Vogel: Guten Morgen Herr Liminski.
Liminski: Herr Vogel, Führungswechsel der Partei in Etappen: erst von Kohl zu Schäuble, dann von Schäuble zu Merkel, jetzt von Hinze zu Polenz und von Polenz zu Meyer. Steht nun das Personaltableau?
Vogel: Ich hoffe, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist. Vieles spricht dafür. Ich bedauere, dass Herr Polenz aufgegeben hat. Aber wenn man zur Erkenntnis kommt, dass das Amt nicht zum Mann passt, dann muss man die Konsequenzen ziehen. Es ist richtig und mutig, dass er sie jetzt und sofort gezogen hat.
Liminski: Sie waren eine Zeit lang als Übergangsvorsitzender im Gespräch, ebenso wie Biedenkopf. Wäre einem erfahrenen, also auch in der Auswahl von Führungspersonal erfahrenen Regierungschef die ich sage mal Fehlentscheidung Polenz unterlaufen? Immerhin ist das eine strategische Position.
Vogel: Zunächst hätte ich diese Aufgabe sicherlich nicht für einen Übergang übernommen, denn dann kann man sie nicht meistern, wenn gleich natürlich ein älterer voraussichtlich eine kürzere Amtszeit hat wie jemand, der jünger ist. - Nein, eine solche Situation wie bei Polenz gibt es gelegentlich. Ich erinnere an Beispiele, die wir in Deutschland haben, dass ein Minister, dass eine Senatorin, dass ein Staatssekretär, die ja ohne Probezeit ins Amt berufen werden, nach ein paar Monaten erkennen, das ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Dann gibt es zwei Fälle: die einen schweigen und machen weiter, und dann wird nichts draus, und die anderen haben den Mut, offen zu sagen, das geht nicht, und dann muss man eine Entscheidung korrigieren. Das ist mir in meiner langen Amtszeit auch mitunter geschehen, dass ich meinte, das ist der richtige Mann, und der meinte das auch, und nach einigen Monaten stellte sich heraus, nein, es funktioniert nicht. Dann muss man springen und muss die Entscheidung ändern.
Liminski: Also Erfahrung schützt vor Fehlentscheidungen nicht?
Vogel: Nein, weil das ja alles Ämter sind, die man nicht an der Stange bekommt und wo man auch nur bedingt aus früherer Bewährung schließen kann. Oft gelingt einem ein sehr guter Griff. Ich denke beispielsweise an Frau Laurien und dann Frau Schipanski. In diesen beiden Fällen ist mir ein guter Griff gelungen. Aber ich habe die Erfahrung auch, dass man gelegentlich überrascht wird, und dann muss man korrigieren.
Liminski: Hat Frau Merkel dieser Wechsel jetzt nicht geschadet? Wie oft kann sie sich das noch erlauben beziehungsweise wie oft verzeiht ihr die Partei solche Dinge?
Vogel: Es spricht für Frau Merkel, dass sie, obwohl sie mit dieser kritischen Frage rechnen musste, die Notwendigkeit erkannt hat, gesprungen ist und gewechselt hat. Es ist ihr, der Partei und auch uns nur zu wünschen, dass der jetzt gewählte voll und ganz dieser Aufgabe gewachsen ist. Die Zeichen stehen gut. Er hat seine Chance und ich denke, das wird gut werden.
Liminski: Herr Vogel, der Personalwechsel der letzten Monate oder Jahre ist auch ein Generationenwechsel. Von dem preußischen Reformer Freiherr von Stein stammt der Satz, "wenn man Verhältnisse ändern will, muss man die Personen auswechseln". Hat sich in den letzten zwei, drei Jahren das Gesicht der Partei geändert?
Vogel: Ja, weil die 40jährigen im kommen sind, teils in der Verantwortung stehen, teils sich darauf vorbereiten. Das trifft übrigens oft im Westen übersehen ganz besonders im Osten zu. Nehmen Sie meinen Fall. Ich wurde 1992 gebraucht, weil man jemand mit Erfahrung brauchte. Jetzt sind Leute herangewachsen etwa hier in Thüringen, wo kein Problem besteht, dass die in angemessener Zeit die Verantwortung übernehmen werden. Die CDU ist stark in der Generation der 40- bis 45jährigen.
