Der inflationäre Gebrauch des Wortes "sozusagen" ist sozusagen der Running Gag im Film "Die Wache!". Aber dessen Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter Quentin Dupieux wäre nicht Quentin Dupieux, wenn er sich nicht noch viel mehr Skurriles und Absurdes hätte einfallen lassen. Das beginnt schon damit, dass in der ersten Szene ein Mann – nur bekleidet in roter Unterhose – ein Orchester in einem Park dirigiert.
Kammerspiel in einer Polizeistation
"Die Wache!" ist größtenteils ein Kammerspiel: ein Verhör auf einer Polizeistation. Ein von Benoît Poelvoorde gespielter Kommissar befragt einen Verdächtigen in einem Mordfall.
"Verzeihung, aber aus Ihrem Körper kommt Rauch raus. Ist das normal?"
"Ja, da ist ein Loch. Konzentrieren Sie sich bitte! Also jetzt weiter im Text! Reden Sie!"
"Das ist eklig."
"Nein, nein. Schwamm drüber! Weiter! Fahren Sie fort!"
Ein Film als Überraschungstüte. Serviert in schlanken, kurzweiligen 73 Minuten. Genial ist das nicht, auch nicht besonders geistreich, ja es drängt sich sogar der Eindruck des Unfertigen auf. Sozusagen. Aber was soll's! Der Film unterhält.
"Die Wache!": akzeptabel (sozusagen)