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Neues Buch von Daniel-Pascal Zorn
Schillernde Gewalt

Gewalt versteckt sich, macht ein Geheimnis aus sich und scheint trotzdem omnipräsent. In "Das Geheimnis der Gewalt" nähert sich Daniel-Pascal Zorn dem facettenreichen Thema. Sein philosophischer Essayband glänzt besonders durch seinen literarischen Charakter.

Von Martin Becker | 23.01.2020
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Der 1981 geborene Philosoph und Publizst Daniel-Pascal Zorn wurde auch als Mitautor des vieldiskutierten Buchs "Mit Rechten reden" bekannt. (Deutschlandradio / David Kohlruss)
Dass Gewalt existiert, ist kein Geheimnis. Aber inwiefern kann ein Geheimnis an sich gewaltvoll sein? Und wann nutzt die Gewalt das Geheimnis, um sich selbst zu verbergen? Daniel-Pascal Zorn sucht vor allem nach subtilen, nach versteckten Formen von Gewalt in der Weltgeschichte wie im Alltag - fündig wird er fast überall. "Warum wir ihr nicht entkommen & was wir trotzdem dagegen tun können", lautet der allzu reißerische Untertitel von "Das Geheimnis der Gewalt".
Denn der Autor erweist sich in erster Linie als präziser Beobachter, der keine philosophischen Ratgebersätze für den praktischen Umgang mit Gewalt formuliert. Auch versucht sich Daniel-Pascal Zorn auf knapp zweihundert Seiten nicht an einer vollständigen Darstellung von Geheimnis, Gewalt und deren verhängnisvoller Wechselwirkung. Stattdessen wählt er, im besten Sinne, die freie Form des Philosophierens. Inhaltlich sehr unterschiedlich sind die Texte, in denen sich der Autor in das "Spiegelkabinett von Gewalt und Geheimnis" begibt:
"In diesem Spiegelkabinett erscheint die Gewalt als Ereignis, als Einbruch in die Normalität, ohne ihren Ursprung preiszugeben, und die Normalität scheint als eine Form der Gewalt auf, die sich verbirgt, indem sie sich als etwas anderes ausgibt. Im Spiegel dieses Kabinetts scheint das Geheimnis im Privaten und Persönlichen Gewaltfreiheit zu versprechen. Im Gegenspiegel desselben Kabinetts manipuliert das Gewaltinstrument des Geheimnisses die Verzweiflung der Menschen, beutet ihrer Sehnsucht aus und unterstützt ihr Streben nach Wissen und Macht."
Die Wechselwirkung von Geheimnis und Gewalt
Seine theoretischen Ausführungen unterfüttert der Autor häufig mit Szenen aus dem Alltagsleben. Wir stehen beim Bäcker in der Warteschlange und wollen ein Brot kaufen. Ein Teil dessen, was wir Normalität nennen. Schon dabei reicht wenig, um den gewohnten Ablauf zu beeinträchtigen: Jemand drängelt sich vor oder ist unhöflich - und arbeitet damit bereits unserer eigenen Sicherheit entgegen.
"Entsprechend erfahren wir Eingriffe in diese Normalität als Form der Gewalt. Unsere Erwartungen werden durchkreuzt, wenn sich jemand nicht so verhält, dass unser Alltag ungestört ablaufen kann. Weil unsere Normalität von so vielen Faktoren abhängig ist, von unseren stillen Erwartungen, vom reibungslosen Ablauf unseres Alltags - egal, auf welcher Seite der Theke, der Kasse oder des Tresen wir uns gerade befinden -, von unserem Streben nach Sicherheit, Ruhe und ungestörtem Lebenswandel, ist diese Normalität extrem störanfällig."
Alltägliche Anstöße für philosophische Betrachtungen
Das banale Beispiel der Bäckerei dient als Anstoß zum Nachdenken über Normalität und Gewalt. Innerhalb weniger Sätze dreht Daniel-Pascal Zorn die Situation um: Sind nicht erst wir diejenigen, die mit unserer anfälligen Idee von Normalität automatisch die Anderen gewaltsam ins Abseits drängen, sie zu "Anormalen" erklären, über die wir uns mit Macht erheben? Reicht es nicht schon, in Aussehen, Herkunft oder sexueller Orientierung anders zu sein, um uns Unbehagen zu bereiten? Die Gewalt taucht bei Daniel-Pascal Zorn nie als simpler Sachverhalt auf. Ihre Darstellung ist so komplex wie ambivalent, ob im Privaten oder im Öffentlichen, ob körperlich oder kommunikativ: Gewalt wirkt omnipräsent.
"Die mögliche Allgegenwart der Gewalt (ver-)führt uns dazu, manche ihrer Formen vor uns und anderen zu verbergen, damit uns das Leben erträglicher erscheint. Und umgekehrt erscheint dieses Verbergen selbst als eine Form der Gewalt, die wir denen aufzwingen, die Erfahrungen mit derjenigen Gewalt machen, die wir nicht sehen wollen."