Liminski: 25 Jahre Kohl als Parteichef. Bei allen Verdiensten, die letzten Jahre gelten allgemein als Jahre der Stagnation. Sollte man die Zeit der Ämter nicht per Statut befristen, schon um die Flexibilität und die Wandlungsfähigkeit einer Partei zu wahren?
Vogel: Entschuldigung, das dürfen Sie nicht mich fragen. Ich bin jetzt insgesamt über 20 Jahre Ministerpräsident. Ich habe in zwei Ländern mehrfach die Zustimmung der Mehrheit der Wähler gefunden. Sie können nicht erwarten, dass ich mich jetzt für eine Begrenzung von Amtszeiten einsetze.
Liminski: Nicht von Regierungsamtszeiten, sondern in der Partei?
Vogel: Auch das nicht. Ich war einmal 14 Jahre und einmal 8 oder 8,5 Jahre Landesvorsitzender meiner Partei. Ich finde, man sollte das den Wählern oder im Fall von Parteiämtern den Parteimitgliedern überlassen. Wenn sie es gut finden, dann sollen sie die Möglichkeit haben zu verlängern. Ich finde das ein bisschen Regulierung durch Statut, weil man sich nicht zutraut, selbst zu wissen was im jeweiligen Fall richtig ist. Ich bin gegen eine solche Begrenzung von Ämtern. Das ist für mich jedenfalls ein Zeichen von Schwächlichkeit.
Liminski: Das war Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Besten Dank für das Gespräch, Herr Vogel. - Mitgehört hat ein CDU-Politiker aus der jüngeren Generation, Günther Öttinger, Fraktionschef im Landtag von Baden-Württemberg. Guten Morgen Herr Öttinger!
Öttinger: Guten Morgen.
Liminski: Herr Öttinger, die Union ist geschichtlich gesehen eine Partei der großen Würfe: soziale Marktwirtschaft, Westverankerung, Wiedervereinigung. Für diese Begriffe standen auch Namen: Erhard, Adenauer, Kohl. Wofür steht Frau Merkel? Fehlt jetzt nicht eine große Vision?
Öttinger: Frau Merkel steht zunächst einmal für die schwierigste Zeit der CDU in Deutschland und ich glaube, dass sie deswegen eine Arbeitszeit von einigen Jahren braucht, um die Autorität in der CDU so zu erhalten, wie sie sie erhalten muss, und auch politisch Positionen zu beziehen und im Tagesgeschäft, aber auch im großen eine CDU zu entwickeln, die wieder an die alten Zeiten und an die großen Entscheidungen anknüpft.
Liminski: Mit welchen Themen will oder kann die CDU, kann Frau Merkel Profil gewinnen und damit vielleicht auch Wahlen?
Öttinger: Wir stehen vor einer Erweiterung der Europäischen Union. Die CDU war immer die Europapartei. Es geht jetzt darum, die Erweiterung um Polen, Ungarn, Tschechien, um zahlreiche andere Länder innenpolitisch abzusichern. Das heißt, die Regeln der sozialen Marktwirtschaft, die Frage der Zuwanderung, die Frage der Freizügigkeit, die Frage unterschiedlicher Lohnniveaus, die Frage unterschiedlicher Arbeitsstandards, all dieses zu harmonisieren. Ich glaube, das ist eine unglaubliche Chance, eine große Herausforderung gerade für den Standort Deutschland. Hier hat die CDU die Möglichkeit, kompetenter als die rot/grüne Regierung Vertrauen in der Bevölkerung zu entwickeln.
Liminski: Inwiefern? Die Europapolitik wird von der Regierung gemacht.
Öttinger: Aber die Regierung hat bisher für die innenpolitische Umsetzung, die Frage also, ob ein Pole sofort Freizügigkeit hat und in Berlin arbeiten darf, oder ob wir dieses auf fünf bis zehn Jahre entwickeln, für die Frage, mit welchen arbeitsrechtlichen Standards wir die Harmonisierung in Europa einfordern, für all diese Themen hat sie bisher kein Konzept entwickelt und ist in Europa auch nicht mit Kompetenz und Interesse sichtbar.
