Jochen Spengler: Es ist wie leider so oft in Deutschland. Statt ernsthaft über ein Problem und mögliche Lösungen dafür zu debattieren, führen Politiker mehr und mehr eine Geisterdebatte darüber, ob denn das Problem richtig benannt und genannt wird. So wird weniger die Frage gestellt was kann man denn tun gegen die zunehmende Kluft von Arm und Reich in Deutschland oder dagegen, dass die Unterschicht und ihre Hoffnungslosigkeit immer größer werden. Stattdessen wird verstärkt über Begriffe gestritten, darüber ob man die Unterschicht denn Unterschicht nennen darf, ja ob es eine so benannte Schicht überhaupt gibt. Der CDU-Fraktionschef Kauder spricht lieber von "Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen". Arbeitsminister Müntefering behauptet, in Deutschland gebe es keine Oberschichten und Unterschichten. Und sein sozialdemokratischer Parteifreund Thierse widerspricht. Er meint, dass es in Deutschland sogar eine Klassengesellschaft gebe. Am Telefon ist nun Professor Heinz Bude, Soziologe an der Universität Kassel. Guten Tag Herr Professor Bude!
Professor Heinz Bude: Guten Tag Herr Spengler!
Spengler: Wir dürfen die Gesellschaft nicht aufteilen, sagt Franz Müntefering. Kommt es denn darauf an, ob wir dürfen oder ob nicht, oder ist nicht vielmehr wichtig festzustellen, was die Wirklichkeit ist?
Bude: Ich glaube schon. Bleiben wir doch erst mal ein bisschen bei der Wirklichkeit. Was richtig ist und was jetzt versucht worden ist, mit verschiedenen Methoden nachzuweisen ist, dass es eine Menge Leute gibt - sagen wir es doch so -, die den Mut verloren haben aufgrund unterschiedlicher Bedingungen, aufgrund von unvorhergesehenen Betriebspolitiken der Unternehmen, aber eben auch die den Mut erst gar nicht finden, weil sie schon von Anfang an vor verschlossenen Türen stehen. Ich glaube, wenn wir zu Kurt Beck zurückgehen, dann ist es richtig, dass Kurt Beck darauf hingewiesen hat, dass diese Problematik des Verlustes von Handlungsautonomie, des Verlustes von Perspektiven für das eigene Leben nicht nur eine Frage des Einkommens oder der Transferzahlungen ist, sondern tiefgehender ist, auch etwas mit einer Kultur des Einrichtens in einer abgehängten Lage zu tun hat.
Spengler: Man hat sich damit abgefunden sozusagen?
Bude: Man hat sich damit abgefunden und ist im Grunde beherrscht von dem Gedanken, die Regie über das eigene Leben nicht mehr zu haben.
Spengler: Nun spricht ja Wolfgang Thierse von einer Klassengesellschaft. Diese Menschen, die Sie nun auch gerade benannt haben, würden Sie sagen, die machen so viel aus, dass wir von einer Klasse sprechen können?
Bude: Ich würde schon sagen, dass wir von einer Gruppe sprechen können, die durchaus dabei ist, eine bestimmte Art von Lebenszuschnitt auszubilden. Es gibt eine jetzt eher quantitativ nicht so erhebliche, weil auf einen bestimmten Raum nur beschränkte Untersuchung: Eine Umfrage bei Berufsschullehrern sagt, dass sie mit einer Gruppe von ausbildungsmüden Jugendlichen rechnen, die für sich selber - und das sind 20 Prozent - gar nicht das Gefühl haben, dass sich eine Ausbildung lohnt, die versuchen, anders durchzukommen, weil sie das Gefühl haben, dann wird man eh nicht übernommen, wenn man eine Ausbildung hat, und was bringt das für mich eigentlich.
Spengler: Nun haben wir gestern festgestellt in Statistiken und auch in der letzten Woche, dass viele ja tatsächlich auch keine Ausbildungsstelle bekommen.
Bude: Das ist richtig, aber viel wichtiger ist das Problem, dass es eine vermehrte Anzahl gibt, die man auch mit einer Ausbildungsstelle nicht erreichen würde. Das ist das Interessante.
Spengler: Woran liegt das?
Bude: Ich glaube, es hängt an zwei Punkten. Einerseits, dass sie zum Teil nicht glauben, wirklich in der Gesellschaft willkommen zu sein, weil sie zum Teil bestimmte ethnische Hintergründe haben.
