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Nicola Pugliese: "Malacqua"
Neapel unter Wasser

Nicola Pugliese schrieb nur einen einzigen Roman: "Malacqua". Darin lässt der 1944 geborene Autor Neapel im tagelangen Regen versinken. Eine nervöse Spannung breitet sich in der nasskalten Stadt aus. Die erste deutsche Übersetzung eines vergessenen Meisterwerks – leider mit Schwächen.

Von Dorothea Dieckmann | 19.11.2019
Die Altstadt von Neapel (Napoli) in Italien mit Blick über das Meer auf den Vesuv bei Regenwetter.
Vier unerbittlich nasse Oktobertage in Neapel: Gebäude stürzen ein, Seltsames geschieht (picture alliance / Peter Endig)
Zumindest für Nicht-Neapolitaner steht die Stadt Neapel für Licht, Lärm und buntes Leben unter einer mal heiteren, mal unbarmherzigen Sonne. Nicht so bei Nicola Pugliese, dem gebürtigen Mailänder, der Jahrzehnte seines Lebens als Journalist in der Stadt am Vesuv verbrachte. In seinem Roman "Malacqua", einer Wortschöpfung für "schlechtes Wasser", herrscht die Farbe Grau. Grau sind die Luft, das Meer und der Asphalt, die Wolken am Himmel und die Gemüter der Stadtbewohner. Denn es vergehen, wie der Untertitel verrät, "Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht." Die fahle Düsternis, die klamme Atmosphäre teilen sich dem Leser Seite für Seite mit, als würde ihn der Text selbst in einen schweren, feuchten Mantel hüllen.
"Wer die Augen hob, sah diesen Regenschleier über der Stadt, der sich bewegte und immer weiter fiel (...), und selbst die Gedanken waren nass und gestreift, und zutiefst gezeichnet von diesem feinen, vertikalen Regen, der in Wasserfäden, die sich verwirrten, fiel, und weiterfiel und sich mit dem bereits gefallenen Regenwasser vermischte und mit dem, das noch fallen würde."
Von der Kritik ignoriert
In vier Kapiteln schildert Nicola Pugliese die vier unerbittlich nassen Oktobertage. An der Via Tasso stürzt ein Gebäude ein und in der Via Aniello Falcone, wie im Jahr 1969 tatsächlich geschehen, ein ganzer Straßenabschnitt. Aber bei solch realistischen Geschehnissen bleibt es nicht. Stimmen dringen aus einem leeren Saal der Festung Castel Nuovo, Lire-Münzen singen Lieder, und die Neapolitaner erinnern sich, wie eines vergangenen Tages das Meer bis hoch in die Stadt anstieg. Italo Calvino, seinerzeit Lektor des Einaudi-Verlages, nahm den Roman des unbekannten Autors im Jahr 1977 in eine neue Reihe auf. Doch das Buch, von der Kritik weitgehend ignoriert, verschwand unter dubiosen Umständen bald vom Markt. Pugliese selbst, der danach nur noch einen späten Erzählungsband veröffentlichte, wollte nichts von einem Neudruck wissen. Laut seiner Familie verfügte er jedoch vor seinem Tod 2012, der Roman möge wieder erscheinen. Schon im Jahr darauf veröffentlichte Puglieses Freund, der Verleger Tullio Pironti, "Malacqua" postum und verkaufte die Rechte der Übersetzung in sechs Sprachen. So kommt es endlich zur Verbreitung eines zu Unrecht vergessenen Werks.
Ein wendiger Erzähler
"Malacqua" ist ein Roman ohne Entwicklung und ohne Hauptfigur. Aus einem Chor von Stadtbewohnern sticht die Stimme von Carlo Andreoli hervor, Journalist wie der Verfasser. Ein wendiger Erzähler schlägt sich durch das Stimmengewirr. Mal spricht er als Teil der betroffenen Einwohnerschaft, dann wieder als konventioneller Chronist. Wenn er eine der vielen Figuren einführt, die das Buch und die Stadt bevölkern, schlüpft er in ihre Haut, was ihn nicht hindert, sie zugleich direkt anzusprechen. Da ist etwa der Carabiniere Vincenzo Della Valletta, der zur Bewachung des Castel Nuovo abkommandiert wird und innerlich am Sinn der Maßnahme zweifelt. Plötzlich wird ihm vom Erzähler der Kopf gewaschen:
"Della Valletta Vincenzo, deine Zeit ist vorbei, sie ist gegangen, gegangen für immer, dir bleibt nur die Uniform, respektiere sie und scheiß drauf, schieb deinen Dienst unter dem strömenden Regen und so weiter und so weiter."