Liminski: Herr Öttinger, der Bamberger Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmidt hat jüngst den Satz geprägt, "Demographie ist unser Schicksal". In der Tat begreifen immer mehr Menschen auch in der Politik, dass der demographische Wandel und die Veralterung der Gesellschaft eine, vielleicht sogar die große Herausforderung der nächsten Jahrzehnte ist. Immerhin hängen die Sozialsysteme daran. Kohl hat das offenbar nicht mehr begriffen. Merz, ein Mann Ihrer Generation, hält das Thema Zuwanderung für eine Priorität. Wie stehen Sie dazu?
Öttinger: Nach meiner Überzeugung müssen wir die demographische Entwicklung Deutschlands langfristig ins Auge fassen und daraus auch langfristige Konsequenzen ziehen. Das heißt für mich, dass Zuwanderung in ganz begrenztem Umfang neben die bisherigen Regeln der Einwanderung treten muss. Allerdings wenn ich mir anschaue, wie stark der Ausländeranteil in Deutschland ist und wie stark die Kräfte am rechten Rand sind, die jetzt schon behaupten, wir hätten zu viele Ausländer, dann ist die Integration von Ausländern der entscheidende Maßstab für die Frage, wie viel Zuwanderung wir vertragen. Dann glaube ich, dass wir nicht beliebig Zuwanderung steigern können, sondern zum Teil auch Missbrauch von Zuwanderung im Asylbereich, in anderen Bereichen und Drosselung von Zuwanderung im Aussiedlerbereich zwingend und ergänzend dazugehört.
Liminski: Stichwort Bildung, fundamental für eine Wissensgesellschaft ohne Bodenschätze. Uns fehlen nicht nur Computerfachleute, sondern auch Naturwissenschaftler, vor allem Chemiker in größerer Zahl. Die Wettbewerbsfähigkeit ist in wichtigen Wirtschaftsbereichen mittelfristig gefährdet. Auch hier die Demographie wieder. Ist Bildung das große Zukunftsthema?
Öttinger: Wir haben dabei eine große Chance, die in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Die Zahl der Jugendlichen, die aus Berufsschule, aus Schule und Hochschule in den Arbeitsmarkt tritt, nimmt noch einmal in den nächsten zehn Jahren zu, weil die geburtenstarken Jahrgänge, das heißt meine Generation, jetzt mit Kindern etwas mehr für jugendliche Zahlen sorgt. Meine große Sorge ist, dass wir unsere Jugend am Arbeitsmarktbedarf von morgen vorbei ausbilden. Wir haben in Deutschland, glaube ich, aufgrund unserer großen Berufswahlfreiheit in den letzten Jahren Fehlentwicklungen gehabt und hatten jugendliche Leute, die zwar gut ausgebildet waren, aber nicht benötigt wurden am Arbeitsmarkt in Deutschland. Deswegen kommt es mehr denn je darauf an, dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen gesagt bekommen, wo sind Berufschancen, und dass dies perspektivisch aufgebaut wird. Wer jetzt aus der Schule kommt muss wissen, wie der Arbeitsmarkt 2005, 2010 aussieht. Dafür haben wir viel zu wenig Kompetenz und Rat und viel zu wenig präzise Prognose aufgebaut.
Liminski: Noch einmal zum Stichwort Vision oder Profil. Ist die deutsche Leitkultur ein politisch tauglicher Kampfbegriff für Wahlen etwa?
Öttinger: Ich würde den Begriff in dieser Verkürzung so nicht wählen. Wir brauchen mit Sicherheit eine Kultur des Abendlandes in Deutschland, das heißt eine Kultur geprägt durch christliches Menschenbild, geprägt durch Liberalität, Toleranz, durch Gleichberechtigung und natürlich auch durch Werte, die im Grundgesetz stehen. Aber die Mehrzahl der Werte, die wir im Grundgesetz verankert haben, sind nicht typisch deutsch, sondern sind typisch durch eine Demokratie im Abendland geprägt. Deswegen würde ich diesen eher irreführenden Begriff nicht als Überschrift plakatieren.
Liminski: Das war Günther Öttinger, der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. - Besten Dank für das Gespräch, Herr Öttinger!
