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Neuheiten aus der Literaturwissenschaft
Alternativen zum genauen Quellenstudium

Julia Amslinger untersucht in einer "Philologie der Reste" die Entwicklung der einflussreichen Gelehrtengruppe Poetik und Hermeneutik. Und Franco Moretti analysiert große Werkmengen, statt sie zu lesen. Beide stellen auf je eigene Weise das eingehende Textstudium als Analysemethode infrage.

Von Thomas Arnold | 13.11.2017
    Buchcover von Julia Amslingers "Eine neue Form von Akademie", im Hintergrund Karteikarten
    Julia Amslingers "Eine neue Form von Akademie" und Hans Blumenbergs Karteikarten (Wilhelm Fink Verlag / picture alliance / dpa / Franziska Kraufmann)
    "Close reading" ist die genaue Lektüre und Analyse eines Textes. Daher mag es überraschen, dass der Literaturwissenschaftler Franco Moretti das close reading als Methode der Literaturwissenschaft ablehnt. Moretti argumentiert dafür, dass dem close reading zentrale Themen der Literaturwissenschaft unzugänglich sind. Das close reading muss daher durch "distant reading" ersetzt werden. Letztes Jahr erschien nun die Übersetzung seines Essay-Bandes "Distant Reading"; in ihm sind mehrere Aufsätze versammelt, in denen Moretti seine Ideen zum titelgebenden Verfahren entwickelt.
    Ein Ausgangspunkt ist Morettis Interesse an der Entwicklung, ja Evolution literarischer Gattungen. In Morettis Modell, das an die Evolutionstheorie angelehnt ist, haben die sogenannten Klassiker den Überlebenskampf auf dem Büchermarkt gewonnen. Um die evolutionären Prozesse hinter diesem Erfolg zu verstehen, reicht es jedoch nicht, nur die Sieger zu betrachten; auch die Merkmale der vielen vergessenen Rivalen sind bedeutsam. Diese Masse an vergessenen Rivalen ist wiederum eine Herausforderung für das close reading:
    "Man investiert nur dann so viel in Einzeltexte, wenn man der Überzeugung ist, dass nur ganz wenige von ihnen von Bedeutung sind. Sonst hat das keinen Sinn. Und wenn man über den Kanon hinausblicken möchte […], wird das close reading nicht ausreichen." (S. 49)
    Niemand kann alle Romane lesen, erfolgreiche und vergessene
    Niemand kann z.B. zum Beispiel alle Romane lesen, um zu überprüfen, welche Merkmale die erfolgreichen von den vergessenen trennen. Distant reading stellt hier zunächst eine Hypothese auf, z.B., dass Kriminalromane dann besonders erfolgreich waren, wenn in ihnen Indizien eine große Rolle spielten; oder, dass kurze Buchtitel auf Dauer erfolgreicher waren als lange. Anschließend wird eine große Menge von Texten aus einer bestimmten Epoche ausschließlich daraufhin untersucht. Inzwischen geschieht das immer häufiger auch mithilfe von Suchalgorithmen, die auf große digitale Archive zugreifen können:
    "'Distant Reading', [ist] ein Lesen aus der Entfernung, wobei die Entfernung eine Bedingung der Erkenntnis ist: Sie gestattet es, Einheiten in den Blick zu nehmen, die sehr viel kleiner oder auch sehr viel größer sind als der Text: Kunstgriffe, Themen, Tropen – oder Gattungen und Systeme." (S. 50)
    Distant reading distanziert sich also paradoxerweise vom Text als Ganzem. Ob diese Art des Umgangs mit Literatur überhaupt noch "reading", also Lesen, genannt werden kann, sei dahingestellt; jedenfalls erhofft sich Moretti von diesem "quantitativen Formalismus" nicht nur Erkenntnisse in Bezug auf die (zeitliche) Entwicklung einzelner Gattungen, sondern auch in Bezug auf ihre weltweite (räumliche) Verbreitung. Dazu gehören auch Fragen nach der Interaktion zwischen verschiedenen Buch-Kulturen.
    Hier interessiert mehr als der einzige Text
    "Obwohl es den Ausdruck "Weltliteratur" seit fast zwei Jahrhunderten gibt, verfügen wir noch nicht über ein echte Theorie des – wie lose auch immer definierten – Gegenstandes, auf den er sich bezieht. Wir haben keinen Begriffsapparat, keine Hypothesen, die Ordnung in die riesige Datenmenge bringen könnten, die die Weltliteratur darstellt. Wir wissen nicht, was Weltliteratur ist." (S. 114)
    Die Formalisierung, Quantifizierung und algorithmische Bearbeitung aller Literatur soll dabei helfen, diese und andere (vermeintliche) Lücken zu schließen.
