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"Nicht unbedingt ein rechtsstaatliches Verfahren"

Anne Lenze ist der Ansicht, dass die Festsetzung der Hartz-IV-Sätze willkürlich erfolgt ist. Anfang nächsten Jahres werde mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts über das Existenzminimum gerechnet.

Anne Lenze im Gespräch mit Jürgen Liminski | 08.10.2009
    Jürgen Liminski: Die Diskussion über das Bürgergeld, über die Abschaffung von Hartz IV, über die Reform des Sozialsystems und über die Höhe des Existenzminimums, sie hat begonnen. Dabei scheint nicht ganz klar zu sein, was das Existenzminimum überhaupt ist, wie es gemessen wird, ob die Sozialsysteme heute gerecht sind, was die Rahmenbedingungen dazu sagen. Einige Eckpunkte wollen wir jetzt erfahren im Gespräch mit Professorin Anne Lenze. Sie lehrt Sozial- und Familienrecht in Darmstadt. Guten Morgen, Frau Lenze.

    Anne Lenze: Guten Morgen.

    Liminski: Frau Lenze, jede Reform des Sozialwesens geht vom Existenzminimum aus. Wie ist dieses Minimum überhaupt definiert?

    Lenze: Fangen wir vielleicht doch noch mal einen Schritt vorher an. Dass es überhaupt gesichert werden muss, geht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zurück, das seit 1990 sagt, dass der Staat seinen mittellosen Bürgern die Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein durch Sozialleistungen sichern müsse. Der Gesetzgeber hat dann sozusagen einfachgesetzlich eine Entscheidung getroffen und hat gesagt, er will nicht nur das physische Überleben sichern, sondern auch ein sozio-kulturelles Existenzminimum gewähren. Das heißt, in einem vertretbaren Umfang sollen auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben zu diesem Existenzminimum gehören.

    Liminski: Kann man denn dieses Existenzminimum irgendwie in Zahlen fassen?

    Lenze: Ja. Man muss es in Zahlen fassen, aber natürlich vorher erst mal bestimmen, was gehört alles dazu und wie berechnet man das. Das ist ein relativ kompliziertes Verfahren und der Clou an der Sache war bei der Installation von Hartz IV, dass der Gesetzgeber zunächst schon sich im Gesetz auf einen Betrag festgelegt hat. Das waren dann 345 Euro für Alleinstehende, zuzüglich der Kosten für Heizung und Unterkunft. Und danach hat er erst das Verfahren in Gang gesetzt, wie dieses sich in die einzelnen Posten aufgliedert, und das war natürlich nicht unbedingt ein rechtsstaatliches Verfahren, weil eigentlich hätte es ja anders herum sein müssen. Man muss erst mal sagen, was soll denn unserer Meinung nach in Deutschland dazugehören, wie hoch soll das sein, und dann rechnen wir mal aus, was es alles bräuchte, um dieses Existenzminimum zu sichern. Aber es war eben in Deutschland genau anders herum im Jahre 2004.

    Liminski: Was hat denn das Bundesverfassungsgericht zu dieser Problematik gesagt? Hat es keine Vorgaben gegeben inzwischen?

    Lenze: Nein. Es gibt im Sozialrecht noch keine Vorgaben. Es ist noch nie der Regelsatz für Erwachsene oder für Kinder vom Bundesverfassungsgericht überprüft worden. Das wird sich ja jetzt ändern. Es gibt im Augenblick zwei Vorlagebeschlüsse von Gerichten. Einmal hat das Bundessozialgericht erhebliche Zweifel geäußert an dem Regelsatz für Kinder. Es hat gesagt, Kinder bekommen ja nur entweder 60 oder 80 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene und es ist nicht einsichtig oder überzeugend, dass zum Beispiel, was die Ernährung angeht oder Kleidung, Kinder einen geringeren Bedarf haben als Erwachsene. Hier muss der Gesetzgeber ein eigenes Verfahren installieren, um den Bedarf von Kindern decken zu können. Es gibt ferner noch einen Vorlagebeschluss des hessischen Landessozialgerichtes, der geht noch sehr viel weiter. Der teilt die Bedenken hinsichtlich des Regelsatzes für Kinder, sagt aber, generell ist die Regelsatzfestsetzung nicht rechtsstaatlich erfolgt. Ich will noch mal ein kleines Beispiel sagen, damit man sich das auch vorstellen kann. Der Gesetzgeber geht hin und hat vom Statistischen Bundesamt Daten, die belegen, welchen Verbrauch die 20 Prozent der untersten Haushalte in Deutschland genau haben, denn er sagt, die Hilfeempfänger sollen so gestellt sein wie die untersten 20 Prozent der Bevölkerung, sodass sie ein Leben führen können, ohne sofort als Hilfeempfänger auffallen zu können. Dann wird genau geguckt, was verbrauchen denn diese untersten 20 Prozent der Bevölkerung, und dann wird aber noch mal ein Abschlag für die Hilfeempfänger vorgenommen. Zum Beispiel wird dann gesagt, bei dem Posten für Kleidung, na ja, die Hilfeempfänger brauchen ja keine Maßkleidung oder keine Pelzmäntel, und dann wird einfach da noch mal ein Abzug von dem genommen, was die untersten 20 Prozent der Bevölkerung haben. Nun wird eingewandt und auch zu Recht, dass natürlich die allerärmsten der Gesellschaft sowieso keine Maßkleidung und keine Pelzmäntel sich anschaffen können. Da wird künstlich noch mal runtergerechnet und das ist die große Kritik auch an der Festsetzung der Regelsätze für Erwachsene.