Spengler: Also Einwanderer zum Beispiel?
Bude: Genau und auf der anderen Seite auch, weil sie es öfter erlebt haben auch in den Schullaufbahnen, dass sie schon relativ früh abgestempelt werden und gesagt bekommen, mit dir wird das eh nichts werden. Das Zweite ist sicherlich auch, dass es Möglichkeiten gibt, doch über die Runden zu kommen mit unterschiedlichen Einkommensarten, zu denen sicherlich auch das Transfereinkommen gehört.
Spengler: Eine vielleicht etwas, sage ich mal, nebensächliche Frage möchte ich trotzdem stellen. Ist der Aufstiegsgedanke vielleicht auch deswegen weg, weil er in der Gesellschaft generell weg ist, weil es ja zum Beispiel auch ganz wenige gibt, die wirklich sich dazu bekennen, zu einer Elite gehören zu wollen?
Bude: Ich würde es mal so sagen: Gesellschaftlich gesehen - und das geht weit in unsere Gesellschaft hinein - ist der Zusammenhang von Leistung und Erfolg unklar geworden. Welche Leistung muss ich eigentlich zu welchem Erfolg erbringen? Es scheint auch ganz viele Leute zu geben, die quasi ohne Leistung zu Erfolg kommen, was gerade die beeindruckt, die von unten sind. Aber auch in den Mittelschichten gibt es das Problem. Wenn Sie etwa an die Frage denken, was Eltern ihren Kindern raten sollen, welche Ausbildung sie nun eigentlich ergreifen sollen, wo sie studieren sollen. Da gibt es sehr viel Unklarheit und dieser Zusammenhang von Leistung und Erfolg ist sehr schwierig, denn die Botschaft ist ja, die man geben müsste: Es gibt keine Alternative zur Leistung, obwohl ich dir nicht sicher sagen kann, dass das auch zu Erfolg führen wird.
Spengler: War denn in früheren Zeiten - ich sage mal Ende der 20er Jahre oder nach dem Zweiten Weltkrieg, als dieser Aufstiegsgedanke doch sehr, sehr verbreitet war - war da der Zusammenhang von Leistung und Erfolg deutlicher erkennbar?
Bude: Ich glaube ja, vor allen Dingen, wenn Sie an die vielen Berufsbiographien von Angelernten denken, die heute eher schon im Vorwege aussortiert werden, weil man, wie ich finde, etwas übertriebene Vorstellungen von Assessment, wie man das heute sagt, hat. Der Handwerksmeister, der schaut, ja was hat der eigentlich für eine Geschichtsnote und sich überhaupt nicht fragt, was hat er eigentlich für eine Geschichtsnote gehabt, als er selber mit einem Hauptschulabschluss noch ein kleines Unternehmen gegründet hat. Es koppeln sich da Wissenskategorien von Bildung-, von Erfahrungskategorien ab und das ist deshalb eine absurde Entwicklung, weil wir mittelfristig wissen, dass die Lehrstellenmärkte leergefegt sein werden und das wirklich zu erheblichen Problemen führen wird.
Spengler: Haben Sie einen Schlüssel zur Bekämpfung der Armut oder um dieser "Unterschicht" oder wie auch immer man sie nennen mag, eine Perspektive zu geben?
Bude: Ich glaube, man muss erst mal ins Auge fassen, dass es wirklich um die Frage geht, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Es geht um so etwas wie Mut zu haben zum eigenen Leben und sicherlich auch eine Vorstellung zu haben, was sind gerechte Anstrengungen, die man abverlangen kann von jemandem, der etwa arbeitslos geworden ist, und wofür muss die Allgemeinheit ganz deutlich sagen, wofür sie bereit ist aufzukommen. Dieses Verhältnis von gerechter Anstrengung und glaubwürdiger Botschaft, wofür man aufkommt, das ist glaube ich im Augenblick relativ unklar.
Spengler: Tut der Staat möglicherweise zuviel des Guten, das heißt mit seinen vielfältigen Zuschüssen? Es wird ja keiner wirklich arm im Sinne, dass er hungern müsste. Hindert er die Leute daran, selbst aktiv zu werden?
