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"Niemand darf in den roten Bereich rutschen"

Der Sozialphilosoph Detlev Horster hat sich dafür ausgesprochen, die Menschenwürde zur Grundlage der Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu machen. Er glaube, "dass wir eine auf Gleichheit basierende Gerechtigkeit für unsere Gesellschaft heute, die diese Diskrepanzen von Arm und Reich hat, so nicht mehr gebrauchen können." Es müsse ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleistet sein.

Moderation: Michael Köhler |
    Michael Köhler: In fünf deutschen Großstädten hat der Deutsche Gewerkschaftsbund gestern mit Demonstrationen gegen den Reformkurs der deutschen Bundesregierung begonnen. Der DGB wirft der Großen Koalition eine sozial ungerechte Politik vor und fordert ein Umsteuern bei Gesundheit, Renten und Steuern. Die vor kurzem veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über neue Armut in Deutschland hat eine Debatte um Unterschicht und neues Proletariat ausgelöst und in Erinnerung sind zudem die Skandale um Vodafone- und Deutsche-Bank-Manager Esser und Ackermann. Die Entlassungen bei ehedem sicheren Arbeitgebern wie Allianz, Gerling, Siemens, Zürich Versicherung, VW und anderen kommen auch hinzu.

    Das alles zusammen hat auch die Frage nach der gerechten Gesellschaft, dem Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit, wieder lauter werden lassen. Und das möchte ich mit dem Hannoveraner Sozialphilosophen Detlev Horster besprechen, der dazu gerade auch veröffentlicht hat. Ist die Grundfrage vielleicht, ob eine Gesellschaft nur dann gerecht sein kann, wenn sie auch Gleichheit ermöglicht und durchsetzt?

    Detlev Horster: Wir sind als Philosophen 2000 Jahre gewohnt, die Gerechtigkeit auf Gleichheit zu basieren. Wir haben also erst einmal die verteilende Gerechtigkeit, also gleiche Verteilung für alle, dann haben wir die ausgleichende Gerechtigkeit, dass für Leute, die weniger haben, ein Ausgleich geschaffen werden soll. Und dann haben wir die Leistungsgerechtigkeit, die auch auf Gleichheit basiert und die sagt, dass für gleiche Leistung auch gleiches Geld, gleicher Lohn gezahlt wird. Und ich glaube, dass inzwischen bis in verschiedene Diskussionsrunden vorgedrungen ist, dass wir eine auf Gleichheit basierende Gerechtigkeit für unsere Gesellschaft heute, die diese Diskrepanzen von Arm und Reich hat, so nicht mehr gebrauchen können.

    Sie haben angesprochen Herrn Esser, der für die Fusion von Vodafone und Mannesmann 30 Millionen bekommen hat für neun Monate Arbeit und der dann umgerechnet einen Monatslohn von 3,7 Millionen hat. Und der gesagt hat, na ja, also wenn jemand anders das gemacht hätte, diese Arbeit, dann hätte er den gleichen Lohn bekommen wie ich, also für gleiche Leistung gleichen Lohn. Die argumentieren also immer mit der Gleichheit. Meines Erachtens müssen wir uns umstellen und Gerechtigkeit auf Menschenwürde basieren.

    Köhler: Das ist ja dann ein Kategorienwechsel, könnte man sagen, also eine politische Kategorie.

    Horster: Ja, ich würde sagen das ist so. Wenn wir bisher gesagt haben, Gerechtigkeit basiert auf Gleichheit, dann haben wir dieses Bild der Balkenwaage, auf beiden Seiten das Gleiche. Und ich denke, wir müssen uns an ein anderes Bild gewöhnen, nämlich an das Bild der Küchenwaage. Und auf der Küchenwaage gibt es dann einen roten Bereich und einen grünen Bereich, und wo die Grenze ist, zwischen roten und grünen Bereich, unter diesen Bereich darf niemand sinken. Das heißt also, alle müssen so viel haben, dass sie menschenwürdig leben können und darüber hinaus darf es dann natürlich Ungleichheiten geben. Aber wenn Sie sich einfach einmal ansehen, was bedeutet das einfach, wenn wir sagen, es ist nicht gerecht verteilt in unserer Gesellschaft: Da gibt es Schichten, da gibt es einzelne Menschen, die darunter leiden und nicht menschenwürdig leben können.

