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Neuer Roman von Lukas Bärfuss
Expedition in das Innere der menschlichen Seele

In seinem dritten Roman "Koala" verhandelt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss die - so Camus - "Grundfrage der Philosophie": den Selbstmord. Bärfuss versucht, die durch den Selbsttod ausgelöste existenzielle Krise des Protagonisten in Bilder zu fassen und damit nicht Verstehbares erlebbar zu machen.

Von Michaela Schmitz | 30.04.2014
    Nichts ist verlässlicher als der Tod, nichts schockierender als das eigene Ende. Und doch tun wir jeden Tag so, als ob es den Tod nicht gäbe. Unser Mantra gegen die eigene Endlichkeit ist das rastlose Tätigsein. Arbeit heißt der oberste Glaubenssatz unserer Religion. Mit unstillbarem Ehrgeiz und maßlosem Begehren arbeiten wir ohne Pause an der individuellen Erlösung durch aktives Vergessen. Der Preis ist Einsamkeit. Arbeit als tägliche Kampfansage gegen den Tod macht uns schließlich zu dem, was das Wort seinem Ursprung nach bedeutet: einem "zu schwerer mühseliger Tätigkeit verdingten verwaisten Kind".
    Wer umgekehrt aber nichts für sich selbst begehrt, jeden Ehrgeiz fallen lässt und das Arbeiten einstellt, der gilt für das Leben als verloren. Sein sozialer Tod ist die logische Konsequenz, seine Arbeitsverweigerung gesellschaftlicher Selbstmord. Der Freitod des eigenen Bruders ist für den Erzähler von Lukas Bärfuss' Roman "Koala" daher nur folgerichtig.
    "Er lehnte die Arbeit ab, die Anstrengung, und verfolgte niemals ein Ziel. Er nahm, was ihm zufiel. (...) Er legte nichts zur Seite. Er besaß keinen Fleiß, er arbeitete nicht, er hing herum und ließ die Zeit verstreichen. Nicht, dass er diesen Tod verdient hatte - aber er war die logische Folge seines Verhaltens."
    Der Bruder als Alter Ego
    Dennoch: Der Selbstmord des Bruders stellt den Erzähler selbst radikal infrage. Der Tote wird zu seinem ständigen Begleiter. Doch er findet keine Antwort darauf, wer er wirklich war. Er versucht, sich seinen Tod vorzustellen. Und imaginiert die ihm unbekannte Wohnung, in dessen Bad man den Bruder gefunden hat - stattdessen findet er sich in seinen eigenen vier Wänden wieder. Der Bruder ist sein Alter Ego. Schlüsselfigur ihrer Seelenverwandtschaft ist der Dichter Heinrich von Kleist. Dessen inszenierter Freitod 200 Jahre zuvor war Anlass eines Vortrags im gemeinsamen Heimatort am See in den Bergen gewesen. Damals hatte der Schriftsteller seinen Bruder das letzte Mal gesehen. Er war ihm fremd geblieben wie seit jeher. Vergeblich versucht er nun, sich an den Lebenden zu erinnern. Doch er findet nur einen Toten: Seine Erinnerung zeigt ihm einen hinfälligen Kranken.
    "Ich sah (...) erneut die Wunden, (...) als ich auf seinen blanken Schienbeinen münzengroße eiternde Löcher entdeckte, Folge des Heroins, dem er einige Jahre zugesprochen hatte (...). Ich schwankte zwischen Ekel und Mitleid für den Kranken, der in meiner Vorstellung lag wie die Leiche Christi auf dem Bildnis von Holbein (...)."
    Nicht nur die Wundmale, sondern auch die Verweigerung aller irdischen Besitztümer sowie das Einverständnis in den eigenen Tod hat er mit dem christlichen Friedensstifter gemein. Immer mehr überlagern sich die miteinander kommunizierenden Bedeutungsebenen zur universalen Passionsfigur.
    Schweigen begegnet dem Schriftsteller, wo auch immer er den Freitod seines Bruders zur Sprache bringt. Die wenigen Freunde des Bruders reagieren wie alle vom Selbstmord Betroffenen: mit Verstörung und Sprachlosigkeit. Ihr Schweigen spiegelt den unauflösbaren Zwiespalt des Bewusstseins: Wie gewohnt seinem Tagwerk nachzugehen, obwohl man um das eigene Ende weiß. Der Selbstmörder hat die Arbeit verweigert; endgültig und ohne Widerruf. Das ist es, was man ihm nicht verzeiht.
