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Nicht tugendfrei

Ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg hat Benjamin Britten seine Oper "The Rape of Lucretia" geschrieben. Im Hinblick auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Opernhäuser im Europa der Nachkriegszeit konzipierte Britten ein Werk, das mit wenig Aufwand und einem kleinen Ensemble auskommt. Das Orchester beschränkte er auf 10 bis 15 Musiker, Sänger werden insgesamt acht gebraucht. In München wurde das Werk nun gestern Abend im Rahmen der Opernfestspiele gezeigt. Inhaltlich geht es in "The Rape of Lucretia", meist übersetzt mit "Der Raub der Lucretia", nicht um einen Raub, allenfalls um einen Raub der Ehre. Im von Etruskern besetzten Rom wetten römische Offiziere um die Treue ihrer Ehefrauen. Nur Lucretia lässt sich nicht verführen, wird vergewaltigt und begeht schließlich Selbstmord.

Von Holger Noltze |
    "Der Raub der Lukretia" – die gängige Übersetzung ins Deutsche beschönigt den Sachverhalt. Denn "The Rape of Lucretia" ist eben kein Raub, höchstens ein Raub von Ehre: Im Zentrum des Geschehens steht die Vergewaltigung der tugendhaften Lukretia. Titus Livius erzählt es, 25 vor Christus, in seiner "Römischen Geschichte", schon als Exempel einer ferneren Vergangenheit: Wie zur Zeit der etruskischen Herrschaft über Rom der Etruskerprinz Tarquinius die Frau des Römers Collatinus zum Ehebruch zwingt und diese sich, befleckt doch unschuldig, ein Messer ins Herz sticht. Dem späteren Christentum war der Fall Lukretia teuer, trotz des bleibenden Skandalons des Freitods. Indes, die Sünde verwehte sozusagen in höhere Sphären, sogar in die allerhöchste; ließ sich die reine Lukretia doch als Quasi-Präfiguration für den Opfertod Christi selbst ausdeuten. Das Blut wäscht die Sünde ab, ein Selbstopfer im Namen des Heils.

    Es kann auf den ersten Blick überraschen, dass Benjamin Britten sich 1946, der Krieg war eben vorbei, gerade die antike Reinheitstragödie der Lukretia als Stoff einer Kammeroper vornahm, ein Jahr nach der gewaltigen Wiederbelebung der britischen Oper mit "Peter Grimes". Und nicht nur dies: Ronald Duncans Libretto schreibt die Tradition der christlichen Ausdeutung der vorchristlichen Geschichte höchst explizit fort. Denn Duncan und Britten führten zwei Beobachter ein, einen weiblichen und einen männlichen "Chorus", die die Szenen kommentieren. "Durch Augen", singen sie, "die mit Christi Tränen weinten." Schon den Zeitgenossen schien das skandalös. Umso schwieriger der heutige Umgang mit den Jesus-der-Retter-Gesängen, die Britten den Deutern der Szene in den Mund legte, und sei es so verführerisch komponiert und so anrührend vorgetragen wie von Ian Bostridge:

    Deborah Warners eleganter, strenger Inszenierung gelingt nun das Kunststück, den emblematischen Charakter des Werks ernst zu nehmen, ohne dass es zu christlicher Propaganda gerät. Schrecklich schön das Schlussbild – die tote Schönheit Lukretia, wie sie in einem Meer bunter Blumen liegt. Ist das alles?, fragt der weibliche Chorus. Bang bleibt die Frage im Raum. Aber wenn dann der männliche Chorus antwortet, es ist nicht alles, weil Christus unsere Hoffnung ist, dann klingt diese Hoffnung ein bisschen brüchig und kein bisschen katholisch.
    Die Verschiebung der frohen Botschaft geschieht allerdings so diskret, die Schönheit stirbt in München so formvollendet, dass das Unternehmen Lukretia einer strengen Ideologiekritik womöglich nicht standhielte. Doch Deborah Warner zielt auf etwas anderes, auf die eigentliche Provokation des Stücks, und hier hat sie den Text und Brittens bei aller Direktheit unerhört vielschichtige Musik auf ihrer Seite. Sie zeigt die Vergewaltigung als ein scheiterndes Liebesduett.

    Tarquinius ist zu Beginn ein ewig tänzelnder Boxertyp von Feldherr, und dass das etruskisch-römische Heerlager irgendwie amerikanisch anmutet und unter dem Sternenzelt der wahrscheinlich irakischen Wüste aufgeschlagen ist, ist im Grunde gleichgültig; der Chef also ist ein Mann mit Muskelshirt von der Sorte, an deren Seite wir häufig Kampfhunde sehen: Christopher Maltmans Gewaltmensch Tarquinius ist aber nicht nur das, sondern er lässt den Gewaltmenschen sozusagen durchsichtig werden. Sichtbar wird, psychologisch betrachtet, eine "Ich-Schwäche" – erotisch betrachtet, eine Verführernatur. Wie ein Dieb in der Nacht schleicht er sich an das Bett der schlafenden Lukretia, zunächst fast scheu singt er sie an, und Lukretia, als sie erwacht, verwechselt den fremden schönen Mann nur einen Moment lang mit Ihrem Gatten, und dann macht Sarah Connolly, mit dunkel leuchtendem Alt, die Tugendheldin glaubhaft, gerade weil sie nicht unanfechtbar erscheint.

    In solchem Zwielicht beginnen nun die Figuren zu leben, die Gewissheiten aber zu wanken. Schlecht für den edlen Römer und Ehemann Collatinus, dem Alan Held hier weniger sonore Noblesse als eher Treuherzigkeit mitgibt. Dunkel sind die Hallen, die Tom Pye japanisch sparsam möbliert hat, in den Zwischenspielen gibt es als Zugabe noch ein bisschen schwarz-weiß-Kino; lustvoll räkelt sich ein Frauenkörper, rasend trabt der Mann in seinem Trieb. Über soviel Dunkelheit strahlt der hohe Sopran von Deborah Yorks Dienerin Lucia mühelos und nur bisweilen etwas zu geradlinig vibratolos hinweg.

    Was für ein Meisterstück an Verdichtung und schlackenloser Genauigkeit Britten mit "The Rape of Lucretia" geschaffen hat, erwies Ivor Bolton: Mit nur zwölf Musikern füllte er wie selbstverständlich das Prinzregentheater, den Münchener Bayreuth-Nachbau, und machte deutlich, was für eine große Sache eine Kammeroper sein kann, in der es um letzte Dinge geht