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Neuer Mann, neues Glück

Morgen wird der Sozialdemokrat Martin Schulz mit großer Wahrscheinlichkeit zum neuen Präsidenten des Europaparlaments gewählt. Er soll frischen Wind nach Brüssel und Straßburg bringen. Schließlich haben mit der Eurokrise die Versuche mancher Staatsregierung zugenommen, das Europäische Parlament zu umgehen.

Von Alois Berger | 16.01.2012
    "In Europa geschieht alles hinter verschlossenen Türen. Der Rat tagt da hinter verschlossenen Türen. Die Kommission tagt hinter verschlossenen Türen, und der Ort, an dem die Auseinandersetzung um die Zukunft Europas sichtbar wird, ist das Europäische Parlament. Der Ort, an dem sich die Großen verantworten müssen für das, was sie auf der europäischen Ebene tun, das muss das Europäische Parlament sein. Der Ort, an dem es richtig - ich sage das mal ganz salopp - kracht, wo gestritten wird um den gemeinsamen Weg, das muss das Europäische Parlament sein. Das ist mein Ziel, das sichtbar zu machen."

    Martin Schulz sitzt seit knapp 18 Jahren im Europaparlament. Seit 2004 ist er Fraktionschef der Sozialdemokraten und Sozialisten. Morgen wird er, wenn nicht noch etwas Dramatisches passiert, zum Präsidenten des Europaparlaments gewählt werden. Martin Schulz ist ein glänzender Redner, ein vehementer Kämpfer für ein starkes Europa. Als Fraktionschef war Schulz nie zimperlich. Seine wortgewandten Angriffe gegen Liberale und Konservative touchierten gelegentlich die Grenze zur Beleidigung. In ruhigen Zeiten sucht sich das Europäische Parlament gerne einen Präsidenten mit ausgleichendem Charakter, jemanden, der eher schlichtet als provoziert. Dass jetzt Martin Schulz zum Präsidenten des Europaparlaments gewählt wird, voraussichtlich auch noch mit einer großen Mehrheit, das sagt viel über das Parlament aus, und auch darüber, wie sich die Abgeordneten derzeit fühlen.

    Die Schuldenkrise und die Unsicherheit um den Euro schlagen auf die Stimmung in Straßburg und Brüssel. Noch mehr aber irritiert die Parlamentarier das Krisenmanagement der Regierungschefs. Das Europäische Parlament werde mit dem neuen Fiskalpakt an den Rand gedrängt, fürchtet etwa der Vorsitzende der christdemokratisch-konservativen Fraktion im Europaparlament, der Elsässer Joseph Daul: Die europäische Demokratie werde ausgehöhlt. Selbst der Konservative Daul hofft deshalb auf den Sozialdemokraten Martin Schulz:

    "Das ist schon ein Streiter, und das ist gut für das Parlament. Das Parlament muss anerkannt sein. Und Schulz wird das Parlament gut verteidigen. Davon bin ich überzeugt. Es sind Momente, wo man fest auf den Tisch hauen muss und andere Momente, wo man wieder am Tisch sitzen und eine Lösung finden muss. Jetzt natürlich muss er stramm sein."

    Dass Christdemokraten und Konservative im Europaparlament einen Sozialdemokraten wählen, ist an sich nicht ungewöhnlich. Es ist sogar die Regel, dass die beiden großen Parteien abwechselnd ihre jeweiligen Kandidaten für das höchste Amt im Hohen Haus unterstützen. Vor zweieinhalb Jahren wurde der polnische Liberal-Konservative Jerzy Buzek mit fast vier Fünftel der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Diesmal kann der Sozialdemokrat Schulz mit einer ähnlichen Mehrheit rechnen. Solche parteiübergreifenden Absprachen machen es aber nicht gerade einfach, das Europaparlament zu verstehen. Auch Joseph Daul, der Vorsitzende der konservativen europäischen Volkspartei EVP, erkennt das Problem:

    "In Deutschland weiß man, was große Koalition heißen soll. Aber in Frankreich ist das noch viel schlimmer. Niemand kann verstehen, dass die Rechte, die EVP, mit den Sozialisten arbeitet. Das ist sehr schwierig für uns, in Frankreich das auf den Tisch zu legen."

