Die Mutter von Fleur van Putten liegt auf Rozenburgh begraben, einem kleinen Friedhof in Voorschoten bei Den Haag. Sie starb mit 59 Jahren, sie hatte Krebs. Ihre Tochter und ihr Mann waren bei ihr, als der Hausarzt ihr die tödliche Injektion gab.
"Meine Mutter wollte sich die letzten allerschlimmsten Wochen ersparen", erzählt Fleur. "Deshalb hatte sie sich für Sterbehilfe entschieden. Sie wollte friedlich sterben. Und in Würde."
Jacqueline van Putten erfüllte alle Kriterien, um für Sterbehilfe infrage zu kommen: Sie war unheilbar krank ohne Aussicht auf Genesung, ihr Leiden unerträglich, und sie hatte den Wunsch zu sterben selbst mehrfach ausdrücklich geäußert.
Auch ihr Arzt hielt sich an die Richtlinien: Er zog einen Kollegen zurate und meldete den Fall umgehend einer der fünf Prüfkommissionen für Sterbehilfe. Sie kontrollieren, ob der Arzt sorgfältig gehandelt hat oder strafrechtlich verfolgt werden muss.
4.800 Fälle von Sterbehilfe
So weit ist es seit der Verabschiedung der gesetzlichen Sterbehilferegelung 2002 noch nie gekommen. Und das, obwohl sich die Zahl der geleisteten Sterbehilfefälle seitdem mehr als verdoppelt hat - von rund 2.000 auf 4.800. Das sind 3,4 Prozent aller Sterbefälle in den Niederlanden.
Zurückgeführt werden könne diese Steigung weder auf die Vergreisung der Gesellschaft noch auf immer mündiger werdende Patienten, stellt die NVVE klar, die Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende. Die NVVE gehört zu den Pionieren der niederländischen Sterbehilferegelung und hat sich mehr als 30 Jahre dafür eingesetzt. Sprecherin Stefanie Michelis:
"Die Ärzte trauen sich immer mehr, von der Sterbehilferegelung Gebrauch zu machen, das ist es. Sie sind besser informiert und nehmen sich den Raum, den das Gesetz ihnen bietet."
Bislang ging es in den weitaus meisten Fällen um krebskranke Patienten im Endstadium. Doch deren Anteil ist von 90 auf 75 Prozent gesunken: Inzwischen bekommen auch immer mehr Menschen mit Herz- und Kreislauf- oder Nervensystemerkrankungen wie ALS Sterbehilfe. Psychiatrie- und Alzheimerpatienten, Senioren, die an sogenannten multiplen Alterserkrankungen leiden, sprich: sich nicht mehr bewegen können, inkontinent sind und darüber hinaus auch noch blind und taub. Auch sie können sich auf die Sterbehilferegelung berufen, so NVVE-Sprecherin Michelis:
"Es geht um unerträgliches und aussichtsloses Leiden, das ist das Ausschlaggebende. Und dieses Leiden kann sowohl körperlich als auch psychisch sein. Und dafür braucht man auch nicht terminal krank zu sein."
"Sterbehilfe ist kein selbstverständliches Recht"
Aber: Nicht alle Niederländer teilen diese Ansicht. Nicht nur für Sterbehilfegegner ist damit eine rote Linie überschritten worden.
So hat der Ethiker Theo Boer von der Universität Groningen in den letzten Tagen eine gesellschaftliche Diskussion ausgelöst, als er seinen Austritt aus einer der fünf Prüfkommissionen für Sterbehilfe bekanntmachte. Neun Jahre lang hat er ihr angehört und in dieser Zeit 4.000 Sterbehilfedossiers bearbeitet. Mehrmals war er nicht einer Meinung mit den beiden anderen Kommissionmitgliedern. Aber dennoch wurde in den betreffenden Fällen mit einer 2:1-Mehrheit entschieden, dass der Arzt sorgfältig gehandelt hatte.
Für Theo Boer war die Schmerzgrenze erreicht. Sterbehilfe werde viel zu schnell und zu oft geleistet und dann als sorgfältig befunden, klagte er in den niederländischen Tagesthemen. Das habe er nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren können.
In allen Fällen hat der Patient zwar selbst sterben wollen. In allen Fällen hat das Gesetz den dafür nötigen Raum geboten. Aber, so der niederländische Ethiker: Sterbehilfe sei kein selbstverständliches Recht, auf das jeder pochen könne. Altwerden und Sterben gehe nun einmal einher mit Gebrechen und körperlichem Verfall. Das habe der Mensch zu akzeptieren. Auch anno 2014:
"Was ich mir wünsche, ist eine breite Diskussion darüber, ob die Sterbehilfe, so wie sie sich entwickelt hat, für eine Gesellschaft wirklich erstrebenswert und wünschenswert ist. Wie wollen wir in 30 Jahren sterben? Dieser Frage müssen wir uns stellen."