Verwandlung, Vernichtung, Erleuchtung
Mit bösem Vergnügen schildert Pugliese die nervöse Spannung, die die Stadt unter der nasskalten Depression heimsucht, die Ängste und Wünsche der kleinen Leute, die Hilflosigkeit der Ordnungskräfte und der Administration. Wie in einer bürokratischen Prozedur werden sämtliche Personen zuerst mit dem Nachnamen, dann mit dem Vornamen benannt: die Anwaltsgehilfin, der Gemüsehändler, der Pförtner oder der Lyriker, der vor einem fast leeren Saal ausgerechnet Gedichte auf seine Liebe zu Neapel vorträgt. Sie alle warten auf ein erlösendes Ereignis, sei es Befreiung, sei es Apokalypse – eine Erwartung, die der Erzähler mit ironischem Pathos beschreibt:
"(...) in der Luft und in den Netzen der Abwasserkanäle lag diese seltsame Mischung von Tod und Zukunft, von schmerzlichem Bewusstsein und Hoffnung. Welche eine Intensität bekommt das Leben im Angesicht des Todes, es erweitert sein Bewusstsein und rebelliert (...). Denn es ist sinnlos, weiter um den heißen Brei herumzureden, es ist absolut sinnlos: wir warten hier alle darauf, dass etwas geschieht."
Am Morgen des vierten Tages lässt er sein Alter Ego Carlo Andreoli in einem langen Finale die Varianten des Endes durchdeklinieren, während er sich vor dem Spiegel rasiert. In Visionen von Verwandlung, Vernichtung und Erleuchtung phantasiert er von der Rückeroberung der Stadt durch die Natur und erträumt sich schließlich einen fünften Tag, an dem früh die Sonne aufgeht, das Leben in die Stadt zurückkehrt und sich die drängende Frage nach dem Bevorstehenden in Nichts auflöst. Pugliese selbst hat angemerkt, dass sich die Schlussszene an den Beginn des "Ulysses" anlehnt. Der Essayist und Kritiker Giuseppe Pesce hat noch zu Puglieses Lebzeiten weitere Verwandtschaften herausgearbeitet, etwa zu den großen Zeitgenossen Carlo Emilio Gadda und Anna Maria Ortese, die die traditionelle Romanform ins Parodistische oder Phantastische wendeten.
Problematische Übersetzung
Kurz, es ist ein Glücksfall, dass dieses, in den Worten von Pesce, "kleine zeitlose Meisterwerk" von dem Verlag Launenweber in seine Reihe "italica" aufgenommen wurde – mit der Einschränkung, dass der Übersetzerin Barbara Pumhösel die Kühnheiten des eigenwilligen Textes offenbar nicht gefallen haben. Wortwiederholungen, eines von Puglieses herausragenden Stilmitteln, werden durch gefällige Variationen unkenntlich gemacht oder ganz getilgt. Fehlende Artikel, ebenfalls ein Markenzeichen des Romans, werden dagegen eingefügt, starke Bilder bisweilen durch ein erläuterndes "wie" zu zahmen Vergleichen herabgestuft: So wird etwa ein Kopf, der flieht und auf Zehenspitzen zurückkehrt, zu einem Kopf, der sich "wie auf der Flucht bewegt" und "wie auf Zehenspitzen" zurückkehrt. Den hiesigen Lesern wird damit ein Gutteil der Irritationen vorenthalten, die den Genuss dieses Solitärs ausmachen. Das ist umso trauriger, als sich der Autor selbst gegenüber Calvino mit den Worten: "Entweder so oder gar nicht" jede Änderung verbeten hatte. Denn Nicola Pugliese will mit seiner Sprache die abgenutzten Gewohnheiten durchbrechen, um zu den Stimmen des Untergrunds vorzudringen:
"Wie sollte man schließlich von der Angst erzählen, die missgebildet klettert, und ächzt und stöhnt (...), um eine unheimliche, nicht eindeutige Vorahnung auszudrücken (...), die verstümmelte Dekorationen mit hinunterzieht in das Abwasser der Angst."
Nicola Pugliese: "Malacqua"
Aus dem Italienischen von Barbara Pumhösel
Launenweber Verlag, Köln
232 Seiten, 24,00 Euro.