    Doch das Europäische Parlament funktioniert nun einmal anders als die meisten nationalen Parlamente. Da es keine europäische Regierung gibt, die vom Europaparlament gewählt wird, gibt es auch keine klare Opposition. Vielmehr verstehen sich die Parteien im Europaparlament in den meisten Fällen als gemeinsamer Gegenpart zum anderen Gesetzgeber, dem Ministerrat, in dem die Regierungen vertreten sind.

    Im Sitzungssaal A5E1 im fünften Stock des Brüsseler Parlamentsgebäudes trägt der grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht die Stellungnahme des Rechtsausschusses zu einem Gesetzentwurf der Europäischen Kommission vor. Das Recht auf anwaltlichen Beistand soll europaweit verankert werden. Bislang laufen Bundesbürger, beispielsweise in Frankreich, Gefahr, von der Polizei festgenommen zu werden, ohne dass sie einen Rechtsanwalt um Beistand bitten können. Das soll nun anders werden, und deshalb hat die EU-Kommission eine Gesetzesvorlage geschrieben, die Mindeststandards für alle EU-Länder vorsieht. Jan Philipp Albrecht hat den Entwurf für das Europaparlament bearbeitet, jetzt will er ihn mit Fachleuten diskutieren.

    Rund 50 Beamte, Rechtsanwälte und Richter aus den Mitgliedsländern sitzen im Saal A5E1, die meisten in dunklen Anzügen oder dunklen Kostümen. Dazwischen der junge grüne Abgeordnete Albrecht in Jeans, brauner Cordjacke und grasgrünem Schal unterm Kinnbart, mit dem er seine norddeutsche Herkunft unterstreicht.

    "Hier im Europäischen Parlament arbeiten die Experten aller Fraktionen gemeinsam an einem Vorhaben. Und da kann beispielsweise auch ein Grüner einen Bericht verfassen, der dann einstimmig von allen Parteien angenommen wird, und der dann maßgeblich für die Gesetzgebung ist."

    An sich ist der Bericht im Europaparlament bereits durch, im Rechtsausschuss haben alle Parteien zugestimmt. Jetzt geht es darum, mit den Anwälten und Richtern die Feinheiten zu besprechen, um Fehler zu vermeiden.

    Die von Jan Philipp Albrecht organisierte Expertenanhörung ist eine von vielen im Europaparlament. Jeden Tag finden in den unzähligen Sälen des Europaparlaments Dutzende von Ausschusssitzungen, Debatten und Fachdiskussionen statt. Verbraucherschutz, Umweltschutz, Rechtsschutz – das Europäische Parlament arbeitet an vielen Projekten gleichzeitig, damit das Zusammenwachsen Europas möglichst wenig Probleme aufwirft. Es ist nur so, dass das in den Mitgliedsländern kaum jemand mitbekommt. Selbst die in Brüssel akkreditierten Journalisten interessieren sich meistens nur für die wenigen großen Themen: Euro, Finanzen, Wirtschaft, Flüchtlinge. Das ist schon in normalen Zeiten so. In den letzten Monaten war es extrem.

    "Die Stimmung ist schon so, dass man sich hier ein bisschen Sorgen macht, ob die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger in Europa für die europäische Gesetzgebung noch da ist, wenn gerade die Europa-Aufmerksamkeit vor allem auf der Eurokrise lastet und damit eigentlich viele Gesetzgebungsvorhaben, die ganz wichtig und für die Bürger sehr relevant sind, gar nicht wahrgenommen werden in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten."

    Zehn Stockwerke höher, im Büro 15 G 217, kaut der italienische Sozialdemokrat Roberto Gualtieri nervös an seinen Nägeln. Gualtieri brütet über der Frage, wie das Europäische Parlament in der gegenwärtigen Krise einen weiteren Verlust an Einfluss vermeiden kann. Der Italiener ist einer von drei Abgeordneten, die für das Europaparlament an den Verhandlungen der Regierungen über den neuen Fiskalpakt teilnehmen. Dieser Vertrag soll den Euro-Stabilitätspakt ergänzen und verschärfen, damit vor allem die Euro-Länder sich künftig auch wirklich an die verordnete strikte Haushaltsdisziplin halten.

    Doch anders als der Stabilitätspakt wird der neue Zusatzvertrag nicht für alle EU-Staaten gelten. Die britische Regierung hat beim letzten EU-Gipfel klar gemacht, dass sie nicht mitmachen will. Dabei hat London gegen eine Verschärfung des Stabilitätspaktes gar nichts einzuwenden. Der britischen Regierung geht es vielmehr ums Prinzip: Sie möchte keine engere Zusammenarbeit mit den Euro-Ländern - und schon gar keine Fiskalunion, die irgendwann zu schärferen Bankengesetzen für die Londoner Finanzwelt führen könnte. Der britische Regierungschef David Cameron machte klar, dass er eine engere finanzpolitische Zusammenarbeit der EU-Länder selbst dann behindern werde, wenn sein Land von den Beschlüssen gar nicht betroffen sei.

    Auf dem EU-Gipfel im Dezember haben die Staats- und Regierungschefs deshalb beschlossen, den Stabilitätsvertrag ohne Großbritannien auf den Weg zu bringen, als zwischenstaatlichen Vertrag der Eurostaaten und aller EU-Länder, die mitmachen wollen - 24 sind es derzeit. Das Problem ist nur, dass bei solchen intergouvernementalen Abkommen weder die EU-Kommission noch das Europaparlament mitreden können. Viele Europaabgeordnete glauben sogar, dass einige Regierungen die zwischenstaatliche Konstruktion keineswegs nur wegen des britischen Widerstands gewählt haben. Von der französischen Regierung etwa ist bekannt, dass sie das Europäische Parlament häufig als Störfaktor empfindet. Auch die deutsche Regierung habe sich von der Umgehung des Europaparlaments offenbar innenpolitische Vorteile versprochen, glaubt der italienische Sozialdemokrat Roberto Gualtieri:

    "Ein intergouvernementaler Vertrag ist ein Vertrag zwischen Regierungen außerhalb der Prozeduren und der Regeln der Europäischen Union und ohne eine echte Beteiligung des Europäischen Parlamentes, also der Vertreter der europäischen Bürger. Gleichzeitig sind die nationalen Parlamente weitgehend an das gebunden, was ihre Regierungen ausgehandelt haben. Das bedeutet, dass die repräsentative Demokratie kaum Einfluss hat auf die Beschlüsse, weil weder die nationalen Parlamente noch das Europaparlament an dem Vertrag wirklich mitwirken. Deshalb mögen wir diese zwischenstaatlichen Lösungen nicht. "

    Der Europaabgeordnete Roberto Gualtieri beobachtet seit einiger Zeit mit wachsendem Unbehagen, dass die Regierungschefs immer öfter versuchen, das Europaparlament zu umgehen. Mit der Eurokrise habe sich dieser Trend verschärft, meint er. Immerhin hat das EU-Parlament erreicht, dass drei seiner Abgeordneten bei den Verhandlungen über den Fiskalpakt dabei sein dürfen. Doch wenn der Sozialist Gualtieri zusammen mit dem deutschen Christdemokraten Elmar Brok und dem belgischen Liberalen Guy Verhofstadt am Verhandlungstisch der Regierungen sitzt, dann darf er zwar reden, aber die Entscheidungen treffen am Ende allein die Regierungen.

    Der jüngste Entwurf des Euro-Zusatzvertrages hat fast alle Befürchtungen Gualtieris bestätigt. Nicht nur, dass das Parlament bei der Fortentwicklung des Euro kaum noch eine Rolle spielen soll; schlimmer ist aus Sicht der Parlamentarier, dass die Euro-Regierungsrunde die bestehenden Vorschriften zur Haushaltsdisziplin kaum wirklich verschärft. Da erscheint es umso absurder, dass einige Finanzminister ihre Vorbehalte gegen eine stärkere Beteiligung des Europaparlaments gerne mit ihrer Sorge begründen, die Abgeordneten könnten die Beschlüsse verwässern.

