Dienstag, 30. April 2024

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Neues Jahrbuch “verdiperspektiven”
Forum für Entdeckungen

Er ist einer der erfolgreichsten und beliebtesten Komponisten, zugleich gibt es noch viele Forschungslücken beim Blick auf Leben und Werk von Giuseppe Verdi. Und die treiben Anselm Gerhard um. Um neusten Erkenntnissen ein Forum zu geben, hat der Musikwissenschaftsprofessor jetzt ein Jahrbuch entwickelt: die "verdiperspektiven".

Von Dagmar Penzlin | 12.07.2016
    Der italienische Komponist Giuseppe Verdi (1813 bis 1901) in einer zeitgenössischen Darstellung
    Im Fokus von Anselm Gerhard: Giuseppe Verdi (picture-alliance / dpa )
    Krise als Chance! Das dachte sich Anselm Gerhard, als er Bilanz zog für das Jubiläumsjahr 2013: Nur einen mageren Erkenntnisgewinn brachten die Veröffentlichungen zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi - kein Vergleich zu 2001, als sich zum 100. Mal dessen Todestag jährte. Anselm Gerhard:
    "Im Vergleich zu 2001 ist die Bilanz von 2013 sehr enttäuschend! Das hängt vor allem mit der wirtschaftlichen, aber auch mentalen Krise der italienischen Institutionen zusammen. Es hängt aber auch damit zusammen, dass 2001 auch das erste Jubeljahr nach 1963 war. Da war mehr geschehen, dass einfach mehr Dynamik da war. Und die Feststellung, dass man mehr machen kann, war der Auslöser, als wir gesagt haben: Warum nicht jedes Jahr?! Damit Verdi immer nah betrachtet wird mit Regelmäßigkeit und Nachhaltigkeit."
    So wird jetzt gut alle zwölf Monate im Würzburger Verlag Königshausen und Neumann ein neues Verdi-Jahrbuch erscheinen - , neben den Studi Verdiani das zweite Verdi-Jahrbuch. Ziel ist es, frische Forschungsergebnisse mitzuteilen und relevante Neuerscheinungen zu rezensieren ebenso wie gerade entdeckte Dokumente zu veröffentlichen und zu analysieren. In den ersten Ausgabe der "verdiperspektiven" gelingt Anselm Gerhard als Herausgeber und Autor gleich ein echter Coup:
    "Das Erstaunlichste zunächst – wir haben eine unbekannte Komposition gefunden! Damit rechnet man eigentlich nicht, aber es gibt ein Albumblatt, was auf dem Antiquariatsmarkt vor vielen Jahren verkauft worden ist und was in keinem Werkverzeichnis bisher steht. Und was einige interessante Rückschlüsse erlaubt auf Verdis Theaterverständnis insbesondere mit Blick auf den ‚Simon Boccanegra’ in zweiter Fassung."
    Neue Komposition entdeckt
    Das Niederrheinische Musikfest im Mai 1877: Giuseppe Verdi dirigiert sein Requiem. Knapp zwei Wochen lebt und arbeitet er in Köln – es ist sein einziger längerer Aufenthalt in Deutschland. Eingeladen hat ihn sein Kollege Ferdinand Hiller. Die beiden verstehen sich gut – so gut, dass Verdi schließlich am 23. Mai 1877 Hillers Ehefrau ein Albumblatt widmet.
    "Verdi hat Albumblätter gehasst. Jeder, der ihn besucht hat, wollte so etwas. In den besten Fällen hat er irgendeine Melodie aus einer seiner Opern aufgeschrieben. Dieses Albumblatt von 1877 ist das einzige, das wir bisher haben, mit einer neuen eigenen Komposition nach 1859. Es ist ganz, ganz selten. Es ist keine Komposition von Belang, wenn man so will. Es sind nur wenige Takte im Klaviersatz. Wenn man das spielt, dauert es keine halbe Minute. Aber es ist eine Komposition, die doch viel darüber aussagt, was Verdi bei seinem Köln-Besuch bei seinem Freund und Verehrer Ferdinand Hiller umgetrieben hat."
    So ist belegt, dass Verdi in Köln eine Aufführung von Friedrich Schillers Drama "Die Verschwörung des Fiesko zu Genua" besucht hat. Und Anselm Gerhard geht in seinem Aufsatz der Frage nach, inwiefern szenische Details dieser Inszenierung – insbesondere die Lichtstimmungen – Verdi inspiriert haben könnten schon mit Blick auf die Neufassung seines "Simon Boccanegra" wenige Jahre später. Nicht zuletzt weil der musikalische Gedanke auf dem Albumblatt für Hillers Ehefrau einer schwermütig auf- und abwogenden Barkarole gleicht. Meermusik ähnlich wie zu Beginn des 1. Aktes von "Simon Boccanegra".
    Verdis Zeitgenossen auch interessant
    Neben Anselm Gerhards interessantem Artikel zu dem Kölner Albumblatt stehen fünf weitere Aufsätze zu verschiedenen Aspekten von Verdis Schaffen. Da geht es etwa um die soziale Dimension im "Falstaff" oder die explizite Erotik im "Rigoletto", die Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Opernbühne neu war. Ebenso haben die "verdiperspektiven" auch die Zeitgenossen des Komponisten im Blick. So widmet sich ein Aufsatz der Oper "Hamlet" von Franco Faccio, für die Arrigo Boito das Textbuch geschrieben hat – eine frühe Shakespeare-Adaption des Mannes, der auch die Libretti zu Verdis Spätwerken "Othello" und "Falstaff" verfasst hat. Unbedingt ein Thema für die "verdiperspektiven", meint Herausgeber Anselm Gerhard.
    "Weil das natürlich indirekt in ‚Othello’ und ‚Falstaff’ eingeflossen ist. Weil Verdi das wahrgenommen hat. Wir wissen nicht, was er darüber gedacht hat, er war mit seinen Urteilen immer sehr zurückhaltend, jedenfalls sie zu verschriftlichen."
    Die "verdiperspektiven" möchten ein relativ breites Publikum ansprechen: neben den Forschenden auch Wissenschaftsinteressierte. Italienisch-Kenntnisse sind klar von Vorteil, da laut Gerhard das Geld fehle, Beiträge zu übersetzen. In der ersten Ausgabe dominieren noch italienische Texte.
    "Wir streben langfristig wirklich einen Drittel-Mix an aus Deutsch, Italienisch und Englisch."
    Herausgeber Anselm Gerhard hat ebenso Ausgaben mit Schwerpunkt-Themen im Sinn. Die "verdiperspektiven" bleiben so oder so beachtenswert.