Bude: Ich glaube, es gibt eine Unklarheit der Hilfen, weil sie so vielgestaltig sind. Es ist geradezu ein Gestrüpp von Hilfen. Und zweitens: Die Leute, die in der Verwaltung des Sozialen etwa für die Langzeitarbeitslosen zuständig sind, die Fall-Manager, sind von dem, was sie eigentlich tun sollen, mit welchem Wissen, mit welchen Vorstellungen sie an die Leute herangehen sollen, relativ allein gelassen. Denn jeder, der nur zehn Tage mit Langzeitarbeitslosen zu tun hat, weiß, es ist nicht nur eine Frage des Geldes, es ist nicht nur eine Frage materieller Bedrängnis.
Professor Heinz Bude: Guten Tag Herr Spengler!
Spengler: Wir dürfen die Gesellschaft nicht aufteilen, sagt Franz Müntefering. Kommt es denn darauf an, ob wir dürfen oder ob nicht, oder ist nicht vielmehr wichtig festzustellen, was die Wirklichkeit ist?
Bude: Ich glaube schon. Bleiben wir doch erst mal ein bisschen bei der Wirklichkeit. Was richtig ist und was jetzt versucht worden ist, mit verschiedenen Methoden nachzuweisen ist, dass es eine Menge Leute gibt - sagen wir es doch so -, die den Mut verloren haben aufgrund unterschiedlicher Bedingungen, aufgrund von unvorhergesehenen Betriebspolitiken der Unternehmen, aber eben auch die den Mut erst gar nicht finden, weil sie schon von Anfang an vor verschlossenen Türen stehen. Ich glaube, wenn wir zu Kurt Beck zurückgehen, dann ist es richtig, dass Kurt Beck darauf hingewiesen hat, dass diese Problematik des Verlustes von Handlungsautonomie, des Verlustes von Perspektiven für das eigene Leben nicht nur eine Frage des Einkommens oder der Transferzahlungen ist, sondern tiefgehender ist, auch etwas mit einer Kultur des Einrichtens in einer abgehängten Lage zu tun hat.
Spengler: Man hat sich damit abgefunden sozusagen?
Bude: Man hat sich damit abgefunden und ist im Grunde beherrscht von dem Gedanken, die Regie über das eigene Leben nicht mehr zu haben.
Spengler: Nun spricht ja Wolfgang Thierse von einer Klassengesellschaft. Diese Menschen, die Sie nun auch gerade benannt haben, würden Sie sagen, die machen so viel aus, dass wir von einer Klasse sprechen können?
Bude: Ich würde schon sagen, dass wir von einer Gruppe sprechen können, die durchaus dabei ist, eine bestimmte Art von Lebenszuschnitt auszubilden. Es gibt eine jetzt eher quantitativ nicht so erhebliche, weil auf einen bestimmten Raum nur beschränkte Untersuchung: Eine Umfrage bei Berufsschullehrern sagt, dass sie mit einer Gruppe von ausbildungsmüden Jugendlichen rechnen, die für sich selber - und das sind 20 Prozent - gar nicht das Gefühl haben, dass sich eine Ausbildung lohnt, die versuchen, anders durchzukommen, weil sie das Gefühl haben, dann wird man eh nicht übernommen, wenn man eine Ausbildung hat, und was bringt das für mich eigentlich.
Spengler: Nun haben wir gestern festgestellt in Statistiken und auch in der letzten Woche, dass viele ja tatsächlich auch keine Ausbildungsstelle bekommen.
Bude: Das ist richtig, aber viel wichtiger ist das Problem, dass es eine vermehrte Anzahl gibt, die man auch mit einer Ausbildungsstelle nicht erreichen würde. Das ist das Interessante.
Spengler: Woran liegt das?
Bude: Ich glaube, es hängt an zwei Punkten. Einerseits, dass sie zum Teil nicht glauben, wirklich in der Gesellschaft willkommen zu sein, weil sie zum Teil bestimmte ethnische Hintergründe haben.
Spengler: Also Einwanderer zum Beispiel?
Bude: Genau und auf der anderen Seite auch, weil sie es öfter erlebt haben auch in den Schullaufbahnen, dass sie schon relativ früh abgestempelt werden und gesagt bekommen, mit dir wird das eh nichts werden. Das Zweite ist sicherlich auch, dass es Möglichkeiten gibt, doch über die Runden zu kommen mit unterschiedlichen Einkommensarten, zu denen sicherlich auch das Transfereinkommen gehört.