    Doch nun zeigt sich, dass sich die Finanzminister selbst viel mehr im Weg stehen. Der aktuelle Vertragsentwurf zum Fiskalpakt fällt in einigen Punkten sogar hinter das zurück, was in der EU bereits Gesetz ist. Das ist nicht verwunderlich, denn im Gegensatz zu EU-Gesetzen können zwischenstaatliche Verträge nur einstimmig beschlossen werden. Es sei zudem völlig unklar, schimpft der italienische Sozialdemokrat Gualtieri, wie dieser Fiskalpakt durchgesetzt werden soll.

    "Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union haben viel mehr Gewicht als ein zwischenstaatlicher Vertrag. Denn es ist sehr schwierig, beispielsweise Sanktionen zu verhängen, wenn so ein intergouvernementaler Vertrag verletzt wird. Denn dafür gibt es keine Einrichtungen, die das tun könnten, und die EU-Einrichtungen können wir nicht zwingen, das zu übernehmen. Deshalb ist die ganze Logik der zwischenstaatlichen Abmachungen falsch. Wir werden das nie unterstützen, aber wir werden auch nicht gefragt, und deshalb versuchen wir, den Schaden zu begrenzen."

    Den Schaden begrenzen, damit meint Gualtieri vor allem, dass er zusammen mit seinen Abgeordnetenkollegen Brok und Verhofstadt verhindern will, dass es zu Widersprüchen zwischen regulären EU-Gesetzen und den Bestimmungen des neuen Fiskalpakts kommt, dass es zu unterschiedlichen Regelungen zum selben Sachverhalt im EU-Recht und im zwischenstaatlichem Vertrag kommt und am Ende niemand mehr weiß, was denn nun gilt.

    Bereits im September vergangenen Jahres hat das Europäische Parlament gemeinsam mit dem Ministerrat, also der Vertretung der Regierungen, ein Gesetzespaket zur besseren gegenseitigen Kontrolle der Haushaltsdisziplin beschlossen, das sogenannte Sixpack. Die Frühwarnsysteme wurden verstärkt, ebenso die Möglichkeiten der EU-Kommission, überschuldeten Staaten in die Bücher zu schauen. Auch Sanktionen gegen Defizitsünder sind seitdem einfacher zu verhängen und können nicht mehr so leicht abgewendet werden wie bisher.

    Einige der Bestimmungen aus diesem Gesetzespaket finden sich nun in leicht veränderter Fassung im neuen Fiskalpakt wieder. Nicht nur der Sozialdemokrat Gualtieri kritisiert, dass es besser gewesen wäre, die bestehenden EU-Gesetze zu verschärfen als einen zusätzlichen Fiskalpakt auszuhandeln, der nirgends so recht hin passt. Solche Doppelgesetzgebung untergrabe die Autorität der gesamten Europäischen Union, fürchtet die Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Europaparlament, Sharon Bowles.

    "Es ist verwirrend, wenn in dem neuen Vertrag jetzt Dinge stehen, die wir in ganz ähnlicher Form schon als normale Gesetze verabschiedet haben. Wenn die Bestimmungen des neuen Vertrages weiter gehen, als das, was wir beschlossen haben, dann ist das in Ordnung. Aber wenn die neuen Abmachungen hinter den EU-Gesetzen zurückbleiben und unsere Bemühungen verwässern, dann werden wir da sehr genau aufpassen und notfalls vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um klar zu machen, dass wir nicht zulassen, dass die Regierungen unsere Rolle untergraben."

    Sharon Bowles ist Abgeordnete der britischen Liberalen. Dass ausgerechnet eine Engländerin den wichtigen Wirtschafts- und Währungsausschuss leitet, halten manche im Parlament noch immer für eine schlechte Idee. Aber Bowles hat sich Respekt verschafft, auch weil sie nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass sie den Anti-Euro-Kurs der britischen Regierung für fundamental falsch hält. Bowles ist eine vehemente und resolute Europäerin. Im Gegensatz zum italienischen Sozialdemokraten Gualtieri findet die englische Europaabgeordnete selbst den Fiskalpakt im Prinzip in Ordnung, allein schon, weil er den Finanzmärkten eine gewisse europäische Entschlossenheit signalisiere. Die im Fiskalpakt verankerte Schuldenbremse beispielsweise sei wichtig und gut und aus ihrer Sicht in einem zwischenstaatlichen Vertrag gut aufgehoben. Doch die Regierungen hätten den Vertrag schlanker halten müssen, kritisiert die Liberale: Das meiste wäre mit normalen EU-Gesetzen besser und wirksamer zu regeln gewesen.

    Aber das lässt sich vermutlich nicht mehr ändern. Die Regierungen wollen die Verhandlungen möglichst kurz halten und den Fiskalpakt schnell durchbringen. Statt im März, wie ursprünglich geplant, sollen die Gespräche bereits Ende Januar abgeschlossen sein. Spätestens in zehn Wochen soll der Vertrag dann unterschrieben werden, um die Märkte weiter zu beruhigen.

    Im Europaparlament hoffen viele, dass der Fiskalpakt irgendwann in den nächsten Jahren in das reguläre Gemeinschaftsrecht der 27 überführt wird. So wie beispielsweise der Vertrag von Schengen über den Wegfall der Grenzen inzwischen integraler Teil des gemeinsamen EU-Rechts ist. Schengen war anfangs auch nur ein zwischenstaatlicher Vertrag einiger Mitgliedsstaaten. Vor allem Großbritannien und Dänemark wollten von einem Abbau der Grenzen lange Zeit nichts wissen. Doch über die Jahre bröckelte der Widerstand, und London wie Kopenhagen ließen schließlich zu, dass der Vertrag von Schengen ins Gemeinschaftsrecht überführt wurde. Seitdem kümmert sich die EU-Kommission um die Umsetzung der Schengen-Bestimmungen und auch das Europaparlament redet mit.

    Eine solche Entwicklung ist auch für den Fiskalpakt denkbar. Vorausgesetzt, das Europäische Parlament findet Wege, die Regierungen ausreichend unter Druck zu setzen. Denn nur durch ständigen Druck auf die Regierungen hat es das Europäische Parlament geschafft, von der machtlosen Schwatzbude zum gleichberechtigten Gesetzgeber aufzusteigen. Mehr als 20 Jahre lang bestimmten die Regierungen allein, was in der Europäischen Gemeinschaft passiert. Als dann 1979 das erste gewählte Europaparlament zusammentrat, durften die Abgeordneten nur beraten, aber nichts entscheiden, wie sich der damalige CSU-Abgeordnete Ingo Friedrich erinnert:

    "Wir mussten nur angehört werden, wenn die Kommission irgendetwas machen wollte oder der Ministerrat. Und dann, so nach zwei Jahren, ist uns folgender Trick eingefallen, dass wir gesagt haben, wir beraten gar nicht, selbst, wenn wir gefragt werden, dann antworten wir nicht. Und dann konnten wir mit diesem Trick sozusagen die Gesetzgebung aufhalten und ein Stück weit beeinflussen."

    Der Ministerrat sah sich plötzlich gezwungen, mit diesem Parlament zu verhandeln. Die mächtigen Minister aus den Hauptstädten mussten die Vorschläge des Europäischen Parlamentes nicht mehr nur zur Kenntnis sondern auch ernst nehmen.

    Später zwang das Parlament zum ersten Mal eine ganze EU-Kommission zum Rücktritt. Auch das stand in keinem Vertrag. Aber bei der nächsten Vertragsänderung wurde dieses Recht dann festgeschrieben. In 30 Jahren hat sich das Europaparlament auf diese Weise seine Macht erkämpft. Heute sind die Abgeordneten in fast allen Bereichen gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Ministerrat, der Kammer der Regierungen.

    Doch das Image, ein demokratisches Feigenblatt der Europäischen Union zu sein, ohne Macht, dieses Image klebt noch immer wie Pech an diesem Europaparlament. Auch deshalb reagieren viele Abgeordnete so heftig, wenn sie nun das Gefühl haben, dass die EU-Regierungen den Einfluss des Parlaments wieder zurückdrängen wollen. Und deshalb hoffen viele auf Martin Schulz, einen Parlamentspräsidenten, der den Regierungen regelmäßig die Leviten zu lesen verspricht.