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Neue Regierung in Italien
"Es muss spürbar werden, dass es neue Zukunftsperspektiven gibt"

Die neue Regierungskoalition in Italien dürfe keine bleiben, die nur gebildet worden sei, um Salvini zu verhindern, sagte die grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese im Dlf. Auch die EU müsse Italien nun dabei unterstützen, den Menschen Perspektiven aufzuzeigen – sonst drohe ein demokratisches Problem.

29.08.2019
Alexandra Geese, Mitglied im Europaparlament für Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen
Nachdem der Rechtspopulist Matteo Salvini in Italien verhindert worden sei, sieht Alexandra Geese nun auch die EU in der Pflicht (dpa/Rolf Vennenbernd)
Jörg Münchenberg: Am Ende haben sich Fünf-Sterne-Bewegung und die italienischen Sozialdemokraten doch noch zusammengerauft. Die neue Koalition steht, nachdem der Personalstreit ausgeräumt werden konnte. Demnach soll der bisherige Ministerpräsident Giuseppe Conte auch weiter die Regierung leiten. Lega-Chef Salvini muss vorerst in die Opposition.
Am Telefon ist jetzt Alexandra Geese. Sie ist Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament und ausgewiesene Italien-Kennerin. Frau Geese, ich grüße Sie!
Alexandra Geese: Ich grüße Sie, Herr Münchenberg.
"Die Erleichterung ist unglaublich groß"
Münchenberg: Frau Geese, eine Regierungskrise und Neuwahlen wird es in Italien vorerst, muss man sagen, nicht geben. Wie groß ist die Erleichterung in Europa?
Geese: Riesig, riesig - die Erleichterung ist unglaublich groß. Wir haben hier, beziehungsweise die Demokraten und die Fünf-Sterne-Bewegung haben jetzt verhindert, dass es in Italien die erste rechtsextreme Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg gibt. Denn das hätte ein Ausgang von Neuwahlen sein können im schlimmsten Fall. Und groß ist die Erleichterung natürlich auch über dieses klare Bekenntnis zur EU, das der Premierminister oder der voraussichtliche Premierminister Conte heute ausgesprochen hat.
Münchenberg: Auf der anderen Seite haben da ja zwei Schwache zusammengefunden, wenn man sich zumindest mal die schlechten Umfragewerte anschaut. Deswegen wollten ja beide Neuwahlen unbedingt verhindern. Wie stabil ist damit diese neue Koalition?
Geese: Das ist die Frage. Ich denke, es darf keine Koalition bleiben, die sich nur gegen etwas richtet. Es darf nicht in der Zukunft darum gehen, dass man Salvini verhindern wollte. Diese Koalition muss sich jetzt zusammenfinden und sich auf konstruktive Fragen konzentrieren. Ein bisschen hat man ja schon gehört aus der Rede von Conte: Soziales, die Wirtschaft ankurbeln, Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Italien hat riesige Probleme mit dem Klimawandel. Und vor allen Dingen muss für die Menschen wirklich spürbar werden, dass es jetzt neue Zukunftsperspektiven gibt, dass es bessere Arbeitsplätze gibt.
Fünf Sterne und Sozialdemokraten müssen gemeinsame Basis ansprechen
Münchenberg: Aber anfangs ging es ja nur um Posten zwischen diesen beiden und weniger um die Inhalte.
Geese: Ja, leider. Ich denke, da müssen die Politiker doch ein bisschen mal ihre eigenen Befindlichkeiten und Eitelkeiten vergessen und außer Acht lassen. Das ist natürlich immer schwierig. Aber sie haben eine gemeinsame Wählerbasis und die müssen sie jetzt ganz konkret ansprechen. Wenn sie das nicht schaffen, dann wird diese Regierung auch nicht dauern. Dann wird sie keine Stabilität haben.
Münchenberg: Frau Geese, schauen wir trotzdem mal auf die Inhalte. Ein ganz wichtiger Punkt, auch aus europäischer Perspektive: die Migrationspolitik. Da ist ja von der Fünf-Sterne-Bewegung eigentlich keine Kurskorrektur zu erwarten.