Spengler: Eine vielleicht etwas, sage ich mal, nebensächliche Frage möchte ich trotzdem stellen. Ist der Aufstiegsgedanke vielleicht auch deswegen weg, weil er in der Gesellschaft generell weg ist, weil es ja zum Beispiel auch ganz wenige gibt, die wirklich sich dazu bekennen, zu einer Elite gehören zu wollen?
Bude: Ich würde es mal so sagen: Gesellschaftlich gesehen - und das geht weit in unsere Gesellschaft hinein - ist der Zusammenhang von Leistung und Erfolg unklar geworden. Welche Leistung muss ich eigentlich zu welchem Erfolg erbringen? Es scheint auch ganz viele Leute zu geben, die quasi ohne Leistung zu Erfolg kommen, was gerade die beeindruckt, die von unten sind. Aber auch in den Mittelschichten gibt es das Problem. Wenn Sie etwa an die Frage denken, was Eltern ihren Kindern raten sollen, welche Ausbildung sie nun eigentlich ergreifen sollen, wo sie studieren sollen. Da gibt es sehr viel Unklarheit und dieser Zusammenhang von Leistung und Erfolg ist sehr schwierig, denn die Botschaft ist ja, die man geben müsste: Es gibt keine Alternative zur Leistung, obwohl ich dir nicht sicher sagen kann, dass das auch zu Erfolg führen wird.
Spengler: War denn in früheren Zeiten - ich sage mal Ende der 20er Jahre oder nach dem Zweiten Weltkrieg, als dieser Aufstiegsgedanke doch sehr, sehr verbreitet war - war da der Zusammenhang von Leistung und Erfolg deutlicher erkennbar?
Bude: Ich glaube ja, vor allen Dingen, wenn Sie an die vielen Berufsbiographien von Angelernten denken, die heute eher schon im Vorwege aussortiert werden, weil man, wie ich finde, etwas übertriebene Vorstellungen von Assessment, wie man das heute sagt, hat. Der Handwerksmeister, der schaut, ja was hat der eigentlich für eine Geschichtsnote und sich überhaupt nicht fragt, was hat er eigentlich für eine Geschichtsnote gehabt, als er selber mit einem Hauptschulabschluss noch ein kleines Unternehmen gegründet hat. Es koppeln sich da Wissenskategorien von Bildung-, von Erfahrungskategorien ab und das ist deshalb eine absurde Entwicklung, weil wir mittelfristig wissen, dass die Lehrstellenmärkte leergefegt sein werden und das wirklich zu erheblichen Problemen führen wird.
Spengler: Haben Sie einen Schlüssel zur Bekämpfung der Armut oder um dieser "Unterschicht" oder wie auch immer man sie nennen mag, eine Perspektive zu geben?
Bude: Ich glaube, man muss erst mal ins Auge fassen, dass es wirklich um die Frage geht, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Es geht um so etwas wie Mut zu haben zum eigenen Leben und sicherlich auch eine Vorstellung zu haben, was sind gerechte Anstrengungen, die man abverlangen kann von jemandem, der etwa arbeitslos geworden ist, und wofür muss die Allgemeinheit ganz deutlich sagen, wofür sie bereit ist aufzukommen. Dieses Verhältnis von gerechter Anstrengung und glaubwürdiger Botschaft, wofür man aufkommt, das ist glaube ich im Augenblick relativ unklar.
Spengler: Tut der Staat möglicherweise zuviel des Guten, das heißt mit seinen vielfältigen Zuschüssen? Es wird ja keiner wirklich arm im Sinne, dass er hungern müsste. Hindert er die Leute daran, selbst aktiv zu werden?
Bude: Ich glaube, es gibt eine Unklarheit der Hilfen, weil sie so vielgestaltig sind. Es ist geradezu ein Gestrüpp von Hilfen. Und zweitens: Die Leute, die in der Verwaltung des Sozialen etwa für die Langzeitarbeitslosen zuständig sind, die Fall-Manager, sind von dem, was sie eigentlich tun sollen, mit welchem Wissen, mit welchen Vorstellungen sie an die Leute herangehen sollen, relativ allein gelassen. Denn jeder, der nur zehn Tage mit Langzeitarbeitslosen zu tun hat, weiß, es ist nicht nur eine Frage des Geldes, es ist nicht nur eine Frage materieller Bedrängnis.