Ein assoziativer Versuch des Redens über Gewalt
Begriffe wie Kontrolle, Freiheit, Angst und Sicherheit ziehen sich wie ein roter Faden durch die Kapitel, doch ist "Das Geheimnis der Gewalt" in erster Linie ein assoziativer Versuch: Mal widmet sich Zorn den Comic- und Actionhelden Hollywoods und untersucht, wie das Gute und das Böse gewaltsam gegeneinander agieren. Dann setzt er uns unter der Überschrift "Fackeln der Freiheit" in einer Laborsituation vor den Fernseher und analysiert, welche Gewalt Werbung über uns hat, obwohl wir um deren Wirkung eigentlich wissen. An anderer Stelle umreißt er skizzenhaft eine kleine Weltgeschichte der Gewalt in wenigen Zeilen. Dass seine Erzählhaltung manchmal zu harschen Verknappungen führt, gibt Zorn unumwunden zu - beispielsweise, wenn er über die Entstehung der Aufklärung schreibt und den Dreißigjährigen Krieg dabei rasch abhandelt:
"Das ist natürlich bis zur Unkenntlichkeit der historischen Vorgänge verkürzt ausgedrückt."
Erzählerische Miniaturen
Der Autor empfiehlt im Vorwort eine "literarische Lektüre" seines Buchs. In der Tat lesen sich seine Texte oft wie erzählerische Miniaturen. Sie driften ins Schwärmerische und Poetische ab und sind somit alles andere als nüchtern – was allerdings überhaupt kein Nachteil ist. In "Der Weg aus der Höhle" landet der Autor letztlich bei Lügenpresse, Fake News und alternativen Medien: Das Internet ist für manche als Gewaltinstanz in die Welt getreten. Doch bis dahin hat die Menschheit eine Weile gebraucht. Also nimmt sich auch der Autor viel Raum, um jenen Weg aus der Höhle zu beschreiben:
"Wenn man in den Himmel sieht, bemerkt man, dass die Sterne sich um einen Punkt drehen, der selbst stillzustehen scheint. Also muss dort die unsichtbare Achse enden, die den Kosmos aufspannt. Die Drehung der Sterne geschieht im Jahreskreislauf, in dem auf den Herbst der Winter folgt, wenn alles stirbt, und auf den Winter der Frühling, wenn alles wiedergeboren wird. Die Weltachse dreht sich - und dieser Drehung folgt das Leben, im Wechsel der Jahreszeiten. Dieses mythische Weltbild aus grauer Vorzeit hat seine Spuren hinterlassen."
Die gewaltige Macht zwischenmenschlicher Kommunikation
Natürlich widmet sich das Buch auch den großen Themenfeldern wie Folter, Krieg und Unterdrückung. "Das Geheimnis der Gewalt" glänzt allerdings besonders dann, wenn Daniel-Pascal Zorn auf das Private schaut, auf die gewaltige Macht der zwischenmenschlichen Kommunikation. "Seelischer Vampirismus" erzählt von einer per se gewaltvollen Abhängigkeit, von der zerstörerischen Kraft der geheimen Manipulation, wie sie in Liebesbeziehungen vorkommt. Das Kapitel "Der Täuscher zu Gast bei Freunden" wiederum nimmt sich das Wesen des Scharlatans vor: Treibt nicht die Sehnsucht sowohl Täuscher als auch Opfer an? Entsteht so nicht eine seltsam intime Verbindung - an der beide Seiten ihren Anteil haben?
"Der Getäuschte muss, gegen die Einwände seiner Freunde und Familie, ein Höchstmaß an Vertrauen investieren. Denn dieses Vertrauen ist nicht nur das Vertrauen in den Scharlatan. Es ist auch das Vertrauen in die Erfüllung der eigenen Sehnsucht. Der Scharlatan wiederum muss auf der Hut sein. Er muss Zweifler ausmanövrieren und zugleich sicherstellen, dass seine Täuschung aufrechterhalten bleibt."
Oft enden die Kapitel überraschend mit rhetorischen Fragen oder pointierten Schlusssätzen. Ein philosophisch erhabenes Urteil trifft der Autor dabei nicht. Erst recht nicht, wenn es um gegenwärtige Machtdiskurse geht. In "You can say you to me" singt er ein ironisch durchsetztes Loblieb auf unsere neue Arbeitswelt, auf ihre unbegrenzte Freiheit, die vordergründig nichts Gewaltsames mehr hat. Schließlich darf man Herrn Professor Doktor Königsberger neuerdings Lennart nennen, mit ihm Essen gehen und ihn natürlich jederzeit kritisieren. Nur:
"Sie werden sich seiner Bewertung dennoch nicht entziehen können und auch nicht seines stummen Urteils darüber, ob Sie sich die Kritik an seinem letzten Briefing hätten leisten dürfen. Sie dürfen hier schließlich alles. Glauben Sie nur nicht, dass es für Sie keine Konsequenzen hätte."
Durchweg literarischer Stil
Die Lektüre bietet einen intensiven Blick auf ein detailreiches Bildnis "vom Geheimnis der Gewalt in all seinen schillernden Facetten", wie der Autor es formuliert. Natürlich kann man Einwände gegen das assoziative Verfahren hegen, das eine wüste Mischung aus popkulturellen Versatzstücken und historischen Exkursen hervorbringt, wenn Songtexte der Band "Tomte" gleichwertig neben Überlegungen eines Giordano Bruno stehen. Doch die konsequent essayistische Haltung jenseits von reiner Theorie und der durchweg literarische Stil machen die Texte so lesenswert - und das Buch angesichts der Schwere des Themas auf fast unerhörte Weise unterhaltsam und leicht.
Daniel-Pascal Zorn: "Das Geheimnis der Gewalt. Warum wir ihr nicht entkommen und was wir trotzdem dagegen tun können"
Klett-Cotta, Stuttgart, 198 Seiten, 20 Euro