Link: Interview als RealAudio
Liminski: Herr Vogel, Führungswechsel der Partei in Etappen: erst von Kohl zu Schäuble, dann von Schäuble zu Merkel, jetzt von Hinze zu Polenz und von Polenz zu Meyer. Steht nun das Personaltableau?
Vogel: Ich hoffe, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist. Vieles spricht dafür. Ich bedauere, dass Herr Polenz aufgegeben hat. Aber wenn man zur Erkenntnis kommt, dass das Amt nicht zum Mann passt, dann muss man die Konsequenzen ziehen. Es ist richtig und mutig, dass er sie jetzt und sofort gezogen hat.
Liminski: Sie waren eine Zeit lang als Übergangsvorsitzender im Gespräch, ebenso wie Biedenkopf. Wäre einem erfahrenen, also auch in der Auswahl von Führungspersonal erfahrenen Regierungschef die ich sage mal Fehlentscheidung Polenz unterlaufen? Immerhin ist das eine strategische Position.
Vogel: Zunächst hätte ich diese Aufgabe sicherlich nicht für einen Übergang übernommen, denn dann kann man sie nicht meistern, wenn gleich natürlich ein älterer voraussichtlich eine kürzere Amtszeit hat wie jemand, der jünger ist. - Nein, eine solche Situation wie bei Polenz gibt es gelegentlich. Ich erinnere an Beispiele, die wir in Deutschland haben, dass ein Minister, dass eine Senatorin, dass ein Staatssekretär, die ja ohne Probezeit ins Amt berufen werden, nach ein paar Monaten erkennen, das ist nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Dann gibt es zwei Fälle: die einen schweigen und machen weiter, und dann wird nichts draus, und die anderen haben den Mut, offen zu sagen, das geht nicht, und dann muss man eine Entscheidung korrigieren. Das ist mir in meiner langen Amtszeit auch mitunter geschehen, dass ich meinte, das ist der richtige Mann, und der meinte das auch, und nach einigen Monaten stellte sich heraus, nein, es funktioniert nicht. Dann muss man springen und muss die Entscheidung ändern.
Liminski: Also Erfahrung schützt vor Fehlentscheidungen nicht?
Vogel: Nein, weil das ja alles Ämter sind, die man nicht an der Stange bekommt und wo man auch nur bedingt aus früherer Bewährung schließen kann. Oft gelingt einem ein sehr guter Griff. Ich denke beispielsweise an Frau Laurien und dann Frau Schipanski. In diesen beiden Fällen ist mir ein guter Griff gelungen. Aber ich habe die Erfahrung auch, dass man gelegentlich überrascht wird, und dann muss man korrigieren.
Liminski: Hat Frau Merkel dieser Wechsel jetzt nicht geschadet? Wie oft kann sie sich das noch erlauben beziehungsweise wie oft verzeiht ihr die Partei solche Dinge?
Vogel: Es spricht für Frau Merkel, dass sie, obwohl sie mit dieser kritischen Frage rechnen musste, die Notwendigkeit erkannt hat, gesprungen ist und gewechselt hat. Es ist ihr, der Partei und auch uns nur zu wünschen, dass der jetzt gewählte voll und ganz dieser Aufgabe gewachsen ist. Die Zeichen stehen gut. Er hat seine Chance und ich denke, das wird gut werden.
Liminski: Herr Vogel, der Personalwechsel der letzten Monate oder Jahre ist auch ein Generationenwechsel. Von dem preußischen Reformer Freiherr von Stein stammt der Satz, "wenn man Verhältnisse ändern will, muss man die Personen auswechseln". Hat sich in den letzten zwei, drei Jahren das Gesicht der Partei geändert?
Vogel: Ja, weil die 40jährigen im kommen sind, teils in der Verantwortung stehen, teils sich darauf vorbereiten. Das trifft übrigens oft im Westen übersehen ganz besonders im Osten zu. Nehmen Sie meinen Fall. Ich wurde 1992 gebraucht, weil man jemand mit Erfahrung brauchte. Jetzt sind Leute herangewachsen etwa hier in Thüringen, wo kein Problem besteht, dass die in angemessener Zeit die Verantwortung übernehmen werden. Die CDU ist stark in der Generation der 40- bis 45jährigen.
Liminski: 25 Jahre Kohl als Parteichef. Bei allen Verdiensten, die letzten Jahre gelten allgemein als Jahre der Stagnation. Sollte man die Zeit der Ämter nicht per Statut befristen, schon um die Flexibilität und die Wandlungsfähigkeit einer Partei zu wahren?
Vogel: Entschuldigung, das dürfen Sie nicht mich fragen. Ich bin jetzt insgesamt über 20 Jahre Ministerpräsident. Ich habe in zwei Ländern mehrfach die Zustimmung der Mehrheit der Wähler gefunden. Sie können nicht erwarten, dass ich mich jetzt für eine Begrenzung von Amtszeiten einsetze.
Liminski: Nicht von Regierungsamtszeiten, sondern in der Partei?
Vogel: Auch das nicht. Ich war einmal 14 Jahre und einmal 8 oder 8,5 Jahre Landesvorsitzender meiner Partei. Ich finde, man sollte das den Wählern oder im Fall von Parteiämtern den Parteimitgliedern überlassen. Wenn sie es gut finden, dann sollen sie die Möglichkeit haben zu verlängern. Ich finde das ein bisschen Regulierung durch Statut, weil man sich nicht zutraut, selbst zu wissen was im jeweiligen Fall richtig ist. Ich bin gegen eine solche Begrenzung von Ämtern. Das ist für mich jedenfalls ein Zeichen von Schwächlichkeit.
Liminski: Das war Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Besten Dank für das Gespräch, Herr Vogel. - Mitgehört hat ein CDU-Politiker aus der jüngeren Generation, Günther Öttinger, Fraktionschef im Landtag von Baden-Württemberg. Guten Morgen Herr Öttinger!
Öttinger: Guten Morgen.
Liminski: Herr Öttinger, die Union ist geschichtlich gesehen eine Partei der großen Würfe: soziale Marktwirtschaft, Westverankerung, Wiedervereinigung. Für diese Begriffe standen auch Namen: Erhard, Adenauer, Kohl. Wofür steht Frau Merkel? Fehlt jetzt nicht eine große Vision?
Öttinger: Frau Merkel steht zunächst einmal für die schwierigste Zeit der CDU in Deutschland und ich glaube, dass sie deswegen eine Arbeitszeit von einigen Jahren braucht, um die Autorität in der CDU so zu erhalten, wie sie sie erhalten muss, und auch politisch Positionen zu beziehen und im Tagesgeschäft, aber auch im großen eine CDU zu entwickeln, die wieder an die alten Zeiten und an die großen Entscheidungen anknüpft.
Liminski: Mit welchen Themen will oder kann die CDU, kann Frau Merkel Profil gewinnen und damit vielleicht auch Wahlen?
Öttinger: Wir stehen vor einer Erweiterung der Europäischen Union. Die CDU war immer die Europapartei. Es geht jetzt darum, die Erweiterung um Polen, Ungarn, Tschechien, um zahlreiche andere Länder innenpolitisch abzusichern. Das heißt, die Regeln der sozialen Marktwirtschaft, die Frage der Zuwanderung, die Frage der Freizügigkeit, die Frage unterschiedlicher Lohnniveaus, die Frage unterschiedlicher Arbeitsstandards, all dieses zu harmonisieren. Ich glaube, das ist eine unglaubliche Chance, eine große Herausforderung gerade für den Standort Deutschland. Hier hat die CDU die Möglichkeit, kompetenter als die rot/grüne Regierung Vertrauen in der Bevölkerung zu entwickeln.
Liminski: Inwiefern? Die Europapolitik wird von der Regierung gemacht.
Öttinger: Aber die Regierung hat bisher für die innenpolitische Umsetzung, die Frage also, ob ein Pole sofort Freizügigkeit hat und in Berlin arbeiten darf, oder ob wir dieses auf fünf bis zehn Jahre entwickeln, für die Frage, mit welchen arbeitsrechtlichen Standards wir die Harmonisierung in Europa einfordern, für all diese Themen hat sie bisher kein Konzept entwickelt und ist in Europa auch nicht mit Kompetenz und Interesse sichtbar.
