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Neuer DGB-Chef
Hoffmann muss "den Laden zusammenhalten"

Der neue DGB-Vorsitzende stehe vor einem Berg an Aufgaben: Reiner Hoffmann müsse einerseits die auseinander laufenden Interessen wieder einen, sagte der Sozialwissenschaftler Stephan Sell im Deutschlandfunk. Auf der politischen Ebene sei zudem eine "sehr peinliche Situation" zu lösen.

Stephan Sell im Gespräch mit Birgid Becker | 12.05.2014
    Reiner Hoffmann, neuer Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
    Reiner Hoffmann, neuer Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) (picture-alliance/ dpa / Marc Tirl)
    Birgid Becker: Zum Start der Sendung aber Abschied und Anfang. Michael Sommer geht nach zwölf Jahren an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes. 93,1 Prozent Zustimmung für Reiner Hoffmann an der Spitze des DGB, ziemlich komfortables Polster also. Ich habe vor der Sendung mit dem Koblenzer Sozialwissenschaftler Stephan Sell über die Aufgabenliste für den neuen DGB-Chef gesprochen. Was werden die wichtigsten Aufgaben sein in den ersten 100 Tagen?
    Kluft zwischen den Gewerkschaften
    Stephan Sell: Ich glaube, man muss hier unterscheiden zwischen der Binnenperspektive in die Gewerkschaften hinein - der DGB ist ja der Dachverband vieler einzelner Gewerkschaften - und die Perspektive nach draußen in die Politik, vor allem in die Große Koalition. Nach innen, denke ich, tut sich in den letzten Monaten immer stärker eine gewisse Kluft oder Differenz auf zwischen eher Industrie- und Facharbeitergewerkschaften wie der IG Metall, der IG Bergbau, Chemie, Energie, aus deren Reihen ja auch der neue Vorsitzende kommt, und anderen Gewerkschaften, vor allem Ver.di auf. Das hat was damit zu tun, dass die Interessen jetzt teilweise doch unterschiedlicher sind. Nehmen wir als Beispiel den Kampf um den Mindestlohn. Das ist sicherlich im Dienstleistungsbereich eine ganz wichtige Geschichte gewesen, während IG Metall davon gar nicht betroffen war aufgrund des Lohnniveaus. Das wird eine Aufgabe sein, den Laden zusammenzuhalten, diese auseinanderlaufenden Interessen wieder zusammenzubinden und eine gemeinsame Stimme zu finden. Das wäre die Binnenperspektive. Die externe in die Große Koalition, da wird neben der Umsetzung Mindestlohn und Rente mit 63 ein großes Thema die Frage der Tarifeinheit sein, denn hier beobachten wir einen Kurswechsel bei einem Teil der Gewerkschaften.
    Becker: Weil Sie dieses Projekt Tarifeinheit erwähnt haben – da kommt es jetzt wohl direkt zum Start des neuen DGB-Chefs zu einem ziemlichen Drahtseilakt. Eigentlich war das ja ein gemeinsames Anliegen der Arbeitgeber in Gestalt der BDA und der Arbeitnehmer in Gestalt des DGB, durch ein neues Gesetz diesem alten Grundsatz, dass es in einem Betrieb auch nur eine tonangebende Gewerkschaft geben soll, wieder neu zu beleben. Und dass es ein Gesetz zur Tarifeinheit geben soll, das steht nun auch schön im Koalitionsvertrag. Und nun rückt der DGB wieder davon ab. Politisch ist das nicht ganz frei von Peinlichkeit. Wie kann das ein neuer DGB-Chef wieder einfangen?
