
Annunziata Rees-Mogg bedankt sich bei den Journalisten, die zur Pressekonferenz der vier abtrünnigen Politiker der Brexit-Party gekommen sind. Alle sind Europaabgeordnete der Partei, und Annunziata ist die prominente Schwester von Jacob Rees-Mogg, dem Abgeordneten der britischen Konservativen. Mit bebender Stimme erklärt sie, dass es ihr und den anderen nicht leicht gefallen sei, sich jetzt gegen ihren eigenen Parteichef Nigel Farage zu stellen.
"Ich finde es unglaublich tragisch, dass ausgerechnet die Brexit-Partei mit so vielen wunderbaren und von ihrer Sache überzeugten Mitgliedern die Partei ist, die den Brexit gefährdet. Bitte geben Sie wie ich Ihre Stimme den Konservativen - und holen Sie uns damit aus der EU heraus."

"Was immer geschieht - selbst wenn Boris Johnson eine Vertrauensabstimmung im Parlament verliert -, dann gibt es Neuwahlen. Boris und ich können dann aushandeln, wie wir kooperieren."
Aber Johnson zeigte Farage die kalte Schulter. Stattdessen unternahm er alles, um Farages Wähler abzuwerben. Johnson ging zum Angriff über: Er suspendierte das Parlament und warf 21 Brexit-skeptische Mitglieder aus der eigenen Fraktion, darunter Alterspräsident Kenneth Clarke und den Churchill-Enkel Nicholas Soames. Außerdem handelte er mit der EU einen neuen Vertrag aus. Kritiker sagen: Die Konservativen sind jetzt die Brexit-Partei. Immerhin aber gelang dem Premierminister das Kunststück, seine völlig zerstrittene Partei zu einen, sagt Politikprofessor Patrick Dunleavey.
"Boris Johnson hat im Endeffekt die Konservativen als eine Pro-Brexit-Partei neu ausgerichtet. Damit sind sie jetzt viel stärker als vorher. Damit werden die Regionen, die 2016 für den Brexit gestimmt haben, dazu neigen, die Konservativen zu wählen."


"Wir schaffen das mit dem Brexit. Mit unserem Vertrag. Er ist da, ofenfertig! Schiebt ihn in die Mikrowelle und dann habt ihr ihn! Wir machen das mit dem Brexit binnen Tagen."
Der Vertrag mit der EU ist Johnsons großes Lockangebot. Die Ausgangslage ist dabei klar: Wenn die Konservativen die Unterhauswahl mit absoluter Mehrheit gewinnen, dann wird es am 31. Januar zum Brexit kommen. Verfehlen die Tories aber die absolute Mehrheit, dann dürfte Labour-Chef Jeremy Corbyn eine Minderheitsregierung bilden – und es käme zu einem zweiten Referendum. Corbyn hat lange gezögert, eine zweite Volksabstimmung zu unterstützen, auch aus Sorge, Wählerinnen und Wähler zu verprellen. Aber seine eigene Haltung ist unklar.
"Wir werden einen glaubwürdigen Vertrag mit der EU neu aushandeln. Bitte lassen Sie mich ausreden! Zu diesem Vertrag und der Möglichkeit, in der EU zu bleiben, gibt es dann ein Referendum. Und ich werde mich als Premierminister bei diesem Referendum neutral verhalten, um unser Land wieder zusammenzuführen."