    "Koala" hatten die Pfadfinder den Bruder genannt. Der australische Beutelbär gilt als Inbegriff der Faulheit und Trägheit. Der Totem des Bruders ist eine Kreatur, die es eigentlich gar nicht geben dürfte: Ein vorzeitliches Tier, das scheinbar jenseits evolutionärer Auslese und abseits vom naturgeschichtlichen Überlebenskampf Jahrmillionen überdauert konnte.
    "Sieben Milliarden Tage und sieben Milliarden Nächte wechselten sich ab, einer war wie der andere. (...) Es gab nichts zu verteidigen. Das Tier schmiegte sich in die Jahrtausende, schlief und äste, äste und schlief, es hielt Schritt mit dem Wachsen der Bäume - das war seine Geschwindigkeit, ohne Ehrgeiz und ohne Idee, wie es etwas zu seinen Gunsten verändern könnte. Das Tier begehrte nichts, als von seinem Ast in die Wälder zu blicken und den Geist ruhen zu lassen. (...) Bis die ersten Jäger kamen."
    Keine Versöhnung, kein Zurück
    Mit den Menschen kommt der Tod. Doch erst mit den Soldaten und Verbannten der neuen britischen Strafkolonie beginnt der Überlebenskampf. Der Koala gilt als unnütz und nicht lebenswert. Die neuen Siedler betreiben seine Ausrottung mit System. Bis kurz vor seiner kompletten Vernichtung wird der Koala gejagt. Der Beutelbär ist ein lebender Widerspruch. Als mythischer Totem innerhalb der Traumzeitschöpfung der Aborigines steht er für die verloren gegangene Einheit von Mensch und Natur. Erst mit der sogenannten Zivilisation halten Angst, Tod und Zerstörung Einzug. Der animistische Mythos wird gewaltsam vom rationalen Fortschrittsglauben verdrängt. Leben wird zum rastlosen Wettkampf gegen das Sterben, Verharren bedeutet Tod. Genau dafür stehen die urzeitliche Wildnis Australiens und sein mythisches Symbol, der Koala.
    "Faulheit war nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden. (...) Was den Menschen ausmachte, war sein Ehrgeiz, das unausgesetzte Streben (...). Er hatte die Angst in die Welt gebracht, sie war seine Erfindung, sein Beitrag zur Naturgeschichte (...). Das Wissen um die unvermeidliche Vernichtung versetzte den Menschen in Schrecken, und er würde diesen Schrecken niemals beherrschen. (...) Der Mensch konnte wählen, ja, er war ein freies Wesen. Er konnte wählen zwischen der Angst und dem Tod."
    Der Bruder hat sich entschieden. Er hat den Tod gewählt. Und lässt die Lebenden im inneren Zwiespalt zurück. Tief verstört und im Bewusstsein, mit diesem Widerspruch von nun an weiterleben zu müssen. Es gibt keine Versöhnung, es gibt kein Zurück. Das ist die Botschaft von Lukas Bärfuss' "Koala". Wir können nur mit diesem inneren Widerspruch weiterleben oder sterben. Was bleibt, ist, den Bewusstseinszwiespalt zur Sprache zu bringen, die Leere mit Worten zu füllen. Genau das ist es, was der Erzähler am Ende des Buchs tut: Er beginnt zu schreiben.
    Lukas Bärfuss will in seinem Roman das Erkenntnisvakuum dieses Widerspruchs mit Imagination füllen. "Koala" ist der Versuch, die durch den Selbstmord ausgelöste existenzielle Krise in Bilder zu fassen und damit das nicht Verstehbare erlebbar zu machen.
    Verständnis der Grundfrage der menschlichen Existenz
    "Es gibt nur ein wirkliches ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie", schreibt Albert Camus in seinem philosophischen Essay "Der Mythos von Sisyphos". Lukas Bärfuss versteigt sich nicht dazu, dieses Problem in seinem Roman "Koala" zu lösen. Aber er setzt seine ganze Imagination ein, um die scheinbar abstrakte philosophische Frage für jeden Leser akut werden zu lassen: mit lebendigen Dioramen der Naturgeschichte und Besiedlung Australiens und seines Nationalsymbols, des Koalas. Manch einem mag die Verknüpfung mit dem Land auf der anderen Seite der Welt zu weit hergeholt sein. Aber kaum einer mag sich wohl der Faszination entziehen, die von dieser Expedition in die innere Landschaft der menschlichen Seele ausgeht. Genau das ist die Stärke von Lukas Bärfuss' neuem Roman. In "Koala" findet er über eine fremde Welt zu einer neuen Sicht auf das allzu Vertraute und vielleicht auch zu einem tieferen emotionalen Verständnis der Grundfrage menschlicher Existenz.
    Lukas Bärfuss: Koala, Roman. Wallstein Verlag. 184 Seiten, 19,90 Euro.