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Nicht gerechter, sondern teurer

Die neuen Unisex-Tarife bei Versicherungen haben auch die Diskussion um private und gesetzliche Krankenversicherungen wieder geschürt. In den Niederlanden wurde das Zwei-Klassensystem im Zuge der Gesundheitsreform 2006 abgeschafft. Ein Vorbild für Deutschland?

Von Kerstin Schweighöfer | 17.12.2012
    Lex Keehnen muss ein bisschen suchen, bis er die Unterlagen für seine Krankenversicherung gefunden hat. Darum hat sich der 48-jährige Ingenieur aus Den Haag schon lange nicht mehr gekümmert. "Das ist bei uns gut geregelt", sagt er.

    Seit der Gesundheitsreform 2006 zahlen er und seine Frau zusammen nur noch rund 220 Euro pro Monat. Die beiden Kinder sind gratis mitversichert, erzählt Keehnen.

    2006 haben die Niederländer alle Krankenkassen privatisiert, den Unterschied zwischen Privat- und Kassenpatient abgeschafft - und statt dessen eine Basisversicherung eingeführt. Sie kostet je nach Versicherungsgesellschaft um die 1300 Euro pro Jahr. Hinzu kommt eine vom Einkommen abhängige Prämie von 6,5 Prozent. Die wird vom Arbeitgeber beglichen.

    Doppelverdiener ohne Kinder profitieren am wenigsten von der Reform, Familien mit Kindern wie die Keehnens am meisten.

    "Als Privatpatient habe ich früher viel mehr gezahlt. Meine Frau als Kassenpatientin weniger. Aber weil die Kinder bis 18 gratis mitversichert sind, ist es für uns unterm Strich viel günstiger geworden.”"

    Ziel der Reform: Das Gesundheitswesen sollte ehrlicher und gerechter werden - und durch mehr Wettbewerb zudem billiger.

    Denn alle bei einer Gesellschaft Versicherten zahlen nun den gleichen Satz – egal, wie alt oder gesund sie sind. Dabei stehen die Versicherungsgesellschaften in direkter Konkurrenz miteinander. Und noch wichtiger: Sie müssen jeden Patienten akzeptieren, egal, welche Kosten er verursacht.
    Die Grundversorgung der Basisversicherung ist allerdings kärglich. Sie deckt nur das Allernotwendigste: ambulante Versorgung mit eingeschränkter Arztwahl, Krankenhausbehandlung, bestimmte Arznei- und Hilfsmittel. Für alles andere müssen die Niederländer Zusatzversicherungen abschließen und extra zahlen – auch für den Zahnarzt.

    Doch niederländische Patienten sind das gewöhnt. "Niet klagen maar dragen”, lautet das calvinistische Motto: "Nicht klagen, sondern ertragen”. Dennoch sind die Kosten im Gesundheitswesen weiter gestiegen, das hat die Reform nicht verhindern können.

    Als Gegenmaßnahme wurde bereits ein Eigenbeitrag eingeführt – und den will die neue Regierung jetzt erhöhen: von derzeit 220 Euro pro Kopf pro Jahr auf 350 Euro. Unzumutbar, findet Henk van Gerven, ehemaliger Hausarzt und Gesundheitsexperte der sozialistischen Partei SP:

    ""Das heißt, eine Durchschnittsfamilie muss erst einmal 700 Euro selbst zahlen, bevor die Versicherung etwas erstattet."

    Der Versicherte, so klagen auch die Patientenvereinigungen, bekomme immer weniger für sein Geld. Denn der ohnehin schon so kärgliche Inhalt des Basispakets ist in den letzten Jahren kontinuierlich geschrumpft – die Beiträge hingegen sind um mehr als 30 Prozent gestiegen: von rund 1000 auf 1300 Euro pro Jahr. Mit ihnen steigt die Schar jener einkommensschwachen Versicherten, die Anspruch auf einen staatlichen Zuschuss haben. Schon jetzt sind es mehr als 40 Prozent. Bald werde jeder zweite Niederländer Recht auf diesen Zuschuss haben, prophezeit van Gerven:

    "Das zeigt, dass dieses System nichts taugt, sonst müsste die Regierung nicht so viele Menschen kompensieren!"

    Da die Leistungen des Basispakets schrumpfen, müssen die Niederländer immer mehr Zusatzversicherungen abschließen. Die jedoch können sich arme Menschen nicht leisten. Außerdem können die Versicherer in diesen Fällen Patienten ablehnen, denn bei Zusatzversicherungen sind sie nicht verpflichtet, jeden zu akzeptieren. Das neue System, so viele Patientenvereinigungen, sei nicht gerechter, sondern teurer. Von mehr Solidarität könne keine Rede sein.

    Darüber hinaus kritisieren viele Niederländer die zunehmende Macht der Versicherungsgesellschaften. Durch Fusionen befinden sich inzwischen gut 90 Prozent aller Versicherten in den Händen von vier großen Gesellschaften. Und in Zukunft, so eine weitere Sparmaßnahme des Kabinetts, sollen Patienten nur noch Krankenhäuser und Ärzte aufsuchen können, mit denen ihre Versicherer einen Vertrag abgeschlossen haben.

    "Früher war die Gesundheit in den Händen des Staates, jetzt in denen der Versicherungsgesellschaften”, bringt es eine Sprecherin der Patientenvereinigung CG-Raad auf den Punkt: "Statt vom Hund werden wir jetzt von der Katze gebissen."