Es sieht also ganz nach einem Wahlsieg der Konservativen aus. Anders als bei der letzten Wahl 2017 hat Labour in den Umfragen bisher den klaren Rückstand von rund zehn Prozentpunkten nicht nennenswert aufholen können. Ein Grund dafür ist auch, dass Brexit-Wähler praktisch nur noch die Konservativen als Wahlangebot haben, Remain-Wähler sich aber zwischen Labour und den Liberaldemokraten entscheiden können oder müssen. Boris Johnson könnte also der lachende Dritte werden.
"Kann ich sie davon überzeugen, taktisch zu wählen?"
"Ich werde definitiv taktisch wählen".
Im britischen Wahlsystem werden Kandidaten ausschließlich direkt gewählt. Der Kandidat im Wahlkreis, der die meisten Stimmen erhält, gewinnt. Sally Morgan würde eigentlich lieber die Liberaldemokraten wählen. Deren Kandidat hat aber nur wenige Chancen im Wahlkreis, also wirbt die Lehrerin dafür, aus taktischen Gründen Labour zu wählen.
Ein Passant vor dem Bahnhof muss von Sally Morgan gar nicht umgestimmt werden. Er will eine Zusammenarbeit der Oppositionsparteien, aber bloß nicht Boris Johnson.
"Am wichtigsten ist mir eine Kombination von Parteien, die den Brexit verhindern. Ich habe starke Vorbehalte gegen Labour. Aber mir ist alles lieber als Boris Johnson."
Jetzt diskutiert Sally Morgan mit einem älteren Mann aus Wales. Er lebt nicht hier in Southfields, das zum Wahlkreis Putney gehört. Er arbeitet in einer Fabrik in Wales, hat früher Labour gewählt – aber diesmal will er das nicht tun.
"Wir haben gewählt, was wir gewählt haben. Wenn wir für die EU gewählt hätten, würden wir bleiben. Da wir aber den Austritt aus der EU gewählt haben, tun wir das auch."
"Aber wir haben ein System von Wahlkreisen. Wir brauchen Abgeordnete, die für den Wahlkreis arbeiten."
Im Wahlkreis Putney und Southfields haben 72 Prozent für die EU gestimmt. Doch den Mann aus Wales beeindruckt das nicht. Er wird nicht Jeremy Corbyn wählen.
"Ich wähle ganz bestimmt nicht Corbyn. In oder out. Ich bin definitiv für out. Wir wollen ein eigenes Land sein, mit eigenen Gesetzen, und die Zuwanderung kontrollieren wir selbst. Labour will jetzt ein zweites Referendum. Nein, wir haben out gewählt, also gehen wir raus."


"Ich habe 2016 dafür gestimmt, in der EU zu bleiben. Aber das ist ehrlich gesagt für mich nicht das Wichtigste bei der Wahl. Neutral zu bleiben, ist zwar okay. Aber ich denke schon, dass Corbyn ein Recht auf eine eigene Meinung hat."
Ihm und seinen Mitstreitern ist die soziale Gerechtigkeit wichtig, das Gesundheitswesen, Schulen oder Wohnungen. Rosalee Dorfman ist Amerikanerin mit deutschen Vorfahren. Sie brauchte einige Zeit, das mit dem zweiten Referendum zu schlucken.
"Ich habe zunächst nicht gedacht, dass eine neue Volksabstimmung notwendig wäre, um das Land zu einen. Wir sind seit drei Jahren ein tief gespaltenes Land. Der Brexit spaltet Familien und Freundschaften. Aber wir müssen das Land in eine positive Richtung führen."
"Corbyn hat einige dumme Fehler gemacht. Manchmal glaube ich, er ist nicht besonders klug. Er schreibt das Vorwort zu einem Buch, dass zu Teilen antisemitisch ist. Du denkst: hat er das Buch jemals gelesen? Dann gab es ein offensichtlich antisemitisches Poster. Er fand es gut. Dabei konnte man das sofort erkennen."
Hinzu kam vielleicht noch ein weiterer Fehler, jedenfalls aus Sicht derjenigen, die ein zweites Referendum wollen. Corbyn hatte immer darauf gedrängt, dass es erst zu Neuwahlen kommt, und danach dann eine neue Volksabstimmung zum Brexit. Jetzt hat ihm Boris Johnson die Neuwahlen aufgedrängt, und die Idee mit der zweiten Volksabstimmung könnte jetzt am Freitagmorgen nach der Wahl Geschichte sein. "Es hätte anders herum sein müssen. Die Volksabstimmung hätte vor den Neuwahlen kommen sollen."
Umso mehr lautet jetzt für Sally Morgan das Motto: "Anybody but Boris". Hauptsache, Boris Johnson verhindern. Einer ihrer beiden Söhne lebt in Paris. Sie hat den deutschen Pass beantragt und lernt deutsch. Boris Johnson ist klarer Favorit für die Wahl. Aber Sally Morgan hofft noch auf die Wende, und jede Stimme zählt. Deswegen verteilt sie Infozettel und appelliert, taktisch zu wählen.
"Ich möchte gerne weiter europäisch bleiben. Ich vermag nicht einzusehen, warum mir jemand meine europäische Staatsangehörigkeit wegnehmen kann."

