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Neukonzeption des EGMR vor 20 Jahren
Startschuss für Bürger-Klagen gegen Staaten

Für über 800 Millionen Bürger ist er die letzte Instanz in Menschenrechtsfragen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Als er 1959 gegründet wurde, sollte er über Beschwerden von Staaten gegen Staaten urteilen - seit 20 Jahren kann nun jeder Bürger gegen sein Land klagen.

Von Monika Köpcke | 01.11.2018
    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg
    Über 2000 Beschwerden monatlich gehen aktuell beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein (imago / Winfried Rothermel)
    Vertreter von 17 europäischen Ländern kamen im Mai 1948 im niederländischen Den Haag zusammen, um nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeiten einer europäischen Einigung auszuloten. Man beschloss zwei konkrete Maßnahmen: die Schaffung des Europarats und die Formulierung einer europäischen Menschenrechtskonvention. Sie sollte sich an der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen orientieren. Mit einem, so der Völkerrechtsexperte Jochen Frowein, entscheidenden Unterschied:
    "In Europa war eindeutig die Zielsetzung, dass man eben nicht nur eine allgemeine Erklärung haben wollte, sondern einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag, der justiziabel ist."
    1953 trat die Menschenrechtskonvention in Kraft, bis heute müssen sie alle Mitglieder des Europarates ratifizieren.
    Im April 1959 rief der Europarat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ins Leben. Er sollte über die Einhaltung der Konvention wachen. Der Normalfall sollten Beschwerden von Staaten gegen Staaten sein. Für Einzelpersonen war das Gericht nur zuständig, wenn ihre Regierungen sich damit einverstanden erklärt hatten. Doch von wem auch immer eine Beschwerde kam: über ihre Zulässigkeit entschied in jedem Fall erst einmal die Europäische Kommission für Menschenrechte. Nur sie konnte den Gerichtshof direkt anrufen. Jochen Frowein war 20 Jahre lang Mitglied der Kommission.
    "In Straßburg war in der ersten Phase eine außerordentliche Zurückhaltung", erzählt Frowein. "Als ich Mitglied der Kommission 1973 wurde, gab es wirklich noch wenig Bereiche, wo die Auslegung der Konvention für die Staaten schwierig geworden wäre. Damals war es so, dass eine Sorge bestand, wenn wir die Staaten außerordentlich scharf kontrollieren, dann kommt das System in Schwierigkeiten, und solche Systeme brauchen eine Zeit, bis sich Regierungen, Staaten daran gewöhnt haben und dann auch bereit sind, die Vorteile zu erkennen."
    Enormer Anstieg der Beschwerden
    1998 war es so weit: Am 1. November trat das 11. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention in Kraft und markierte die Geburtsstunde des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie wir ihn heute kennen. Seitdem kann jeder Bürger gegen sein Land vor Gericht ziehen - ganz direkt. Einzige Bedingung: der nationale Rechtsweg muss zuvor ausgeschöpft worden sein.
    Jedes der 47 Europaratsmitglieder schickt einen Richter oder eine Richterin nach Straßburg. Sie werden für 6 Jahre gewählt und arbeiten vollamtlich, während sie früher nur einige Wochen im Jahr zusammentraten. Der Schweizer Luzius Wildhaber wurde der erste Präsident des neuen ständigen Gerichtshofs:
    "So werden alle Arten von Fällen kommen. Verfahrensdauer, Zustände in den Gefängnissen, aber auch Fragen der Eigentumsgarantie, der Meinungsfreiheit. Wahrscheinlich wird sich das gleich einspielen, dass aus allen Bereichen Beschwerden kommen."
    Und so kam es: Die Neukonzeption des Gerichts führte zu einem enormen Anstieg der Beschwerden: über 2000 gehen aktuell jeden Monat in Straßburg ein. Sofern sie tatsächlich eine Verletzung der Menschenrechtskonvention bedeuten könnten, sorgen die anschließenden Verfahren häufig für eine große öffentliche Aufmerksamkeit.
    Auf die Mitwirkung der Staaten angewiesen
    Die Richter urteilten über das Burka-Verbot oder Kreuze in öffentlichen Räumen, über das Recht auf eine anonyme Geburt oder Sterbehilfe, über Haftbedingungen oder nachträgliche Sicherungsverwahrung. Ob die Urteile eine Änderung der nationalen Rechtsprechung nach sich ziehen, ist allerdings nicht sicher. Denn ihre Verbindlichkeit ist von Land zu Land unterschiedlich geregelt. Luzius Wildhaber:
    "Es ist eben im Großen und Ganzen nach wie vor das Gericht, das es war in dem Sinn, dass es Feststellungs- und Schadensersatzurteile trifft, und nicht mehr als das; und insofern als sie unausweichlich auf die Mitwirkung der Staaten angewiesen sind und dass die Mitwirkung nicht immer bereitwillig erfolgt."
    Gegen Georgien, Russland oder die Türkei beispielsweise ziehen regelmäßig Bürger vor das Straßburger Gericht. Menschenrechte sind in diesen Ländern oftmals nur leere Versprechungen - obwohl sie als Mitglieder des Europarates die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben.