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"Nicht nur ein reines Militärbündnis"

Die politischen Veränderungen der letzten zwei Dekaden machen eine andere Ausrichtung der NATO notwendig. Hans Friedrich von Ploetz ist Mitglied der NATO-Expertenkommission und sagt, die NATO definiert sich seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr durch den Feind, sondern durch Sicherheit und Stabilität.

Hans Friedrich von Ploetz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Die NATO weiß noch nicht so genau, wie sie sich aufstellen soll im 21. Jahrhundert. Sie weiß nur, dass sie es muss, dass sie eine neue Strategie braucht, weil die Welt sich verändert hat. Das Beispiel Russland: als Bedrohung ist Moskau weggefallen, aber wie eng soll und kann eine Zusammenarbeit mit dem Kreml sein, das sehen die Polen und Tschechen ganz anders als die Deutschen oder auch die Franzosen – Beispiel Raketenabwehr und Rüstung. Auch hier gibt es völlig unterschiedliche Ansichten unter den inzwischen 28 Mitgliedsländern. Bleiben die internationalen Militäreinsätze, der Anti-Terror-Kampf – Beispiel Afghanistan. Alles ist also umstritten innerhalb der Allianz. Der deutsche Sonderbotschafter und NATO-Experte Hans Friedrich von Ploetz gehört genau der NATO-Expertengruppe an, die diese Zukunftsfragen klären soll. Diese hat jetzt wieder beraten. Wir erreichen ihn in Washington. Guten Morgen!

    Hans Friedrich von Ploetz: Guten Morgen!

    Müller: Herr von Ploetz, braucht die NATO erst mal wieder einen richtigen Feind?

    von Ploetz: Nein. Die NATO definiert sich seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr durch den Feind, sondern dadurch, wofür sie steht, für Sicherheit, Stabilität für unsere Völker und darüber hinaus.

    Müller: Aber dieser gemeinsame Feind, der fehlt, macht es auch schwierig?

    von Ploetz: Das kann man so sehen, aber ich halte das für falsch. Die Lage im Kalten Krieg war strategisch gesehen eine kolossale Vereinfachung. Man kann sagen, heute haben wir eher den Normalzustand der Sicherheitspolitik. Das heißt, es gibt Instabilitäten, Unsicherheiten, Risiken und auf die muss man sich einstellen.

    Müller: Warum ist das jetzt so schwer, an einem Strang zu ziehen?

    von Ploetz: Das hängt mit vielen Dingen zusammen. Sie haben es schon erwähnt. Das letzte strategische Konzept haben 16 NATO-Staaten beraten und verabschiedet '99. Heute sind wir 28 und es ist ja für jeden einsichtig, dass die sicherheitspolitischen Überzeugungen auch ein Ergebnis sind der Erfahrungen, die man in seiner geografischen Lage und in seiner Geschichte gemacht hat. Deshalb ist also diese Arbeit am strategischen Konzept weniger der Versuch, das Rad neu zu erfinden, sondern zunächst einmal ganz wichtig, mindestens so wichtig wie das Ergebnis, den strategischen Schulterschluss festzustellen oder, wo er nicht besteht, herzustellen.

    Müller: Von 16 auf 28, da könnte man sagen, die Erweiterung hat die NATO auch schwächer gemacht?

    von Ploetz: Das kann man sagen. Es ist einfach ein Naturgesetz: wenn man unter einer größeren Anzahl von Personen oder Staaten Konsens herstellen muss, ist das naturgemäß komplizierter. Aber die Erweiterung hat die NATO und das Bündnis insgesamt zugleich auch stärker und sicherer gemacht.

    Müller: Demnach reden aber zu viele mit?

    von Ploetz: Das kann man so formulieren, aber ich würde es anders formulieren. Ich würde sagen, wenn ein kollektives Sicherheitssystem – darum handelt es sich bei der NATO – einen ganz wesentlichen Teil Europas und die nordamerikanischen Verbündeten einschließt, dann ist das ein großer Gewinn für Stabilität. Eine unserer Kernfragen, mit der wir uns jetzt beschäftigen, lautet: ist es möglich, dieses System der Sicherheit, in dem sich alle 28 NATO-Staaten sicher und wohl fühlen, in geeigneter Weise – das ist die Frage: was ist die geeignete Weise – auszudehnen auf die Staaten, die noch draußen sind, die zum Teil rein wollen, oder die als Partner möglicherweise bereit stehen wie Russland.

    Müller: Sie haben ja in dieser NATO-Expertengruppe jetzt wiederum einige Tage in den USA verbracht, in Washington getagt, um Lösungen zu finden. Haben Sie schon eine Antwort gefunden auf die Frage wie?

    von Ploetz: Wir haben hier jetzt die erste Phase unserer Arbeit abgeschlossen. Das war die der Analyse, der Aufbereitung der Fragestellungen und der dazugehörigen sachlichen Informationen. Hier in Washington ging es vor allen Dingen um die Frage, welche militärischen Fähigkeiten sollte die NATO in Zukunft haben.

    Müller: Dann reden wir, Herr von Ploetz, noch einmal über dieses internationale Szenario, über die internationalen Einsätze. Iran, Irak, Afghanistan – die Beispiele sind jetzt auch schon gefallen -, ist das zur gleichen Zeit auch deutliches Beispiel dafür gewesen, dass jeder, wenn es darauf ankommt, sein eigenes Süppchen kocht und eben nicht hinter der NATO steht?

    von Ploetz: Wenn Sie Irak meinen, den zweiten Irak-Krieg, das war ausdrücklich keine NATO-Operation, ist auch nie als solche behandelt worden.