    Liminski: Kann man hier von einer gewissen Willkür sprechen?

    Lenze: Ja. Interessanterweise hat der Ausschuss, der selber dabei war, dieses Verfahren zu gestalten, hinterher dem Bundesrat angeraten, diese Regelsätze so nicht zu verabschieden, weil es sich um willkürliche Setzungen handeln würde.

    Liminski: Demnach sind die Leidtragenden des aktuellen, vielleicht auch des geplanten Systems dann die Kinder vor allem?

    Lenze: Ja, Kinder generell. Ich möchte das aber noch mal ein bisschen erweitern. Das Interessante ist ja, wenn die Regelsätze zu niedrig wären, dass das nicht nur die Hilfeempfänger betrifft, sondern auch und vor allem auch die Steuerpflichtigen in Deutschland, die gerade keine Hilfe beziehen, sondern arbeiten und Steuern entrichten, denn in Deutschland muss ja auch seit den 90er-Jahren das Existenzminimum aller Familienmitglieder von der Besteuerung ausgenommen werden. Erst ab dem ersten Euro, den man über dem Existenzminimum verdient, setzt die Besteuerung ein und der Gesetzgeber hat es sich damals einfach gemacht und hat gesagt, wir haben ja schon ein Verfahren, um das Existenzminimum in Deutschland festzustellen, nämlich die Sozialhilfesätze, wir nehmen einfach die Sozialhilfesätze auch im Steuerrecht und schauen dann, wo wir die Besteuerung einsetzen. Das heißt also, wenn die Regelsätze für die Hilfebezieher zu niedrig sind, bedeutet dies, dass auch alle Steuerpflichtigen zu viel Steuern zahlen. Wenn vor allen Dingen die Kritik der Gerichte stimmt, dass die Regelsätze für Kinder willkürlich und zu niedrig sind, dann würden natürlich vor allen Dingen Familien mit Kindern hier ganz stark betroffen sein.

    Liminski: Sie sagten eben, es seien zwei Klagen anhängig in Karlsruhe. Wann sind denn die Urteile zu erwarten?

    Lenze: Es findet jetzt am 20. Oktober eine mündliche Verhandlung statt und es ist davon auszugehen, dass relativ bald auch entschieden wird, weil es hier natürlich um existenzielle Fragen geht und sich das Gericht hier nicht fünf oder sieben Jahre Zeit lassen wird, bis dann entschieden wird. Anfang nächsten Jahres wird eigentlich mit der Entscheidung gerechnet.

    Liminski: Diese Urteile könnten doch Einfluss ausüben auch auf die Entscheidungen, die jetzt bei den Koalitionsverhandlungen gefällt werden?

    Lenze: Ja und ich glaube auch, ich habe den Eindruck, dass die Festlegung, dass die Kinderfreibeträge auf 8000 Euro erhöht werden sollen, also praktisch um 2000 Euro erhöht werden sollen, hier schon im Vorgriff sicherlich die Entscheidung lenkt. Da wird befürchtet, dass das Gericht hier in die Richtung auch gehen wird. Dann hätte man sozusagen vorher schon den Wind aus den Segeln genommen.

    Liminski: Sozialsystem zwischen Willkür und Recht. Das war hier im Deutschlandfunk Professorin Anne Lenze aus Darmstadt. Besten Dank für das Gespräch, Frau Lenze.

    Lenze: Bitte schön! Auf Wiederhören.