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Niederländischer Roman "Das Büro"
Der ganz normale Arbeitswahnsinn

Einen richtigen Hype verursachten die sieben Bände des insgesamt 5.200 Seiten umfassenden Romans "Das Büro" in den Niederlanden. Jetzt erscheinen sie auch auf Deutsch. Das Erstaunliche: Der Autor Johannes Jacobus Voskuil schildert darin nichts anderes, als den ganz normalen Arbeitsalltag.

Von Enno Stahl | 09.11.2016
    Drei selbstbewusste Teenager im Business-Look stehen und sitzen auf Aktenordnern und Büromöbeln
    Der ganz normale Bürowahnsinn ist Thema eines insgesamt 5.200-seitigen Romans. (imago/Westend61)
    "Auf dem Weg nach Hause, in der windigen Dunkelheit, fühlte er sich wie ausgelaugt. Er war müde. Alles erschien ihm sinnlos. Wohin er auch sah, überall gähnte ein schwarzer Abgrund."
    Ein Mann kommt von der Arbeit. Am nächsten Morgen wird er denselben Weg in entgegengesetzter Richtung nehmen. Der Romanzyklus "Das Büro" ist ein Phänomen: Es geschieht beinahe nichts darin. Zentraler Handlungsort ist ein wissenschaftliches Institut. Die Sprache ist schlicht, manchmal fast zu leicht gestrickt. Dennoch ist das 5.200-seitige Romanwerk des 2008 gestorbenen niederländischen Autors Johannes Jacobus Voskuil eine Sensation und einer der ersten Klassiker des neuen Jahrtausends.
    Geschrieben wurde das Buch zwischen Herbst 1990 und Januar 1995, angesichts des Umfangs eine gigantische Leistung. Voskuil schrieb sich damit offensichtlich die Last seines Lebens vom Hals: 30 Jahre lang, von 1957 bis 1987, hatte er als wissenschaftlicher Beamter im P.J.-Meertens-Instituut gearbeitet und dort einen Schlagwortkatalog mit Hunderttausenden von Einträgen zur Volkskultur angelegt. In der Hauptfigur seines Romans, Maarten Koning, schildert Voskuil nahezu autobiografisch, wie es ihm in jener Zeit erging. Auch die übrigen Personen des Buches sind wirklichen Menschen nachempfunden, seinen Kolleginnen und Kollegen, all den Wissenschaftlern, Funktionären und Zeitzeugen, die er während seines Arbeitslebens traf.
    In den Niederlanden war das Buch, das 1996 bis 2000 in sieben kiloschweren Wälzern erschien, ein phänomenaler Erfolg. Die Begeisterung der Leser, ihre Begierde, des jeweils neu erscheinenden Bandes habhaft zu werden, nahm dort Harry-Potter-artige Züge an. Als das reale Meertens Instituut an den Rand von Amsterdam zog, wurden auf vielfältigen Wunsch Führungen in den ehemaligen Räumen abgehalten. Zwischen den zahlreichen Besuchern standen frühere Kollegen Voskuils, die im Buch an sich wenig schmeichelhaft porträtiert werden. Sie trugen Namensschilder, mit denen sie sich als die jeweilige Romanfigur auswiesen. Und steuerten gar kleine Theatereinlagen bei. Warum nur gerieten unsere holländischen Nachbarn derart in Verzückung? J. J. Voskuil selbst erklärte sich das in einem Interview so:
    "Menschen klammern sich natürlich an ihre Arbeit. Und wenn dort etwas nicht so gut läuft oder wenn sie Probleme mit ihren Kollegen haben, drängen sie es weg, weil sie es nicht zulassen können. Sie meinen, dass es nur ihnen allein so geht, denn darüber wird nicht geredet. Das Buch zeigt ihnen, dass dem nicht so ist. Und ich glaube, darin liegt der Trost. Das Gefühl von Einsamkeit, das man hat, das Gefühl, jeden Moment vor die Tür gesetzt werden zu können, das erhält hier seine Form, wird sichtbar."
    Der öde Gleichlauf eines Büroalltags
    Der öde Gleichlauf eines Büroalltags, gewürzt mit Intrigen, nur das wirkliche Leben also – den Niederländern scheint es gegeben, mit amüsierter Distanz darauf zu blicken. Ob dem deutschen Publikum solche Selbstironie ebenfalls zu eigen ist?
    Die Probe aufs Exempel macht der Verbrecher Verlag, der sich der deutschen Ausgabe angenommen hat – sicherlich ein riskantes Unterfangen. 2012 hatte C. H. Beck das erste Buch der Romanreihe "Direktor Beerta" herausgebracht, inzwischen fast vergriffen, die Ausgabe dann aber nicht weiter geführt. Im Verbrecher Verlag sind nun die Bände zwei, drei und vier erschienen, vor Kurzem folgte der fünfte Band "Und auch Wehmütigkeit" und – ganz aktuell – ermöglicht eine Neuausgabe des ersten Bandes, sich in dieses Roman-Universum hineinzubegeben. Eine enthusiastische Fangemeinde hat Voskuil hierzulande bereits gefunden, wenn auch nicht so umfangreich wie in seinem Heimatland.
    Ganz am Anfang, 1957, kommt Maarten Koning beinahe zufällig zu seinem Job im Büro, der Leiter des Instituts Anton Beerta bietet ihm eine Stelle als wissenschaftlicher Beamter an. Maartens Motivation ist denkbar gering. Und seine Frau Nicolien, ziemlich links und ziemlich rapulent, macht ihm heftige Vorwürfe, dass er überhaupt in Erwägung zieht, zu arbeiten. Ihre unkontrollierten Wutausbrüche aus den abstrusesten Gründen werden den Leser den gesamten Zyklus hindurch begleiten.
    Maarten Koning findet sich schnell in der Büroroutine ein; so ernsthaft er seine Pflicht erfüllt, so unsinnig scheint ihm die Arbeit zur gleichen Zeit. Was kann auch spannend daran sein, die Nachgeburt des Pferdes zu beforschen – wird sie vergraben oder aufgehängt? –, um daraus Verbreitungskarten dieses kulturellen Phänomens abzuleiten?
    Die Kontakte zu seinen Kollegen empfindet Maarten als ungemein problematisch, ebenso minutiös wie masochistisch registriert er das kommunikative Scheitern auch noch der kleinsten Unterhaltung:
    "Er fragte sich, was ihm in seinem Leben so unsicher machte und ihm im Nachhinein immer das unglückliche Gefühl gab, falsch gehandelt zu haben."
    Fast gegen seinen Willen steigt Maarten auf und wird Leiter der Abteilung Volkskultur. Sein Chef Beerta würde ihn gerne zu seinem Nachfolger machen. Doch Karriere ist Maarten ein Gräuel, er überlässt diesen Posten seinem zielstrebigeren Kollegen Balk, dessen striktes Regiment ihn später zutiefst quält.
    Man will wissen, wie es weitergeht
    Was die Lektüre des "Büros" so vergnüglich macht, sind die täglichen kleinen Sticheleien und Streitigkeiten, der Klatsch, die Wissenschaftsintrigen, und natürlich die Figurenzeichnungen. Je weiter man liest, desto weniger kann man davon genug bekommen: Ad Muller, der sich andauernd aus fadenscheinigen Gründen krankmeldet; Bart Asjes, ein Querulant, der nicht nur stets anderer Meinung ist, sondern dazu noch endlos darüber diskutieren will; verschiedene Frauen, die wie Joop aus Lebenslustigkeit, wie Lien aus Unsicherheit oder Sien aus übertriebenem Ehrgeiz auch auf keinen grünen Zweig kommen – sie alle werden zu alten Bekannten. Gerade darin liegt der Suchtfaktor des Romans, weswegen man ihn verschiedentlich als literarische Seifenoper bezeichnet hat. Der Rezeptionsmodus ist ganz ähnlich: Wie in TV-Serien will man einfach nur wissen, wie es weitergeht, egal, wie langweilig oder alltäglich es auch sein mag.
    Ein Highlight der ersten drei Bände ist Maartens Beziehung zu Beerta, mit dem er sich permanent kleine Satirescharmützel liefert. Beerta etwa schanzt Maarten mit sardonischer Lust irgendwelche ungeliebten Aufgaben zu, Aufsätze, Vorträge, Redaktionsbeteiligungen. Durch ihn wird Maarten in den europäischen Forschungskontext einbezogen und in so bedeutende Kommissionen bugsiert, wie die des Bauernhausvereins oder des Seemuseums, wo er enervierend-sinnlose Sitzungen über sich ergehen lassen muss. Hier wie auf internationalen Kongressen fühlt Maarten sich noch verlorener und unglücklicher als sonst schon, Besserung ist nicht in Sicht:
    "Wie alt war er jetzt? Und all die Jahre hatte sich bei ihm nichts geändert. Angst, Bedrohung, Unsicherheit."
    Aus diesem Gefühl heraus entwickelt Maarten große Aggressionen gegen die feindliche Umwelt, den Dschungel:
    "Ich bin nicht für Menschen geschaffen, dachte er. Ich bin für ein Loch geschaffen, in dem ich alleine hocke, mit einem Maschinengewehr."
    Nur zu Hause bei Nicolien fühlt er sich in Sicherheit. Maarten ist als Leiter keine große Leuchte, einerseits setzt er auf basisdemokratische Strukturen, andererseits entscheidet er am Ende alles selbst, per Veto oder indem er jeden Einwand wegargumentiert. Wiewohl oft darauf hingewiesen, vermag er nicht zu erkennen, dass gerade diese nur vorgegebene Mitbestimmung seine Mitarbeiter davon abhält, selbst Verantwortung zu übernehmen.
    Während das Institut in den 1960er- und 1970er-Jahren fast unangefochten vor sich hinwurschteln kann, weder Etat noch wissenschaftlicher Output auf dem Prüfstand stehen, dreht sich in den 1980er-Jahren der Wind. Das zuständige Ministerium droht mit Controlling-Maßnahmen. "Das Büro" liefert damit auch so etwas wie eine europäische Geschichte angestellter Arbeit. Und im Speziellen der Veränderung des Wissenschaftssystems unter wachsendem ökonomischem Druck.
    Dass nun fünf Bände dieser grandiosen Saga der Arbeitswelt auf deutsch erschienen sind, ist eine wahre Freude – wenn man jetzt mit der Lektüre beginnt, ist die Chance gut, dass man zum Ende der Reihe, das auf 2017 projektiert ist, gerade auskommt. Man muss nicht so weit gehen wie ein niederländischer Rezensent, der bekundete, dass er nun, nachdem er das ganze Opus gelesen habe, in Frieden sterben könne. Aber ein bisschen Frieden, ein bisschen Wehmut und ein bisschen Altersweisheit wird man darin durchaus für sich finden können.
    Johannes Jacobus Voskuil: "Das Büro", Band 5: Und auch Wehmütigkeit / Band 1: Direktor Beerta
    Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 990 Seiten, Preis: 32,00 Euro / 848 Seiten, Preis: 29,00 Euro