Müller: Ist die jüngste Entwicklung im Iran mehr als eine parteipolitische Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Reformern?
Bindig: Ja, das ist sicherlich mehr als nur ein Konflikt zwischen einer Partei und dem konservativen Klerus. Man kann sagen, dass es im Iran einen ganz grundlegenden Konflikt gibt zwischen den Reformern, die seit Jahren erleben müssen, dass sie fast ohne Wirkung sind, wenn sie Politik machen und dem erzkonservativen Klerus, der hauptsächlich durch den Wächterrat repräsentiert wird.
Müller: Trotz eines reformerisch orientierten Präsidenten?
Bindig: Ja, der Präsident ist reformerisch, aber es gibt ein sehr verschränktes System im Iran. Wenn das Parlament einen Beschluss fast, dann gilt dieses noch nicht. Die Gesetze, die dort verabschiedet werden, müssen noch vom Wächterrat geprüft werden, der muss den Gesetzen zustimmen. Und in den letzten Jahren ist es so gewesen, dass rund 80 Prozent aller Gesetze vom Wächterrat wieder einkassiert wurden. Und ähnlich stark ist auch die Stellung des Wächterrates formal im System. Im Zusammenhang mit den Wahlen: Der Wächterrat hat eine große Zahl von Kandidaten zur Wahl nicht zugelassen, darunter auch mehr als 80 bereits amtierende Abgeordnete. Es hat den Versuch gegeben, auch unter einem gewissen Einfluss des geistlichen Führers, des Staatsoberhauptes Ayatollah Khamenei, dass man doch noch zu einer Lösung kommen sollte, aber der konservative Wächterrat treibt den Konflikt auch von seiner Seite weiter und im Gegenteil: Er hat die Zahl der Abgeordneten, die ausgeschlossen worden sind, sogar noch erhöht, nämlich von 80 auf 87, glaube ich.
Müller: Sind denn die religiösen, die geistlichen Führer im Iran, auch in Verbindung mit dem konservativen Wächterrat immer noch im Einklang mit der Bevölkerung?
Bindig: Nein, die Mehrheit der Bevölkerung hofft seit Jahren auf Reformen, sie haben deshalb ja auch den Präsidenten Chatami gewählt, auch viele reformorientierte Abgeordnete, es zeichnete sich aber in den letzten Jahren und vor allen Dingen in letzter Zeit ab, dass die Bevölkerung total ernüchtert war, weil sie gesagt haben: was nützt es eigentlich, wir gehen wählen und dann wird ein Parlament gewählt, dieses macht Gesetze und die werden dann wieder einkassiert. Deshalb ist die Auseinandersetzung jetzt schon sehr hart. Wenn ein Abgeordneter sagt, sie, im Wächterrat, wollen den hässlichen Körper der Diktatur mit dem schönen Gewand der Demokratie bedecken, also eine Scheindemokratie haben und im Kern ist doch noch die Diktatur des Wächterrates dort, das zeigt, wie die Fronten sich polarisieren und wenn der Wächterrat wiederum seinerseits gegenüber den demokratischen Institutionen sagt, sie unterminierten das islamische System, dann erkennt man, dass es hier wirklich zu einer totalen Konfrontation zwischen diesen Gruppierungen gekommen ist. Das Land steht schon auf dem Scheidepunkt im Moment, wo geht es hin, in die Richtung einer Demokratie oder Reform oder fällt es wieder zurück in eine sehr verschränkte Diktatur?
Müller: Den jüngsten Entwicklungen zum Trotz ist immer wieder zu lesen, dass der Iran dennoch grundsätzlich auf dem Weg zur Demokratie sei. Stimmt das?
Bindig: Das sehe ich auch so. Jetzt kommt es ein mal in einer entscheidenden Frage zur Konfrontation, aber an vielen Punkten auch im täglichen Leben, kann man sehen, dass es auch Fortschritte gegeben hat; auch in den Kleidungsvorschriften für die Frauen. Aber dieses geht ja nun auch dem Wächterrat zu weit und er will das zurückdrehen. Ich hatte selbst die Gelegenheit vor etwa einem halben Jahr, mit einem der konservativen Ayatollahs zu sprechen und er sprach schon damals von den "Feinden", die es im Parlament gebe. Das zeigt, dass sich das über einen längeren Prozess hin aufgebaut hat.
Müller: Wir haben in den vergangenen Monaten sehr viel über den Druck aus Washington auf Teheran gehört und da ging es in erster Linie um das vermeintliche Atomprogramm des Iran. Ein anderer Aspekt: gibt es eine europäische, eine deutsche Iran-Politik?
Bindig: Ja, schon, aber ich halte es – und das ist auch ein Teil einer solchen Iran-Politik – für sinnvoll, nicht zu stark von außen den Versuch zu unternehmen, zu intervenieren. Natürlich begleiten wir den Prozess, den die Reformer versuchen, mit positiver Grundtendenz und hoffen, dass die vorankommen, aber wenn man sich dort von außen zu stark engagiert, könnte das eher kontraproduktiv wirken, weil dann die konservativen Kräfte sagen könnten, hier kommt der verhängnisvolle westliche Einfluss und insbesondere der amerikanische Einfluss: Das würde eher wieder die Konservativen stärken.
Müller: Mit anderen Worten, wenn wir uns jetzt auf den Bundestag kaprizieren, hat das deutsche Parlament noch keine klaren Worte zur jüngsten Entwicklung gefunden?
Bindig: Schon, es ist so, wir auch von der deutsch-iranischen Parlamentariergruppe haben einen Solidaritätsbrief an die Reformer geschrieben, die im Parlament saßen, an die Abgeordneten, die hier ausgeschlossen werden sollen. Das macht klar, in welche Richtung die Sympathien gehen und die Regierung verfolgt dieses ganz genauso. Man hofft, dass die Reformer vorankommen, das ist auch die Politik der Bundesregierung.
Müller: Der SPD-Politiker Rudolf Bindig war das, Vorsitzender der deutsch-iranischen Parlamentariergruppe im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch.