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Neuer Sander-Roman
Belanglose Detailschärfe

In Gregor Sanders Roman "Was gewesen wäre" geht es um eine Frau, die im Urlaub ihre alte Liebe aus DDR-Zeiten wieder trifft. Eine Geschichte, so langweilig, dass dem Autor Zeit bleibt, gar die Konsistenz eines Knödels detailreich zu beschreiben.

Von Gisa Funck | 04.03.2014
    'Paul und Astrid fahren in den ersten Stock des Hotels und machen sich auf die Suche nach dem Restaurant. (...) Ein großer Raum mit weiß gedeckten Tischen. (...) Um ein Klavier lungern fünf Gestalten in schlecht sitzenden Anzügen. (...)"Die sehen aus wie in einem Kusturica-Film", hört Astrid Paul begeistert sagen, und das ist das Letzte, was sie hört, denn dann sieht sie Julius in einer der Nischen am Fenster sitzen. (...) Julius sieht aus wie immer, ganz gleich, nur älter. Ein Geist in einem hellgrauen Hemd. Und Astrid denkt: "Nein, nicht hier. Das kann nicht sein."'
    Budapest, das berühmte Gellert-Hotel und ein unverhofftes Wiedersehen mit den Schatten der eigenen Vergangenheit: So beginnt Gregor Sanders neuer Roman Was gewesen wäre. Heldin Astrid, eine Kardiologin Mitte 40 und alleinerziehende Mutter, verbringt im Hotel einen Kurzurlaub mit ihrem neuen Freund Paul. Da entdeckt sie im Speisesaal zufällig Julius, ihre erste Liebe, damals mit 17 und noch zu DDR-Zeiten. Das ist alles zwar schon mehr als 25 Jahre her. Aber Astrid ist trotzdem konsterniert, weil sie Julius nie ganz vergessen konnte. Oder, wie Autor Gregor Sander erklärt:
    "Ich glaube, diese erste große Liebe, die ist nie so richtig vorbei, bei fast keinem. Ich kenne das von mir selbst und auch von anderen Menschen, dass sie denjenigen nach 20, 30 Jahren auf irgendeinem Abiturtreffen wiedergesehen haben und immer noch merkwürdige Gefühle füreinander haben, obwohl das alles längst vorbei ist. Das liegt an diesem ersten, tiefen, großen Eindruck, den man da eben hat. Wenn man jung ist und so verliebt."
    Für Astrid, die mit ihrem Schöpfer Gregor Sander nicht nur das Geburtsjahr 1968 sondern auch ein Krankenpfleger-Praktikum und ein Medizinstudium teilt, wird die Zufallsbegegnung mit Julius zum Erinnerungsauslöser. Plötzlich steht ihr wieder ihre Jugend in der ostdeutschen Provinz der 80er Jahre vor Augen: angefangen bei der ersten Begegnung mit Julius auf einem Sommerfest bis hin zur Trennung noch vor dem Mauerfall. Und Sander, der sich als Erzähler melancholischer Kurzgeschichten profiliert hat, wählt für diese Rückblicke eine durchaus interessante Konstruktion: Auf jedes Kapitel des Budapest-Urlaubs folgt nämlich eine Erzählung aus Astrids Vergangenheit, sodass ihr DDR-Leben mit ihrer heutigen Existenz in Kontrast gesetzt wird:
    "Es ist genau Hälfte Hälfte. Also ich erzähle die Hälfte des Romans aus der Ich-Perspektive der Astrid. Das hat sich im Laufe der Konstruktion der Geschichte einfach so ergeben. Ich will auch nicht verhehlen, dass es für mich natürlich auch ein Abenteuer war und ein Wagnis, aus der Sicht einer Frau zu erzählen, zumindest den halben Roman. Da braucht man ein bisschen Mut und den habe ich gesammelt und gefunden - und ich hoffe, es ist gelungen."
    Leidenschaftslose Anti-Heldin
    Dass Sander die Hälfte seines Romans aus der Sicht einer jungen Frau erzählt, ist nicht weiter problematisch. Deutlich problematischer dagegen wirkt, dass der bewährte Schöpfer von Anti-Helden diesmal mit seiner Herzspezialistin Astrid eine Hauptfigur präsentiert, die sich merkwürdig leidenschaftslos und indifferent verhält. Schon Astrids erste angeblich große Liebe zu Julius entpuppt sich bei etwas genauerer Betrachtung als keineswegs besonders tragisch oder außergewöhnlich. War der jugendliche Julius doch einfach nur ein typischer Hallodri, der Astrid schnell sitzenließ. Und als es ihm nach Jahren dann doch nochmal ernst wurde, ließ wiederum Astrid ihn abblitzen. Eher Geplänkel also als große Liebe. Auch sonst scheint Sanders Heldin nicht allzu viel Herzpochen zu entwickeln. Den Vater ihrer beiden Kinder, einen Kommilitonen aus dem Medizinstudium, heiratet sie, obwohl er ihr unterkühlt vorkommt. Zum SED-Regime pflegt sie ebenfalls ein flaues Nicht-Verhältnis. Während sich ihre engsten Freunde zunehmend mit der Staatsmacht anlegen, geht Astrid weiter zu FDJ-Versammlungen und kommt brav vom Westurlaub aus Westberlin zurück. Ja, nicht einmal die Tatsache, dass sie von der Stasi überwacht wurde, scheint Sanders Heldin groß zu interessieren. Als sich nach dem Mauerfall die Gelegenheit zur Aussprache mit der Verräterin ergibt, winkt sie nach den ersten Worten ab:
    "Die Astrid will um Gottes Willen nicht mehr darüber reden. Weil für viele ist das auch vorbei! Es gibt eben zum Beispiel auch diese Ostalgie. Es gibt Leute, die sehr ostalgisch sind - und bei jedem DDR-Produkt einen wohligen Schauer bekommen. Und es gibt Leute, die sich überhaupt nicht mehr dafür interessieren, für die das wirklich einfach vorbei ist. Und Astrid will davon nichts mehr wissen. Weil es vielleicht auch mühsam ist, immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen."