    Wenn Sie montags morgens einfach einmal in die Flure der Sozialämter gehen und in die Augen schauen, dann sehen sie den gebrochenen Blick der Menschen. Oder wenn jetzt der Winter beginnt, dann sehen Sie wieder in den Kaufhäusern, in diesen Wärmebereich, dass abends sich die Menschen da ausbreiten, um da schlafen zu können und es einigermaßen warm zu haben. Ich denke, das sind Dinge, wo handgreiflich ist, dass da die Menschenwürde nicht gewahrt ist. Und ich denke, das ist etwas, was wir in der Gesellschaft herstellen müssen. Auch auf diesem Niveau sind solche Leute wie Esser und Ackermann ja überhaupt ansprechbar, dass man ihnen sagt, kuckt mal, ihr wollt ja auch nicht, dass Menschen unwürdig leben, und da würden die auch sofort zustimmen. Nur auf der Ebene der Gleichheit - ich nannte eben das Beispiel, mit Herrn Esser, der das ja überall verkündet hat in dieser Weise - sind die Leute nicht ansprechbar, weder Ackermann, noch Esser, noch sonst wer.

    Köhler: Eine Gesellschaft, um jetzt einmal politische Konsequenzen oder kulturelle Konsequenzen aufzuzeigen, erleidet ja dann auch so etwas wie, ich nenne das einmal Loyalitätsverluste, von Arbeitnehmern, von Angestellten, letztlich sogar Demokratieeinbrüche, wenn sie nicht gerecht eingerichtet ist, oder wenn die Bürger das Gefühl haben, sie sei nicht mehr gerecht eingerichtet. Mit den sozialen Veränderungen können ja dann auf lange Sicht auch Werte verloren gehen, also das, was man auf der Linken vielleicht Solidarität nannte oder auf der Rechten Subsidiarität.

    Horster: Ja, nicht nur das. Also ich glaube, dass wir im Augenblick eine Krise der politischen Repräsentation haben. Also je weiter sich die Politiker vom Volk entfernen, je weiter sich also solche Leute wie Esser und Ackermann von dem Volk entfernen, desto größer wird das Protestpotential, das Wutpotential, das sich aufstaut. Und ich denke, wenn man so weitermacht, dann werden wir etwas erleben, was in die Katastrophe führt, also eine Implosion oder Explosion. Und viele Politikwissenschaftler werden mir da zustimmen, die solche Prognosen also heute auch schon stellen. Und deswegen denke ich, muss es da ein wirklich grundlegendes Umdenken geben. Und deswegen bin ich der Auffassung, dass wir Gerechtigkeit eben nicht mehr auf Gleichheit basieren, sondern auf Menschenwürde.

    Köhler: Nun kennen Kinder ja so eine ganz naive, eigene, kindliche Gerechtigkeit. Sie geben beim Wettkampf dem offensichtlich Benachteiligten, vielleicht dem Jüngeren oder Schwächeren, oder dem Langsameren einen Vorsprung - wohl wissend, dass sie den auch wieder einholen werden, setzen also die Leistungsgerechtigkeit befristet außer Kraft.

    Horster: Ja, das können Sie auch an der Schule erleben. Ich habe das erlebt - wir müssen hier an der Universität Hannover auch Schulpraktikanten betreuen - da habe ich das erlebt, dass gesagt wurde von den Kindern: Na ja, also der hat von zuhause nicht so gute Voraussetzungen wie wir. Also wir kommen aus einem Bildungshaushalt, unsere Eltern sind wohlbetucht und haben natürlich da einen Leistungsvorsprung. Aber die haben sich angestrengt, die haben sich viel mehr angestrengt als wir und die müssen dafür belohnt werden. Also Kinder haben dieses was ich eben genannt habe, dieses Gerechtigkeitsgefühl haben Kinder noch und das ist ganz eigentümlich. Und man muss sich da die Frage stellen, ob das bei Erwachsenen verloren gegangen ist.