Geese: Das ist extrem bedauerlich. Ich hätte mir das erhofft, weil es gibt ja ganz unterschiedliche Strömungen auch in der Fünf-Sterne-Bewegung. Es gibt diese eher fremdenfeindliche oder migrationsfeindliche Strömung; es gibt aber durchaus da auch progressivere Sektoren, die sich auch durchsetzen könnten. Ich kann mir vorstellen, dass hier ein wichtiger Anstoß aus Europa kommen müsste…
Münchenberg: Der wie aussieht?
Geese: … und kommen sollte. Denn die Italiener fordern ja schon eigentlich seit fast zwei Jahrzehnten eine Neuauflage der Migrationspolitik, der sogenannten Dublin-Verordnung, die ja jetzt vorsieht, dass die Menschen, die übers Meer flüchten, dort bleiben müssen, wo sie ankommen, das heißt in den wirtschaftlich auch schwächeren Staaten Italien, Spanien und Griechenland.
Wirtschaft durch nachhaltige Investitionen ankurbeln
Münchenberg: Aber da zeichnet sich ja bislang aus europäischer Sicht keine Kursänderung ab, weil zum Beispiel die Osteuropäer einen gerechten Verteilungsschlüssel weiterhin ablehnen.
Geese: Na ja. Frau von der Leyen hat ja schon angedeutet in ihrer Bewerbungsrede im Parlament, dass sie dieses Problem durchaus sieht und auch angehen möchte. Ich glaube, in Deutschland gibt es da auch ein gewisses Umdenken. Das ist jetzt der Moment, das wirklich umzusetzen. Und es gibt ja eine Lösung im Parlament, die von verpflichtenden Quoten absieht. Das Europäische Parlament hat da schon einen Lösungsansatz vorgelegt, dem die großen Parteien schon zugestimmt haben. Der ist bloß im Moment im Rat blockiert. Und da kann, glaube ich, jetzt Deutschland sich ganz stark dafür einsetzen, dass wir hier zu einer gerechteren Lösung, zu einem gerechteren Verteilungsschlüssel kommen, und das muss die neue Kommission unterstützen.
Münchenberg: Nun steht Italien ja wirtschaftlich gesehen mächtig unter Druck. Es gibt eine Stagnation, eine lang anhaltende, dazu die hohe Staatsverschuldung. Da muss man doch sagen, viel Spielraum in Sachen Haushalt hat die Regierung eigentlich nicht.
Geese: Das ist richtig, ja. Italien hat natürlich das Problem, dass es extrem verschuldet ist, und zwar nicht nur in Bezug auf die reine Quote, sondern auch dadurch, dass es so eine große Volkswirtschaft ist, ist Italien der klassische Fall des "Too big to fail". Während Griechenland unter einen Rettungsschirm passte, wird das für Italien sehr, sehr schwierig sein. Da ist der Druck groß, da muss man natürlich kreativ gucken. Aber zumindest hat Italien zum Beispiel den Plan von dem ehemaligen oder noch amtierenden Innenminister Salvini abgewendet, der eine sogenannte "Flat Tax" einführen wollte, den Steuersatz auch für hohe Einkommen auf 15 Prozent absenken, und das hätte Italien natürlich praktisch in den Bankrott getrieben. Das haben wir jetzt abgewendet. Da muss natürlich auch die Kommission ein bisschen sehen, wie kann man da unterstützen, wie kann man da dafür sorgen, dass es gute Investitionen gibt, vielleicht auch von europäischer Seite, um das Wirtschaftswachstum auch in Europa nachhaltig anzukurbeln.
Mit Defizitkriterien flexibel umgehen
Münchenberg: Sie sagen, Europa soll da ein bisschen Schützenhilfe leisten. Auch noch EU-Kommissar Günther Oettinger, muss man sagen, hat sich jetzt dafür ausgesprochen, der neuen Regierung "die Arbeit zu erleichtern." Soll Brüssel jetzt plötzlich Steigbügelhalter für die Nationalstaaten sein?
Geese: Ich glaube, es geht nicht darum, Steigbügelhalter zu sein. Es geht darum, zu sehen, wie kann Europa wirtschaftlich langfristig erfolgreich sein. Und das geht, glaube ich, nicht, wenn wir so ein großes Ungleichgewicht haben. Und wir sehen ja auch: Natürlich ist eine Haushaltsdisziplin wichtig. Das will ich überhaupt nicht abstreiten. Das ist ganz wichtig und da ist in Italien in der Vergangenheit viel schiefgelaufen. Da müssen wir drauf gucken. Aber wir müssen auch sehen, wie wir sinnvoll investieren können. Und da denke ich als Grüne natürlich sofort an das Thema Energiepolitik, Klimaschutz. Das sind Investitionen, die wir alle brauchen in ganz Europa. Wie können wir das gerade in diesen Ländern konstruktiv umsetzen, die diese Investitionen so dringend nötig haben für ihre Wirtschaft. Denn die Menschen da brauchen eine Perspektive. Sonst haben wir ein demokratisches Problem langfristig.
Münchenberg: Frau Geese, Unterstützung aus Europa heißt dann nicht mehr Kulanz zum Beispiel, wenn es um das hohe Defizit oder die hohe Staatsverschuldung geht?
Geese: Da muss man natürlich schon gucken, dass für alle Länder die gleichen Regeln gelten. Aber ich glaube, das muss man sich dann immer im Einzelfall anschauen und ein bisschen flexibel damit umgehen. Das wird ja auch bei anderen Staaten schon so gehandhabt.
Münchenberg: Das klingt natürlich ein bisschen unkonkret.
Geese: Ich bin keine Wirtschafts- und Währungsexpertin. Das muss ich dazu sagen. Das würde ich gerne den Fachpolitikern überlassen. Ich denke, wir sollten es wirklich begrüßen, dass jetzt in Italien wahrscheinlich es eine Regierung geben wird, die sich klar zur EU bekennt, die sich klar auch zu einer disziplinierten Haushaltspolitik bekennt, und das sollten wir unterstützen.
Migration: Situation für Italien insgesamt verbessern
Münchenberg: Auf der anderen Seite muss Salvini jetzt in die Opposition. Aber er wird natürlich genau beobachten, was da vor sich geht, zum Beispiel beim Thema Migration, aber eben auch, wieviel Druck aus Brüssel kommt in Sachen Einhaltung des Stabilitätspaktes. Die Frage ist: Wie stabil ist am Ende diese neue Regierung Ihrer Einschätzung nach?
Geese: Ja, das ist das, was ich am Anfang sagte. Da müssen Politiker ein bisschen von ihren Eitelkeiten absehen und schauen, dass sie da wirklich eine vernünftige, nachhaltige Politik auf den Weg bringen, die Arbeitsplätze schafft, die auf Nachhaltigkeit schaut, die aber auch die sozialen Belange nicht aus dem Blick verliert. Denn in Italien, gerade in Süditalien gibt es ein gravierendes Armutsproblem und daran muss man arbeiten.
Und auch zum Thema Migration: Es ist ja nicht so, dass Salvini die Zahlen wirklich geändert hätte. Es kommen immer noch genauso viele Menschen in Italien an, die flüchten. Nur das Bild in der Öffentlichkeit hat sich geändert - dadurch, dass er auch sehr viel Propaganda gemacht hat, und deswegen ist die Rolle Europas zurück. Im Moment ist es ja so, dass fast mehr geflüchtete Menschen aufgrund der Dublin-Verordnung aus den anderen europäischen Staaten nach Italien zurückgeschoben werden. Das ist eigentlich der Hebel, wo man was drehen kann, damit die Situation sich insgesamt für Italien bessert, und das muss man dann natürlich in Italien und in Europa gut kommunizieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.