    Nun ist zweifellos schon viel, sehr viel über die DDR gesagt und geschrieben worden, insbesondere über eine DDR-Jugend in den 80er Jahren. Jochen Schmidt, Thomas Brussig oder Jakob Hein etwa machten daraus Komödien. Das selbsternannte Zonenkind Jana Hensel beschwor lieber wehmütig die identitätsstiftende Kraft verschwundener DDR-Etiketten. Und Jens Bisky, Uwe Tellkamp oder Eugen Ruge kehrten wiederum gerade die düsteren Seiten der SED-Diktatur hervor. Das Thema DDR ist umkämpft und als Autor gerät man hier leicht unter Ideologie-Verdacht. Genau dieser Gefahr wollte Gregor Sander offenbar vorbeugen, indem er nun einen DDR-Roman ohne DDR-Diskussion geschrieben hat. Seine Heldin Astrid hat nämlich eigentlich gar keine Meinung zur DDR. Das mag eine verbreitete Verdrängungsstrategie vieler Ostdeutscher sein. Doch diese desinteressierte Haltung hat natürlich den entscheidenden, dramaturgischen Nachteil, dass Astrid dadurch auch automatisch zur mediokren Durchschnittsexistenz schrumpft, ohne dass ihre Trägheit psychologisch genauer ausgeleuchtet wird.
    Langeweile lang erzählt
    Oder anders gesagt: Astrid verkörpert letztlich jenen stinknormal-behäbigen Mitläufertypus, der nie klar Partei ergreift, nie wirklich etwas riskiert und darum auch keine echten Konflikte oder Verluste kennt. Lauwarm laviert sie sich durchs Leben. Kein Wunder, dass sie – um ein bisschen mehr Lebensdrama vorweisen zu können – eigentlich eher banale Erlebnisse gern zum Spektakel hochstilisiert. Das gilt nicht nur für ihre Jugendliebe Julius, sondern auch für ihren Budapest-Urlaub mit Freund Paul. Auch der nämlich verläuft eigentlich ziemlich piefig. So piefig, dass sogar eine Haarspülung, der Kauf eines neuen Bikinis oder der obligatorische Touri-Besuch der Fischerbastei hier noch ausführlich Erwähnung finden. Sowie viele Cappuccinos und mehrere Mahlzeiten des Paares:
    "Als der Kellner kam und Astrid die Speisekarte reichte, lächelte sie ihm höflich zu und sagte: 'Guten Abend'. Sie bestellte ein Wiener Schnitzel und ein Glas Zweigelt, und mit jedem Bissen, den sie nahm, und mit jedem Schluck, den sie trank, schien sie sich zu beruhigen. Paul hatte natürlich Pörkhölt bestellt und natürlich einen ungarischen Rotwein dazu, der ziemlich fad schmeckte, aber das sagte er nicht. Er sagte immer noch überhaupt nichts, sondern freute sich, dass die Kalbfleischstücke so mürbe waren, dass er sie mit der Gabel zerteilen konnte, und die Klöße diese Zwischenstufe zwischen Brot und Kartoffel hatten, die er schon als Kind gemocht hatte."
    Zugegeben: Es ist, zumal in post-ideologischen Zeiten, nicht leicht, fesselnd vom sogenannten 'Normalleben' zu erzählen. Doch wenn man wie Sander bewusst auf Einordnung und Wertung verzichtet, sollte die Geschichte umso eindrücklicher oder irgendwie ungewöhnlich geschrieben sein. Stattdessen oft einfach nur den Alltag übergenau und quasi mit Worten abzufilmen, kann nicht wirklich eine literarische Lösung sein. Denn, wenn von der Begrüßung des Kellners bis zur exakten Konsistenz von Kartoffelklößen wirklich jede Nebensächlichkeit aufgelistet wird, wird Triviales nicht nur unnötig mit Bedeutung aufgeladen. Dann bleibt einem vor lauter Detailgenauigkeit als Leser auch kaum noch Platz für die eigene Fantasie.
    Gregor Sander: Was gewesen wäre. Wallstein Verlag, 248 Seiten, 19.90 Euro.