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Nicht nur Rütli und Emsdetten

12,45 Millionen Schülerinnen und Schüler besuchten in diesem Jahr Schulen in ganz Deutschland. Die Bildungsausgaben lagen pro Kopf bei 5000 Euro. 250.000 Ehrenrunden wurden gedreht. Ein Jahresrückblick.

Von Katrin Sanders | 27.12.2006
    Das neue Jahr fing so an, wie das alte aufgehört hatte: mit schlechten Noten für das deutsche Schulsystem. UN-Sonderermittler Munoz war zu Besuch und sein Urteil stand schnell fest. Zu frühe Auslese, zu geringe Chancen für Migrantenkinder, so die Analyse. Dabei hatte der Gesandte der UN-Menschenrechtskommission nur Vorzeigeschulen gesehen. Trotzdem gab's sofort Kritik: Viel zu kurz sei der Experte aus Costa Rica dagewesen. Für ehrliche Insider dagegen war der Befund nichts Neues. Zu ihnen gehört Ute Erdsieck-Rave, zur Zeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz:

    " Er hat sich mit Sicherheit gut vorbereitet. In allen Bereichen stecken ja Probleme. Es sind keine neuen Probleme. "

    Auch die Lösungsvorschläge sind nicht neu. Falsch ist und bleibt: das frühe Sortieren von Kindern nach Zukunftschancen oder die Ausbildung von Lehrern, die noch immer lernen, Fächer zu unterrichten und nicht Kinder. Auch Halbtagsbildung müsste endlich abgeschafft werden. Doch Ganztagsschulen? In ganz Deutschland? Da gibt es noch die Bildungshoheit der Länder und einen sperrigen Tanker namens Föderalismusreform, die in diesem Jahr eben erst anlief, so Erdsieck-Rave:

    " Wir müssen differenzieren bei der Frage, in welchem System, in welcher Struktur wird das alles umgesetzt. Da gibt es unterschiedliche Meinungen in den Ländern. "

    Immerhin: Sie arbeiten dran. Etwa an Kernabsprachen, die in Zukunft dafür sorgen sollen, dass ein Kind zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz ohne Nachteile die Schule wechseln kann. Zähe Verhandlungen über Bildungsstandards - ganz erfolglos waren sie nicht, meint Ute Erdsieck-Rave:

    " Ich habe noch Hoffnung, dass ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit von Bund und Ländern in der Bildungsplanung möglich bleibt. Ich meine damit, dass wir Bildungsstandards, die in den Kernfächern verabredet sind, weiterentwickeln. Ich meine damit, dass wir ein gemeinsames Bildungsmonitoring weiter betreiben. Also es gibt, wenn man genauer hinschaut, viele gemeinsam Ideen. "

    Und während sich die Kultusminister der Länder im Käsekästchenverfahren näher kommen, waren neue, alte, vor allem laute Töne aus Berlin zu hören: Ein Hilferuf der Berliner Rütli-Schule. Das Thema ist nicht Dreisatz und Rechtschreibung, sondern Schwänzen und kein Respekt - voreinander nicht und längst auch nicht mehr vor den Lehrern. Schulleiterin Brigitte Pick kennt die Ursachen:

    " Wir haben jetzt eine Gruppe von Menschen, wo wir echt Probleme haben. Wo sollen sie denn in der Perspektive hingehen? Wo sollen sie denn einen Schulabschluss bekommen? Weil sie schon so zerstört und geschädigt sind. "

    Perspektiven wären gut, Jobaussichten, für es sich lohnte, zur Schule zu gehen.

    " Oft denkt man, die könnten mehr schaffen. Es gibt den theoretischen Aufstieg von der Hauptschule bis zum Abitur. Aber in der Praxis ist das so selten. Im Grunde genommen sage ich immer: Wir verwalten das soziale Elend, "

    sagt eine, die im nächsten Leben nicht mehr Lehrerin werden würde, sondern lieber Schreinerin. Weil man da einfach sehe, was dabei rauskommt.

    Ganz groß rauskommen wollte kurz darauf ein Schüler in Emsdetten. Keine Großstadt, kein Multiproblemmilieu und ein Sohn aus gutem Hause war es, der loszog und 37 Menschen verletzte.

    Gelernt hatte er den Amoklauf zu Hause am Bildschirm im Selbststudium. Counter Strike? Da war doch mal was vor ein paar Jahren in Potsdam. Für den Hirnforscher Manfred Spitzer ergeben sich logische Zusammenhänge:

    " Studien zeigen: Bildschirmmedien, und insbesondere Computerspiele machen tatsächlich dick, dumm und gewalttätig. Sie stören die Aufmerksamkeit. Sie führen zu Lese-Rechtschreibschwächen. Sie machen tatsächlich all das, was wir nicht wollen. Was mich wirklich wundert, dass es wirklich einen Amoklauf braucht, bis die Erkenntnisse wirklich in die Köpfe der Leute hineingehen. "

    Fraglich ist auch, ob es so schnell geht. Fünf Jahre schon sind vergangen seit Pisa die Bildungsnation aus tiefem Schlaf weckte. Deutsche Schüler im Mittelmaß und keine Folgestudie - auch in diesem Jahr nicht - wollte bessere Ergebnisse bringen. Eine verständliche Schockstarre nach Pisa machte Bildungsforscher Jochen Hörisch von der Uni Mannheim aus:

    " Man denkt, wahnsinnig gut zu sein und die anderen sagen: du bist eine ziemlich Flasche. Insofern war das ein Warnschuss und der hat wirklich wachgerüttelt auch mal genau hinzuschauen und sich keine falschen Illusionen zu machen. Und die ganzen Reformansätze, die dann gekommen sind, neue Bildungsforschung, Tendenz zur Gesamtschule, größere Emotionalsierung des Unterrichts: es hat Fortschritte gebracht. Krisen können produktiv sein. "

    Schulen ändern sich - nicht gewaltig, aber langsam. Und von manchen kann man schon gut abgucken. Am Ende eines langen Jahres wurden 18 "Schulen des Jahres" gekürt. Wirkliche Highlights mit Ganztagsbetrieb, Einzelförderung und vereinten Kräften. Etwa in die Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig gehen Schüler gern:

    " Weil wir eine Demokratie haben und uns nichts vorgesetzt wird. Lehrer möchten dass wir den Anschluss nicht verlieren, nehmen uns immer wieder mit. Also ist ziemlich gut die Schule. "