    Die Verwendung quantitativer Methoden in der Literaturwissenschaft ist nicht neu; Sprachstatistik wurde bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt, um z.B. Platonische Dialoge auf ihre Echtheit zu prüfen. Neu ist einerseits die Verwendung von Algorithmen im Zugriff auf große digitale Archive, andererseits die Verschiebung des Interesses auf Fragen, die über den einzelnen Text weit hinausgehen. Morettis Ansätze eröffnen also Perspektiven – sie stellen einen Weg dar, wie die Geisteswissenschaften von der Digitalisierung profitieren können.
    Moretti gibt gleichzeitig zu, dass die Theorie-Bildung des distant reading noch nicht abgeschlossen ist. Auch auf die eher dünne Ergebnislage weist er selbst offen hin. Diese Offenheit ehrt ihn und verleiht den gut lesbaren Essays den Charakter eines "work in progress". Tatsächlich verweist Moretti auch immer wieder auf die laufenden Projekte des Literary Lab in Stanford, wo das distant reading im Verbund betrieben wird. Was dort genau geschieht, beschreibt Moretti in seinem Buch "Literatur im Labor".
    Leider verabsolutiert Moretti seinen Ansatz
    Leider begeht Moretti bei aller Offenheit den Fehler, seinen Ansatz zu verabsolutieren. Close reading sei bloß noch ein "theologisches Exerzitium" und alle Ressourcen müssten dem distant reading zukommen. Das ist sachlich unbegründet und stellt eine billige Polemik dar, die bereits dem Verteilungskampf um Forschungsmittel entspringen dürfte. Zudem bedient Moretti damit den Pseudokonflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Stellt man das distant reading jedoch nicht gegen, sondern neben das close reading, kann man es als interessante Erweiterung der Literaturwissenschaft betrachten.
    Weit entfernt vom digitalen distant reading wurde die Arbeitsgruppe "Poetik und Hermeneutik" 1963 gegründet. Sie war für die Geisteswissenschaften vermutlich ähnlich prägend wie die Frankfurter Schule. Auf insgesamt 17 Treffen wurden Themen der Literaturwissenschaft, der Ästhetik und der Geschichtsphilosophie aus verschiedenen Perspektiven durchdrungen. Die Ergebnisse der Treffen mitsamt ihrer Diskussion wurden in Sammelbänden veröffentlicht. Die Forschungsgruppe diente außerdem vielen Forschern als Karrieresprungbrett. Julia Amslingers Buch über die Anfänge der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" ist daher ein Beitrag zur Geschichte des Geistes in Deutschland.
    "Dieses Buch ist die Chronik eines bestimmten Beginns, mit dem auf vielen unterschiedlichen Ebenen große Hoffnungen auf eine Neuausrichtung der Geisteswissenschaften in der frühen Bundesrepublik verknüpft waren. Es ist eine sehr spezielle Geschichte der sechziger Jahre, die ihren Fokus nicht auf das ereignisreiche Jahr 1968 legt, sondern das Jahrzehnt von einem randständigen Beobachterstandpunkt erfasst." (S. 10)
    Über die Entstehungsbedingungen der Gelehrtengruppe
    Das Kernmaterial der Arbeit besteht aus den Nachlässen von Hans Robert Jauß und Hans Blumenberg, den Gründern der Gruppe. Dazu kommen Briefe und Berichte vieler Mitglieder der Gruppe. Amslinger arbeitet also mit den Resten von Forschungsprozessen; denn sie ist nicht an Forschungsprodukten, sondern an den Bedingungen ihres Entstehens interessiert.
    Nachdem sie sich in zwei Kapiteln ihrer Methode und ihres Materials versichert hat, nähert sie sich der Gruppe aus vier Perspektiven. Zunächst geht es um die Orte und Institutionen, die im Gründungsprozess der Gruppe eine Rolle gespielt haben. Viele Mitglieder kannten sich aus Heidelberg, in Gießen wurde die Gruppe gegründet und die Volkswagenstiftung förderte sie.
