Archiv


Neue Quellen für die Holocaust-Erforschung

Das Holocaust-Archiv im hessischen Bad Arolsen soll für die Forschung geöffnet werden. Bislang hatte der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes die Unterlagen nur für seine eigene Arbeit genutzt, um die NS-Opfer vor Veröffentlichungen zu schützen. Suchdienst-Direktor Reto Meister rechnet bis Herbst mit der Zustimmung der elf Aufsichtsländer zur geplanten Öffnung.

Moderation: Silvia Engels |
    Silvia Engels: Für viele ist es gar nicht so bekannt, doch im nordhessischen Bad Arolsen wird die weltweit größte Dokumentensammlung über den Holocaust verwahrt. Es ist das Archiv, das für den internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes eingesetzt wird. Und die Sammlung umfasst die Daten von 17 Millionen Menschen, vorwiegend von NS-Opfern. Das Archiv speist sich vor allem aus Belegungslisten aus Konzentrationslagern und NS-Papieren über Tausende von Zwangsarbeitern. Das Archiv wurde bislang dazu genutzt, um Familien nach dem Krieg zusammenzuführen oder um Menschen über das Schicksal ihrer Angehörigen zu informieren. Der breiten Öffentlichkeit oder der Wissenschaft war es nicht zugänglich.

    Das soll sich nun ändern. Gestern tagte in Amsterdam der Kontrollausschuss des Suchdienstes, und er hat beschlossen, dass das Archiv nach bestimmten Zugangsregeln geöffnet werden soll. Dafür stark gemacht hat sich Reto Meister, er ist der Direktor des Internationalen Suchdienstes und nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Meister!

    Reto Meister: Guten Tag.

    Engels: Was haben Sie nun geplant mit diesem Archiv?

    Meister: Unser Ausschuss hat uns in der Sitzung die Grundsatzregelungen bestimmt, die es ermöglichen, Historikern, aber auch dem Publikum, dem großen Publikum Zugang zu geben zu den Archiven, die in Arolsen vorliegen.

    Engels: Herr Meister, Sie haben einen Überblick über diese Daten. Wo, denken Sie, kann die Forschung über den Holocaust durch den Zugang zu diesen Daten nun besonders vorankommen?

    Meister: Es gibt Bestände in den Archiven des Suchdienstes, die Themen betreffen, die noch nicht völlig durchforscht sind. Ich denke beispielsweise über die Frage der Flüchtlinge, der befreiten Konzentrationslager-Inhaftierten, aber auch der Zwangsarbeiter, die sich am Ende des Krieges 1945 in den Displaced Person Camps befanden und über welche wir Informationen haben, die ihren weiteren Wanderungsweg, würde ich beinahe sagen, betreffen. Das ist bestimmt ein Fundus, über den sich Forscher weiter vertiefen können.

    Zudem glaube ich, da wir ja Originalbestände aus den von den westlichen Alliierten eingenommenen Konzentrationslagern wie zum Beispiel Buchenwald oder Dachau haben, sehr komplette originale Sammlungen, glaube ich auch, dass beispielsweise die Gedenkstätten dieser beiden und natürlich noch mehreren anderen Lager bei uns zusätzliche Informationen aneignen können, die es ihnen erlauben, detailliertere Rekonstruktionen vorzunehmen über verschiedene Fragestellungen wie Bewegungen der Häftlinge, die Größe vielleicht von Außenlagern, vielleicht auch über gewisse Mechanismen, die von der SS dazumal angewendet wurden, um die Häftlinge, ich würde jetzt beinahe sagen, besser verfolgen zu können.

    Engels: Herr Meister, sind bei der Auswertung dieses Archivs möglicherweise auch überraschende Neuerungen im Zusammenhang mit NS-Kriegsverbrechen rund um die Konzentrationslager zu erwarten?

    Meister: Ich kann Ihnen nicht sagen, ob das zu erwarten ist. Ich kann Ihnen aber sagen, dass, wenn das der Fall sein sollte, würden wir natürlich beitragen dazu, eventuelle Verbrecher oder Verbrechen zu klären. Für uns seit jeher war es klar, für wen wir hier sind. Dieser Suchdienst wurde geschaffen, um den Opfern und den Verfolgten einen Dienst zu erweisen. Und es war nie das Ziel dieser Institution, Täter zu schützen.

    Engels: Werden möglicherweise auch Holocaust-Überlebende oder Nachkommen von NS-Opfern mehr über den Verbleib ihrer Angehörigen erfahren oder haben Sie da durch die Suchdienstarbeit eigentlich schon alles geklärt?

    Meister: Wissen Sie, alles klären, das kann Verschiedenes bedeuten für eine Familie. Also wir laden Überlebende und ihre Familien ein, nach Arolsen zu kommen. Und ich glaube, wir können etwas beitragen, um das Leid zu vermindern, obwohl es vielleicht nicht offensichtlich ist, indem wir diesen Personen Zugang geben zu den Originaldokumenten, in denen sie erwähnt sind, die über sie erstellt worden waren. Und ich denke, durch diese Auseinandersetzung mit der Verwaltung dieser Schicksale können wir, glaube ich, dazu beitragen, das Leiden zu verringern. Obwohl: Es ist sicherlich ein schmerzhafter Prozess, aber ich glaube, es könnte ein wichtiger Beitrag sein, einerseits natürlich auch für die Familienforschung, aber andererseits glaube ich bestimmt, dass für die Opfer diese Einsichtnahme in ihre eigenen, weil schlussendlich betreffen diese Dokumente ja Personen, also in ihre eigenen Dokumente, ich glaube, das könnte auch ein Beitrag sein im Heilungsprozess.

    Engels: Herr Meister, über Jahrzehnte hinweg hat sich der Suchdienst allerdings gegen die Öffnung des Archivs gesperrt. Warum?

    Meister: Der Suchdienst natürlich aus einem Interesse, die Opfer, über die ich soeben gesprochen habe, zu schützen vor der öffentlichen Kuriosität. Der Suchdienst versuchte ein Gleichgewicht zu erstellen zwischen diesem Interesse einerseits und dem Interesse der historischen Forschung. Ich glaube aber, dass diese Periode lange, ich würde sogar sagen zu lange gedauert hat. Und es ist jetzt wirklich an der Zeit, wie es der Ausschuss uns ja auch bestätigt hat, dass unsere Archive für die Forschung ebenfalls zugänglich sein werden.

    Engels: Und der letzte Schritt wird dann erreicht sein, wenn auch die Mitgliedstaaten des internationalen Suchdienstes die entsprechenden Verträge ratifiziert haben. Vier Staaten haben das noch nicht getan. Sind Sie optimistisch, dass das bald kommt?

    Meister: Es wird kommen. Es ist ein Prozess, ein unumkehrbarer Prozess. Wir haben es gestern wieder gehört von allen Staaten. Jeder Staat ist engagiert, diesen Ratifizierungsprozess durchzuführen. Wir hoffen gemäß den Informationen, die wir erhielten von den betroffenen Staaten, nämlich hauptsächlich Griechenland, Italien, Frankreich, dass dieser Prozess im Verlauf des Herbstes spätestens abgeschlossen sein sollte.

    Engels: Reto Meister, Direktor des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes. Wir sprachen mit ihm über die anstehende Öffnung des Holocaust-Archives im nordhessischen Bad Arolsen. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Meister: Ich danke Ihnen.