    Müller: Weil man sie auch nicht zusammenbekommen hätte?

    von Ploetz: Das ist richtig. Da gab es grundsätzliche Differenzen, und wie sich durch den Gang der Dinge, glaube ich, bestätigt hat, war es auch richtig, dass einige Fragen gestellt wurden, die seinerzeit nicht beantwortet werden konnten.

    Müller: In Afghanistan war man sich grundsätzlich einig, da gemeinsam etwas zu tun, und jetzt gehen einige raus. Viele Demokratien – so ist die NATO nun einmal geprägt – haben zu Hause große Probleme. Hier zerfällt das Bündnis offenbar?

    von Ploetz: Man kann das auch anders formulieren. Es ist für die meisten europäischen Staaten – vielleicht mit Ausnahme von Frankreich und Großbritannien – etwas ganz Neues, die eigenen Soldaten in ein Land zu schicken und dann noch sich mit einem Gegner auseinandersetzen zu müssen, der gar kein klassischer Gegner, also kein Staat mit Uniform und Fahne ist ...

    Müller: Also der asymmetrische Krieg?

    von Ploetz: ..., sondern der asymmetrische Krieg. Das heißt, geschützt durch die Bevölkerung handeln kleine Gruppen mit beachtlicher militärischer Energie. Im Zeitalter der Globalisierung wird militärische Macht zunehmend privatisiert.

    Müller: Ist, Herr von Ploetz, die Macht der NATO, die Entscheidungsfindung der NATO auch dadurch geschwächt, dass die Führungsstellung der USA nicht mehr so unumstritten ist, wie das einmal war?

    von Ploetz: International gesehen sind die USA und werden es auch auf lange Zeit noch sein die Militärmacht Nummer eins der Welt. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. In den militärischen Fähigkeiten ist eher etwas zu beobachten, was gestern und vorgestern hier Thema war, dass die Leistungsfähigkeit des Militärs sich stärker differenziert in dem Sinn, dass die Amerikaner sich viel entschlossener und intensiver auf diese neuen Situationen einstellen als die europäischen Bündnispartner.

    Müller: Ist die NATO vielleicht zu wenig politisch?

    von Ploetz: Nein. Die NATO ist immer ein sicherheitspolitisches Bündnis gewesen und nicht nur ein reines Militärbündnis. Aber in der Zeit vor Obama ist der sicherheitspolitische Meinungsaustausch und die Konsultation in Brüssel deutlich zu kurz gekommen, und das wird jetzt korrigiert.

    Müller: Also hat George Bush auch der NATO geschadet?

    von Ploetz: In der Zeit war Brüssel nicht, wie es der Vertrag vorsieht, das Zentrum der sicherheitspolitischen Konsultationen.

    Müller: Und das wird jetzt wieder gelingen?

    von Ploetz: Das ist die Absicht eindeutig und wenn man nach den Schlussfolgerungen fragt, die insbesondere die USA aus Afghanistan ziehen, dann lautet das wie folgt: Militärische Macht ist wichtig, reicht aber nicht aus, um mit diesen Risiken umzugehen. Man braucht Partner, man braucht insbesondere in der Region Partner und man muss die militärischen Fähigkeiten vernetzen mit politischen, das heißt zum Beispiel Stärkung der örtlichen Regierung, Ausbau der Sicherheitskräfte im Lande. Das ist ein neuer sicherheitspolitischer Ansatz, vernetzte Sicherheitspolitik, und natürlich wird da das politische Gespräch sehr viel intensiver werden.

    Müller: Auch das politische Gespräch mit Moskau?

    von Ploetz: Das ist die Bereitschaft der NATO. Wir sind (die Expertengruppe) in Moskau gewesen, vor zwei Wochen, haben dort intensive Gespräche geführt mit der Regierung, dem Sicherheitsrat, parlamentarischen Ausschüssen und auch den Leuten in den Stiftungen und Think Tanks. Wir haben deutliche Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, die Zusammenarbeit zu intensivieren, auch institutionell. Die Antworten, die wir gekriegt haben, waren zum Teil nicht ermutigend – das muss ich mit Enttäuschung sagen -, zum Teil hingegen insbesondere bei denen, die keine Regierungsverantwortung haben, recht weitgehend, bis hin zur Option, dass man jetzt in Moskau ziemlich öffentlich über eine langfristige Perspektive des NATO-Beitritts redet.

    Müller: Waren Sie denn auch enttäuscht über die Antworten aus Moskau, weil Präsident Medwedew gesagt hat, kommt bloß nicht mit der NATO bis an unsere Grenzen?

    von Ploetz: Sie spielen jetzt an auf die neue Militärstrategie Russlands. Im Gegensatz zur NATO, die über Vorverabschiedung ihrer neuen Strategie auch mit Russland intensiv redet, haben die Russen mit uns nicht geredet über ihre. Die Formulierung, dass die Ausweitung der NATO, das Heranrücken an die russischen Grenzen, als ein Risiko angesehen wird, was möglicherweise eine Bedrohung sein könnte, hat in Bündniskreisen eher wie eine kalte Dusche gewirkt, das ist wahr.

    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk der deutsche Sonderbotschafter und NATO-Experte Hans Friedrich von Ploetz. Vielen Dank für das Gespräch.