Freitag, 19. April 2024

Archiv

Neues Gesetz gefordert
Zu wenig Wissen über Kindesmissbrauch

Das Schicksal eines Neunjährigen in Freiburg hat das Thema Kindesmissbrauch wieder in die Öffentlichkeit gerückt. Doch noch immer wissen Lehrer, Eltern und selbst Fachleute zu wenig über Anzeichen und Handlungsmöglichkeiten, meinen Experten. Sie fordern mehr Aufklärung - und ein Gesetz.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 01.02.2018
    Ein Kind streckt die Hand zur Abwehr nach oben.
    "Missbrauch erfolgt oft an Kindern, die vernachlässigt sind", sagt Sozialpädagoge Jürgen Lemke. "Die Kinder müssen stark gemacht werden." (imago)
    Jürgen Lemke hat seit Jahrzehnten mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu tun. In einer Berliner Beratungsstelle therapiert er Betroffene und Täter. Mehrmals in der Woche sitzt er auch am "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" und nimmt Anrufe entgegen. Hier melden sich immer mehr Menschen, die einen Missbrauchs-Verdacht schöpfen, berichtet er:
    "Wir haben gerade in letzter Zeit, dass vermehrt Lehrer, Lehrerinnen anrufen, die gehört haben, in jeder Klasse gibt es zwei Kinder laut Statistik, die missbraucht worden sind oder die missbraucht werden. Und die solche Gedanken haben und plötzlich haben sie auch ganz bestimmte Verhaltensweisen festgestellt, zum Beispiel dass ein Kind in kürzester Zeit so stark in den Leistungen abfällt. Die rufen bei uns an: Was soll ich tun? Seh ich etwas, was gar nicht da ist?"
    Gut, wenn Lehrer sich beraten lassen
    Bis vor einigen Jahren wurde das Thema Missbrauch gesellschaftlichen Randgruppen in die Schuhe geschoben, erzählt der Sozialpädagoge und Therapeut. 2010 dann gab es einen gesellschaftlichen und politischen Einschnitt, als Betroffene mit ihrem Missbrauch an Internaten und Schulen an die Öffentlichkeit gingen. Auf Bundesebene wurde ein Runder Tisch eingerichtet, die zeitlich befristete Stelle des Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde geschaffen, genauso wie die Aufarbeitungskommission.
    Trotzdem wissen die Menschen in Deutschland immer noch wenig über sexuellen Missbrauch – oder wollen ihn nicht wahrnehmen, sagt Jürgen Lemke. Sie sind sich unsicher, wie sie die Anzeichen deuten und handeln sollen. Deswegen ist er froh darüber, dass sich auch Pädagogen an das Hilfetelefon wenden.
    "Da ist es schon günstig, wenn sich eine Lehrerin oder ein Lehrer beraten lässt: Wie kann ich denn weiter vorgehen? Ich kann ja nicht direkt fragen: Wirst Du zu Hause missbraucht? Sondern ich muss Vertrauen entwickeln, dass die Kinder zu mir Vertrauen haben. Und dann kann ich auch mal fragen: Was ist denn los? Du bist doch gar nicht mehr so, wie du noch vor zwei Monaten warst, da warst du so fröhlich und lustig. Gibt es vielleicht etwas, was du mir erzählen willst? Und wenn sie dann: Nein, das kann, will ich nicht erzählen – dann ist schon ein Achtungszeichen geboten."
    Seit Monaten schon fordern der Missbrauchs-Beauftragte der Bundesregierung und die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs ein systematisches und konsequentes Vorgehen von der Politik. Jährlich seien zehntausende Kinder und Jugendliche sexueller Gewalt ausgesetzt, und die Zahl nicht gemeldeter Fälle sei sogar weitaus größer.
    Die Kinder mehr in den Blick nehmen
    Ein Gesetz zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch muss her und sollte Gegenstand der laufenden Koalitionsverhandlungen von Union und SPD werden, so die Experten. Mit dem Gesetz könnten dauerhafte Strukturen wie eine unbefristete Stelle für den Missbrauchs-Beauftragten eingerichtet und die schutzbedürftigen Kinder mehr in den Blick genommen werden – das würde in einem Fall wie Freiburg helfen, sagt Professor Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch:
    "Das Kind ist ja auch aus der Familie genommen worden und ist in einer Bereitschaftspflegefamilie gewesen. Dass auf jeden Fall Kinder selbst befragt werden müssen. Und der Junge ist ja neun Jahre alt gewesen, das wäre auch sicherlich möglich gewesen. Also nochmal sehr viel stärker die Perspektive des Kindes, eines betroffenen Kindes in den Blick nehmen und einbeziehen."
    Wichtig sei aber auch: Wie sind diejenigen qualifiziert, die mit Kindern zu tun haben? Am Familiengericht etwa sollten Sozialpädagogen miteinbezogen werden, könnten Kompetenzen gebündelt und vernetzt werden, meint Andresen. Jede Einrichtung und Organisation, die mit Kindern zu tun hat, sei in der Pflicht:
    "Ein Verein, eine Schule, ein Kindergarten oder eine Heimeinrichtung, ein Jugendclub, die sind dazu aufgefordert, wirklich sich zu überlegen, wie kann ein Schutzkonzept aussehen: Wie gehen wir vor? Welche Präventionsprogramme möchten wir umsetzen und können wir umsetzen? Welchen Handlungsleitfaden entwickeln wir, wenn wir in unserer Einrichtung einen Verdachtsfall haben? Wie beziehen wir bei der Entwicklung dieser Arbeit, dieser Schutzkonzepte auch die Kinder und die Jugendlichen und deren Eltern ein?"

    Anzeichen für Missbrauch gibt es immer wieder
    Prof. Dr. Sabine Andresen, die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bei der Auftaktpressekonferenz der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
    Prof. Dr. Sabine Andresen ist Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. (imago / Metodi Popow)
    Noch gibt es keine fertigen Lösungen, um Kinder umfassend zu schützen und Missbrauchsfälle wie in Freiburg zu verhindern. Doch erste Modellprojekte laufen bereits – und zwar dort, wo Kinder oft sind: in der Schule. Lehrer und Eltern, so die Hoffnung, sollen die Anzeichen von Missbrauch besser erkennen und handeln können. Aber auch die Schülerinnen und Schüler müssten unterstützt werden, meint Sozialpädagoge Jürgen Lemke:
    "Der Missbrauch erfolgt ja oft an Kindern, die schwach sind, die im weitesten Sinne vernachlässigt sind auch oft. Und die müssen stark gemacht werden. Das kann im Unterricht passieren – im guten Unterricht aber. Und das muss passieren, indem die Erwachsenen aufgeklärt werden."
    Denn Zeichen gibt es immer wieder: Etwa Kinder, die bei ihren Vätern alleine im Bett schlafen. Kinder, die anderen Erwachsenen an den Hosenstall fassen. Genau deswegen muss für die Gesellschaft eine große Aufklärungskampagne her, sagt Sabine Andresen.
    "Die Tatsache, dass so viele Kinder und Jugendliche von sexuellem Kindesmissbrauch betroffen sind, führt allzu oft dazu, dass man einmal kurz aufhorcht, aber dann lieber den Blick wieder abwendet und sich anderen zuwendet."