    Köhler: Ich wollte mit dieser Frage auf etwas hinaus und vielleicht so eine Art sonntäglichen Gedanken anknüpfen: Früher waren es die Konservativen, die vielleicht etwas besser mit Gleichheit umgehen konnten, oder weniger Probleme hatten. Heute ist so jemand wie Heiner Geißler ein ganz einsamer jesuitischer Mahner. Und ich vermisse so ein bisschen auch - das wäre doch auch die Stunde der C-Parteien jetzt, die sich ja mit der Linken durchaus in gewissen kapitalismuskritschen Punkten schnell einig sein könnten.

    Horster: Ja, ich bin auch der Auffassung. Ich denke, wenn wir so etwas herstellen, staatlicherseits, wie Gerechtigkeit, selbst die auf Menschenwürde basierte Gerechtigkeit, also dann sprechen viele auch von der so genannten kalten Gerechtigkeit. Was ist damit gemeint? Die kalte Gerechtigkeit lässt die Nächstenliebe vermissen. Und wenn wir Werte haben und die sind in moralische Normen transformiert, dann sehen wir, da ist ein wechselseitiges Verhältnis. Wir haben also moralische Rechte auf der einen Seite und moralische Pflichten auf der anderen Seite und dieses Tauschverhältnis ist merkantil. Und dieses Merkantile dringt also in alle Poren unserer Gesellschaft, also bis hin in die Moral, bis hin in unsere Werte ein.

    Und Nächstenliebe ist etwas anderes: Man gibt etwas, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das heißt also, diese Wärme, die durch diese Art von Nächstenleibe in die Gesellschaft kommt, das haben wir im Moment nicht. Und ich glaube, dass derzeit nur die Kirche als eine Instanz die wir in unserer Gesellschaft haben, die sein kann, die etwas anmahnt. Oder, wie sie beispielsweise in Köln haben, den Franz Meurer, der Pfarrer, der ein Netzwerk eingerichtet hat, um den Leuten zu helfen die kein Geld haben um sich Kleider, Möbel und Nahrungsmittel zu kaufen, und denen das zu verschenken. Ich glaube, solche Vorbilder sind auch ganz wichtig, also nicht nur das Mahnen der Kirche, sondern wirklich tätige Vorbilder.

    Köhler: Ich halte bis hierhin fest, Sie werfen zwei Begriffe in die Waagschale, die stärker gemacht werden müssten: einen politischen Begriff, den der Menschenwürde, und einen christlichen, den der Nächstenliebe. Ich möchte zum Schluss aber doch noch eine kleine Kritik anknüpfen. Nämlich, es gibt ja auch gute Gründe, so ein Gleichheitspostulat anzuzweifeln. Also die Moderne steht im Zeichen individueller Freiheit und Gleichheit, das ist wichtig. Wir sind frei von den Fesseln der Fremdbestimmung, wir sind keine Sklaven, keine Untergebenen mehr, wir können unser Leben führen. Das heißt, der moderne Mensch ist ein freies Subjekt, darin gleich mit anderen. Daraus erfolgt dann aber noch nicht zwingend, dass alle das Gleiche haben müssen.

    Horster: Nein natürlich, also das ist ja mein Reden. Es ist ja so, dass ich sage, es muss ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleistet sein. Und darüber hinaus kann es Ungleichheiten geben, oder da muss es sogar Ungleichheiten geben.

    Köhler: Sonst kommt nichts Neues in die Welt.

    Horster: So ist das, also das ist wirklich mein Punkt. Und deswegen mein Plädoyer dafür, die Gerechtigkeit auf Menschenwürde umzustellen, also auf Menschenwürde zu basieren und nicht auf Gleichheit. Also noch einmal: Dieses Bild von der Küchenwaage, das möchte ich hier gerade noch einmal einführen. Wir haben die Küchenwaage und haben einen grünen Bereich und einen roten Bereich. Niemand darf in diesen roten Bereich rutschen, es darf aber darüber hinaus Ungleichheiten geben, so dass ein würdiges Leben für alle gewährleistet ist.

    Köhler: Der Hannoveraner Philosoph Detlev Horster zum Thema Vernunft, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im säkularen Staat.