    Der zweite Zugriff fokussiert die Schreib- und Lesepraktiken der Protagonisten im Krieg und Nachkrieg:
    "Schreiben gilt als die zentrale Beschäftigung geisteswissenschaftlicher Forscher – und ist doch keine einheitliche Tätigkeit: Wer schreibt, kann aufschreiben, abschreiben oder umschreiben; verfasst dabei Briefe oder Listen, Tabellen oder Gedichte, schreibt mit der Hand und wählt Bleistift oder Füller, tippt auf einer Maschine oder lässt schreiben. Bei Schreibarbeit handelt es sich um situative Aktivität, die ihr epistemisches Potential in verschiedenen Szenarien jeweils unterschiedlich entfaltet." (S. 89)
    Dabei geht es nicht nur um den materialen Aspekt des Schreibens, sondern auch um die sehr unterschiedlichen Umstände, in denen Blumenberg und Jauß im und nach dem Krieg schrieben und lasen: Blumenberg als Verfolgter, Jauß als internierter SS-Offizier. Das Schweigen über die Vergangenheit kann bei diesen Unterschieden geradezu als Bedingung der Möglichkeit des Anfangens der Arbeit bewertet werden.
    Spannungen im brieflichen Dauergespräch
    Als drittes beleuchtet Amslinger das briefliche "Dauergespräch", in dem die Sitzungen organisiert und die Publikationen in Form gebracht wurden. Hier werden auch weiterhin die Spannungen und Unsicherheiten deutlich, die in der Gruppe herrschten. So wird deutlich, dass der soziologische und medientheoretische Ansatz Siegfried Kracauers zunächst eher inkommensurabel mit dem Vorgehen der Gruppe war. Nur Blumenberg nahm Kracauer restlos ernst.
    Der letzte Zugriff erfolgt über einen Autor, an dem Blumenberg und Jauß ein gemeinsames Interesse hatten: Paul Valéry:
    "Wie kein zweiter Autor innerhalb der Forschungsgruppe konnte Valery zur Vorbild- und Verbindungsfigur für Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Generationen werden. Er galt nicht nur als Avantgardist auf dem Feld der eigenen literarischen Produktionen, sondern ebenso prominent als Vordenker einer Wissenschaftsauffassung, die die Trennung von Natur und Kunst, zwischen Produktion und Rezeption und in dieser Folge auch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden suchte." (S. 185)
    Die Beschäftigung mit Valéry wird erst im neunten Band von "Poetik und Hermeneutik" thematisch. Durch Blumenbergs intensive Auseinandersetzung mit Valéry spielt dieser jedoch subkutan auch in den ersten Bänden eine wichtige Rolle – denn gerade an und mit ihm lassen sich die Vieldeutigkeiten der interdisziplinären Forschung denken.
    Gattungsevolution und Philologie der Reste
    Amslingers Buch endet mit dem Ausscheiden Blumenbergs aus der Gruppe. Im umfangreichen Anhang macht sie die Briefe und weitere Materialien zugänglich, auf denen ihre Arbeit hauptsächlich beruht; lediglich aus dem unveröffentlichten Nachlass Blumenbergs konnten keine Materialien veröffentlicht werden.
    Obwohl Amslinger kein distant reading im Sinne Morettis betreibt, ist ihr Ansatz doch keiner des traditionellen close readings. Die eingehende Lektüre kanonischer Werke spielt jedenfalls in beiden Büchern keine vorherrschende Rolle: Moretti interessiert sich für Entwicklungs- und Verbreitungsprozesse ganzer Gattungen; Amslinger verwendet eine Philologie der Reste, um ein Stück intellectual history der Bundesrepublik nachzuzeichnen. Dürfen wir daraus schließen, dass das traditionelle close reading obsolet geworden ist? Können wir uns die genaue Lektüre der Klassiker sparen?
    Das kommt darauf an. Wie sinnvoll der Einsatz von Algorithmen oder der Fokus auf Reste ist, hängt nämlich nur vom Forschungsinteresse ab. Eine Komparatistik, die an der durchschnittlichen Länge von Buchtiteln interessiert ist, sollte digital arbeiten; eine philosophische Komparatistik etwa kommt ohne close reading nicht aus. Kein Ansatz ist imstande, alle Fragen zu beantworten, die wir an Literatur stellen können. Dass wir unsere Fragen weiterhin stellen werden und stellen sollten, darüber besteht offenbar in keinem Lager Zweifel.
    Julia Amslinger: "Eine neue Form der Akademie. Poetik und Hermeneutik – Die Anfänge"
    Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017. 386 Seiten, 49,90 Euro
    Franco Moretti: "Distant Reading"
    Konstanz University Press, Konstanz 2017. 220 Seiten, 24,90 Euro