Freitag, 03. Mai 2024

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Niedrige Wahlbeteiligung in Frankreich
Das große Schweigen der französischen Intellektuellen

Nach den Regionalwahlen in Frankreich macht sich im Land Ernüchterung breit: Zwei Drittel der Bevölkerung ging gar nicht erst zu den Urnen. Eine Gefahr für die Demokratie? Frankreichs Intellektuelle äußern sich nicht dazu. Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte hat eine Begründung dafür.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Dina Netz | 11.07.2021
Das Bild zeigt die Füße von Emmanuel und Brigitte Macron in einer Wahlkabine
Emmanuel Macrons Partei "La République en Marche" hat bei den französischen Regionalwahlen schlecht abgeschnitten (picture alliance / abaca | Pool/ABACA)
Nicht nur Emmanuel Macrons Partei "La République en Marche" hat bei den französischen Regionalwahlen schlecht abgeschnitten, auch das rechtspopulistische Rassemblement National blieb hinter den eigenen Ansprüchen zurück: Der RN konnte keine Region für sich gewinnen. Und auch nach den Wahlen bleiben die Umfragewerte für die Parteien schlecht.
Der Leiter der Task Force für die Beziehungen der EU mit Großbritannien, Michel Barnier, bei einer Rede im Europaparlament in Brüssel 
Nach der Regionalwahl ist vor der Präsidentschaftswahl
Der frühere Vizepräsident der EU-Kommission, Michel Barnier, sieht Chancen für einen Machtwechsel nach der kommenden Präsidentschaftswahl in Frankreich. Das Land sei lange im Alleingang regiert worden, sagte er.
Der französische Politologe Bruno Cautrès spricht deshalb schon von einem "demokratischen Kollaps", dem Frankreich drohe. Denn schon 2022 wird ein neuer Präsident gewählt, und nach den Regionalwahlen ist jetzt der Wahlkampf eröffnet. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte sieht die politische Situation nicht ganz so dramatisch: "Man muss daran erinnern, dass die Regionalwahlen eine relativ neue Instanz sind". Es gibt sie erst seit 1986, sie sind damit ein französisches Abstraktum geblieben: "Die Regionalwahlen stehen den Leuten nicht besonders nahe".

Le Pen hat "sehr viel Kreide gefressen"

Trotzdem ist Marine Le Pen gerade beim Parteikongress mit 98 Prozent wiedergewählt worden. Ritte ist davon überzeugt, dass sich die Politikerin um Normalisierung bemüht. Sie habe "sehr viel Kreide gefressen" und "alles Mögliche versprochen": Während sie noch im letzten Wahlkampf versprochen habe, dass Frankreich Europa verlassen sollte, sage sie nun exakt das Gegenteil. Doch mit dieser Politik konnte Le Pen offensichtlich ihre Wählerschaft nicht mobilisieren.
Die Vorsitzende des Rassemblement National, Marine Le Pen, steht auf einer Bühne vor einem Transparent "Une France". Sie hält einen Blumenstrauß und lacht, hinter ihr stehen viele klatschende Menschen, die FFP-Masken tragen. 04/07/2021
Marine Le Pen, Vorsitzende des Rassemblement National, auf dem Parteitag in Perpignan nach Verkündung des Wahlergebnisses (IMAGO / ThierryBreton / Panoramic)
Die Kultur hat diesen Schlingerkurs zwar öffentlich kritisiert, allerdings hätten sich prominente Intellektuelle wie Alain Finkelkraut noch nicht zu Wort gemeldet: "Ein Zeichen dafür, wie wenig die Regionalwahlen die französische Debatte betreffen."
Frankreichs Kultur ist vielleicht noch zu viel mit sich selbst beschäftigt: Durch Corona habe die französische Kultur einen Einbruch von 25 Prozent zu verkraften, weiß Jürgen Ritte. "Wenn man davon ausgeht, dass in Frankreich die Kultur 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht, dann hat man eine Vorstellung davon, wie hoch die Verluste sind." Während sich der Buchhandel relativ gut halten konnte, lägen die Einbrüche bei den Theatern bei 78 Prozent. "Eine schreckliche Bilanz", resümiert Jürgen Ritte.