Liminski: Herr Öttinger, der Bamberger Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmidt hat jüngst den Satz geprägt, "Demographie ist unser Schicksal". In der Tat begreifen immer mehr Menschen auch in der Politik, dass der demographische Wandel und die Veralterung der Gesellschaft eine, vielleicht sogar die große Herausforderung der nächsten Jahrzehnte ist. Immerhin hängen die Sozialsysteme daran. Kohl hat das offenbar nicht mehr begriffen. Merz, ein Mann Ihrer Generation, hält das Thema Zuwanderung für eine Priorität. Wie stehen Sie dazu?
Öttinger: Nach meiner Überzeugung müssen wir die demographische Entwicklung Deutschlands langfristig ins Auge fassen und daraus auch langfristige Konsequenzen ziehen. Das heißt für mich, dass Zuwanderung in ganz begrenztem Umfang neben die bisherigen Regeln der Einwanderung treten muss. Allerdings wenn ich mir anschaue, wie stark der Ausländeranteil in Deutschland ist und wie stark die Kräfte am rechten Rand sind, die jetzt schon behaupten, wir hätten zu viele Ausländer, dann ist die Integration von Ausländern der entscheidende Maßstab für die Frage, wie viel Zuwanderung wir vertragen. Dann glaube ich, dass wir nicht beliebig Zuwanderung steigern können, sondern zum Teil auch Missbrauch von Zuwanderung im Asylbereich, in anderen Bereichen und Drosselung von Zuwanderung im Aussiedlerbereich zwingend und ergänzend dazugehört.
Liminski: Stichwort Bildung, fundamental für eine Wissensgesellschaft ohne Bodenschätze. Uns fehlen nicht nur Computerfachleute, sondern auch Naturwissenschaftler, vor allem Chemiker in größerer Zahl. Die Wettbewerbsfähigkeit ist in wichtigen Wirtschaftsbereichen mittelfristig gefährdet. Auch hier die Demographie wieder. Ist Bildung das große Zukunftsthema?
Öttinger: Wir haben dabei eine große Chance, die in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Die Zahl der Jugendlichen, die aus Berufsschule, aus Schule und Hochschule in den Arbeitsmarkt tritt, nimmt noch einmal in den nächsten zehn Jahren zu, weil die geburtenstarken Jahrgänge, das heißt meine Generation, jetzt mit Kindern etwas mehr für jugendliche Zahlen sorgt. Meine große Sorge ist, dass wir unsere Jugend am Arbeitsmarktbedarf von morgen vorbei ausbilden. Wir haben in Deutschland, glaube ich, aufgrund unserer großen Berufswahlfreiheit in den letzten Jahren Fehlentwicklungen gehabt und hatten jugendliche Leute, die zwar gut ausgebildet waren, aber nicht benötigt wurden am Arbeitsmarkt in Deutschland. Deswegen kommt es mehr denn je darauf an, dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen gesagt bekommen, wo sind Berufschancen, und dass dies perspektivisch aufgebaut wird. Wer jetzt aus der Schule kommt muss wissen, wie der Arbeitsmarkt 2005, 2010 aussieht. Dafür haben wir viel zu wenig Kompetenz und Rat und viel zu wenig präzise Prognose aufgebaut.
Liminski: Noch einmal zum Stichwort Vision oder Profil. Ist die deutsche Leitkultur ein politisch tauglicher Kampfbegriff für Wahlen etwa?
Öttinger: Ich würde den Begriff in dieser Verkürzung so nicht wählen. Wir brauchen mit Sicherheit eine Kultur des Abendlandes in Deutschland, das heißt eine Kultur geprägt durch christliches Menschenbild, geprägt durch Liberalität, Toleranz, durch Gleichberechtigung und natürlich auch durch Werte, die im Grundgesetz stehen. Aber die Mehrzahl der Werte, die wir im Grundgesetz verankert haben, sind nicht typisch deutsch, sondern sind typisch durch eine Demokratie im Abendland geprägt. Deswegen würde ich diesen eher irreführenden Begriff nicht als Überschrift plakatieren.
Liminski: Das war Günther Öttinger, der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. - Besten Dank für das Gespräch, Herr Öttinger!
Link: Interview als RealAudio