"Das erste, was ich nach dem 12. Dezember tun werde, ist: Ich werde Boris dabei unterstützen, den Brexit umzusetzen."
"Brexit ist ein entscheidendes Thema hier in dieser Stadt. Meine Gegnerin von Labour, Jenny Chapman, hat im Unterhaus auf allen Ebenen versucht, den Brexit zu blockieren. Das hat zu einigem Ärger hier bei den Wählern geführt. Ihre Vertreterin im Parlament hat sich nicht an die Vorgabe des Wahlkreises gehalten, die EU zu verlassen."
Gibson wäre Neuling im Parlament, und überhaupt ist er der Typus des neuen Tory-Abgeordneten. Die Fraktion war 2016 ganz überwiegend pro EU. Jetzt haben sich alle über 600 Kandidaten für die Unterhauswahl schriftlich verpflichtet, den Brexit-Vertrag im Unterhaus zu billigen. Auch Gibson hat 2016 für Remain gestimmt. Jetzt wolle er das demokratische Ergebnis des Referendums akzeptieren, sagt er.
Ein Mann im Publikum steht jetzt in der Kirche in Darlington auf und attackiert die Amtsinhaberin, weil sie für ein zweites Referendum ist.
"56,2 Prozent haben hier dafür gestimmt, die EU zu verlassen. Als Politikerin sind Sie dazu da, für diese Menschen hier einzutreten."

"Ich würde nicht sagen, das sich eine Remainerin bin. Das macht nicht meine Identität aus. Ich bin pragmatisch. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass die Bevölkerung die abschließende Entscheidung treffen soll. Vom Brexit gibt es keinen Weg zurück. Die Stadt ist gespalten. Wir müssen das wieder zusammenführen."
Einen und nicht mehr spalten – das versprechen alle Kandidaten. Ein zweites Referendum wäre die falsche Lösung, meint der Vikar der Gemeinde, Matthew Firth. Er kommt aus dem nahen Yorkshire, auch Nord-England, und ist selbst für den Brexit.
"Wenn wir am 31. Januar die EU verlassen, dann kann die Auseinandersetzung abkühlen. Die Sache wäre entschieden, und als Folge würde eine Menge an Hitze weggehen."

"Ich sehe keinen Grund dafür, warum ein zweites Referendum weniger spaltend und bitter als das erste sein sollte. Ich glaube nicht daran, dass beim zweiten Mal die rationalen Argumente mehr zählen. So funktioniert das nicht bei Volksabstimmungen. Ich befürchte, die Kampagne würde noch hässlicher werden."
Professor Tim Bale arbeitet mit Anand Menon in derselben Denkfabrik. Er wundert sich, warum im Wahlkampf außen vor bleibt, wie es denn mit dem Brexit nach dem 31. Januar weitergeht. Denn dann beginnt das Tauziehen, wie lang die Übergangsperiode dauern soll, und wie eng Großbritannien sein Verhältnis zur EU gestalten will.
Die konservative Fraktion ist von gemäßigten und kritischen Geistern regelrecht gesäubert worden. In welche Richtung würden eine neue Fraktion im britischen Parlament und ihr Premier den Brexit vorantreiben? Tim Bale hält es für einen Fehler, dass diese existentielle Diskussion fast nur unter Experten geführt wird - nicht aber in der Wahlkampf-Arena.
"Das Problem ist, dass nicht viel darüber geredet wird, was kommt, wenn wir die EU verlassen haben. Das sollte eindeutig die allerwichtigste Frage für diese Unterhauswahl sein. Aber darüber ist kaum diskutiert worden."
