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Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding"
Angst und Einsamkeit

In ihrem zweiten Roman zeichnet die Berliner Autorin Nicola Karlsson eine glaubhafte Milieustudie. Ein Haus im Stadtteil Wedding wird dabei zum Sinnbild einer Gesellschaft voll einsamer Seelen. Seine Bewohner quälen Ängste und Verzweiflung.

Von Björn Hayer | 29.03.2019
Buchcover: Nicola Karlsson: „Licht über dem Wedding“
Die Modebloggerin Hannah, der Alkoholiker Wolf und seine Tochter Agnes wohnen in demselben Haus im Wedding: An ihnen entfaltet Nicola Karlsson ein Gesellschaftspanorama (Buchcover: Piper Verlag, Foto: imago/Jürgen Ritter)
Alkoholiker, Kneipenphilosophen und gestrandete Existenzen – viele Romane unserer Gegenwart geben vor allem den Abgehängten eine Stimme. Während noch bis ins 20. Jahrhundert die Literaturgeschichte – mit einigen Ausnahmen – vor allem eine des mittleren und hohen Bürgertums war, setzen Schriftsteller wie Heinz Strunk, Sven Regener oder Rocko Schamoni inzwischen neue Akzente. Statt linear verlaufender Storys liefern sie pointierte Milieustudien zu uns oftmals wenig bekannten Daseinsbereichen der Unterschicht: meistens mit Humor, aber nie ohne die nötige Empathie.
Als ein ähnliches Kiez- oder Gesellschaftspanorama versteht sich der zweite Roman der Berliner Autorin Nicola Karlsson. "Licht über dem Wedding" erzählt von drei Protagonisten. Ganz unten angekommen ist Wolf. Nachdem der 45jährige seine Frau verloren hat, ertränkt er seinen tristen Alltag in Bier und Schnaps. Sein eigenes Scheitern setzt sich derweil im Leben seiner Tochter Agnes, der zweiten Hauptfigur des Werks, fort. Ihr drogensüchtiger Freund hat das Mädchen sitzen lassen und die Schule sie wegen Gewaltausfällen vom Unterricht ausgeschlossen. Im selben Haus des traditionellen Arbeiterviertels Wedding wohnt die Dritte im Bunde, die mittellose Modebloggerin Hannah. Obgleich alle drei ihre ganz eigenen Irrwege durch verkommene Freundschafts- und Beziehungsstrukturen gehen, eint sie ein übergroßes Gefühl: die Einsamkeit.
Es dominiert die Angst
Lediglich an einigen Stellen kreuzen sich die in jeweils abwechselden Erzählsträngen entfalteten Schicksale. Manchmal endet auch ein Kapitel mit einer sich schließenden Tür, bevor das nächste mit einer sich öffnenden beginnt. Dieses gewissermaßen filmisch-episodische Flecht-Verfahren sowie Karlssons weitestgehend lakonischer Sprachduktus vermitteln ein dichtes Gefühl für das trostlose Nebeneinander-Herleben inmitten urbaner Anonymität. Selbst wenn der Text von abgehalfterten Wendungen wie der "flirrenden Luft" oder dem Vogel im Käfig als Sinnbild für die innere Unfreiheit der Figuren durchsetzt ist, überzeugt er durch die glaubhafte Nähe, die er zu ihnen aufbaut. Immer wieder gleiten wir in Bewusstseinsströme, nehmen teil an den Selbstzweifeln und Unzulänglichkeiten von Wolf, Agnes und Hannah. Letztere verfällt im Zuge der Entfremdung von ihrem Freundeskreis und der Krebserkrankung ihrer Mutter der Depression. Angesichts dieser chaotischen Lage dominiert die Angst.
"[Sie] stieg aus ihrer Brust empor und flatterte unruhig über ihr. Das Dunkel um sie herum wurde schwärzer und das Gefühl des Alleinseins riesengroß. Sie schaltete schnell die Nachttischlampe ein, doch vor den langen Schatten, die sich in ihrem Zimmer aufwarfen, begann sie sich ebenso zu fürchten. Erst im Morgengrauen, als es leicht zu regnen begann, fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Das Letzte, was sie hörte, war das rhythmische Pochen der Tropfen auf ihrem Fensterbrett."
Hannahs stummer Schrei
Manchmal erinnern Hannahs dramatische Krisenmomente auch unmittelbar an Bilder der klassischen Moderne wie Edvard Munchs "Der Schrei":
"Sie riss den Mund auf und kreischte schrill ins Leere. Wollte die Realität abwenden. Wollte ein anderes Leben. Wollte ihr altes Leben. Ihre Mutter."
"Licht über dem Wedding" wird von einem zutiefst melancholischen Timbre getragen. Jenseits der deutlich naturalistischen Einfärbung fällt der Verzicht auf Ironie ins Auge, weswegen sich der Roman der Tendenz einer neuen Ernsthaftigkeit in der zeitgenössischen Literatur zuordnen lässt. Diese wendet sich gegen postmoderne Meta-Narration und ein uneigentliches Sprechen, setzt gerade in den Stimmen der jüngeren Autorengeneration auf eine Literatur existenzieller Bedeutsamkeit. Man könnte auch sagen: Die Suche nach Wahrheit und dem Echten kehrt zurück. Schonungslos liefert uns Nicola Karlsson daher der unverstellten Realität aus. Es ist ein Buch, das weh tut und für Wunden kaum Pflaster bereithält. Zugleich sind es aber genau jene schmerzenden Stellen, die dem Werk seine ungemeine Vitalität verleihen. Die Lektüre äußert sich somit als eine Erfahrungsreise. Sie nimmt ihren Anfang dort, wo Verdrängung gemeinhin einsetzt. Wir dringen in fragile Grenzbezirke vor, intensiv in jeder Impression.
Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding"
Piper, München, 304 Seiten, 20,00 Euro.