    Sell: Ja, das hat schon eine gewisse Note, ist aber auch verständlich. Man hätte das bei näherem Nachdenken aber auch vorher klar kriegen können. Die Arbeitgeber sind die einzigen, die ja dieses Tarifeinheitsgesetz sehr gerne hätten, aus unmittelbar nachvollziehbaren betriebswirtschaftlichen Interessen. Ihnen geht es darum, nehmen Sie als Beispiel, bekanntes Beispiel die Lufthansa mit ihren ständigen Auseinandersetzungen mit sehr kleinen Gewerkschaften, die aber sehr schlagkräftig sind. Das will man raus haben aus den Betrieben. Man will wieder Ruhe kriegen. Und die Gewerkschaften waren Anfangs davon begeistert, vor allem natürlich die großen Gewerkschaften IG Metall, IG Chemie. Aber mittlerweile hat man festgestellt, dass es neben praktischen Problemen auch ein fundamentales Problem gibt, wenn man so ein Tarifeinheitsgesetz bekommt. Da soll ja geregelt werden, dass nur die größte Gewerkschaft dann sozusagen tonangebend sein darf und beispielsweise auch streiken darf. Jetzt müssten sie aber erst mal feststellen, wer ist denn die größte Gewerkschaft in bestimmten Betrieben. Das heißt, die Mitglieder müssten ihre Mitgliedschaft offenlegen in einem bestimmten Unternehmen, damit man diese scheinbar so einfache Feststellung machen kann. Da gibt es nicht nur Datenschutzprobleme. Was aber viel gravierender ist: Man hat gerade im Ver.di-Lager irgendwann gemerkt, dass man teilweise selber in die Situation einer kleineren Gewerkschaft reinrutschen kann und dann durch so ein Gesetz aber das Streikrecht verlieren würde, denn das ist ja auch mit diesem Gesetz verbunden. Und nun bekommen doch zahlreiche Gewerkschafter kalte Füße, dass sozusagen als Kollateralschaden eines solchen Gesetzes dann das Streikrecht eingeschränkt werden würde.
    "Eine sehr peinliche Situation" für Nahles
    Becker: Und wie erklärt man jetzt der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, dass sie für ein Tarifeinheitsgesetz kämpfen soll, das die Gewerkschaften selber nicht mehr wollen, die Arbeitgeber sehr wohl aber? Wie kriegt man das hin?
    Sell: Ich wäre gerne bei so einem Gespräch dabei, denn es ist wirklich eine sehr peinliche Situation und auch eine schwierige Situation jetzt übrigens für die Bundesarbeitsministerin. Insofern wird ihr meiner Wahrnehmung nach eigentlich nichts anderes übrig bleiben können, als hier den geordneten, aber schnellen Rückzug anzutreten, weil ich nicht glaube, dass ein Tarifeinheitsgesetz unter diesen Bedingungen eine reale Chance hätte.
    Becker: Auseinanderlaufende Interessen bei der Innenperspektive haben Sie angesprochen. Wie, erklären Sie uns, kann jetzt ein neuer DGB-Chef das zusammenführen, was dann womöglich unter dem Obertitel „Gute Arbeit" zusammengeführt werden kann?
    Sell: Ich denke, seine schwierige Aufgabe wird darin bestehen, dass er die wirklich auch wichtige - das muss man auch mal deutlich sagen -, wichtige Fokussierung auf Themen, die jetzt eher dem unteren Bereich der Arbeitnehmerschaft, was das Einkommen angeht, oder den nicht organisierten angeht, was wir in den letzten Jahren gesehen haben, Stichwort Leiharbeit, Regulierung der Leiharbeit und Mindestlohn. Da muss man ja ganz klar sagen, davon haben viele Menschen profitiert oder werden profitieren, die noch nicht mal Mitglied in irgendeiner Gewerkschaft sind. Und wir brauchen jetzt eine Umsteuerung. Ein Teil der Interessen der Industriearbeiterschaft muss stärker gewichtet werden auch in der Außendarstellung des DGB. Ich glaube - aber das ist nur meine Vermutung -, dass das sehr stark laufen wird, beispielsweise über eine neue Thematisierung von den Werkverträgen, die ja auch schon in den letzten Monaten immer wieder sehr kritisch diskutiert wurden. Aber gerade die Industriegewerkschaften wissen natürlich, dass die Werkverträge auch eingesetzt werden, um einen Teil der Arbeitsbedingungen der besser vergüteten oder besser gestellten Kernbelegschaften in den großen Fabriken zu stabilisieren. Und ich glaube, man wird jetzt versuchen zu sagen, okay, wir sind bereit, da die Realität ein Stück weit zu akzeptieren, wir wollen aber diesen Bereich stärker regulieren, wir wollen ihn auch gewerkschaftlich organisieren, in die Tarifverträge einbinden mit Einstiegstarifen. In diese Richtung könnte die Diskussion gehen. Es muss ihm gelingen, sozusagen weg zu kommen von der wenn auch wichtigen, aber reinen Perspektive, man kümmert sich „nur" um die Underdogs des Arbeitsmarktes. Das wird aber eine sehr, sehr schwierige Gratwanderung werden.
    Becker: Amtswechsel an der Spitze des DGB – ein Gespräch mit dem Koblenzer Sozialwissenschaftler Stephan Sell war das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.