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Nigeria
Boko Haram auf dem Rückzug?

Mehr als 700 Frauen und Kinder konnte die nigerianische Armee aus der Geiselhaft der Terrorgruppe Boko Haram retten. Auch Trainingscamps der Islamisten wurden zerstört. Deuten diese militärischen Erfolge auf das nahende Ende von Boko Haram hin - nach sechs Jahren des Terrors und geschätzt über 15.000 Todesopfern allein in Nigeria?

Von Alexander Göbel |
    Menschen in Nigeria fliehen vor dem Terror von Boko Haram.
    1,5 Millionen Menschen sind durch den Terror von Boko Haram bereits heimatlos geworden. (dpa / picture-alliance / Str)
    Eine Schule in Yola, im Nordosten Nigerias: umgewandelt in ein Flüchtlingslager für über 230 Frauen und Kinder. Sie gehören zu den insgesamt über 700 Menschen, die vor Kurzem aus der Gewalt von Boko Haram befreit werden konnten.
    Hilfsorganisationen verteilen Essen und Kleidung. Abgemagerte Kinder bekommen Infusionen. Frauen werden ärztlich versorgt: Manche haben Schussverletzungen, während der Befreiung sind sie ins Kreuzfeuer geraten. Andere erzählen, wie flüchtende Frauen durch Landminen getötet wurden. Lami Musa hat überlebt: Fünf Monate hat sie in der Gewalt von Boko Haram verbracht. Sie war schwanger, als die Terroristen sie mitnahmen - in ein dichtes Waldgebiet.
    "Ich war auf dem Markt, als die Männer kamen. Als sie sahen, dass ich schwanger war, sagten sie, dies sei ein Kind von einem Ungläubigen. Dann haben sie meinen Ehemann erschossen, vor meinen Augen. Ich sollte direkt nach der Geburt des Kindes mit einem der Anführer verheiratet werden. Ich habe mein Kind dann im Wald zur Welt gebracht, ein Mädchen. Einen Tag später wurden wir von der Armee befreit."
    Boko Haram scheint das Geld auszugehen
    Psychologen berichten, manche Geiseln hätten ihren eigenen Namen vergessen. Ärzte stellen fest: Die meisten geretteten Frauen sind schwanger – sie wurden von Boko Haram-Kämpfern vergewaltigt. Die Armee nimmt keine Rücksicht auf das Trauma. Sie will sicherstellen, dass sich unter den Befreiten keine Boko Haram-Spitzel befinden. Und dass die Frauen wertvolle Informationen über den Feind weitergeben. Übereinstimmend schildern die Geiseln, dass die Terrorgruppe sich immer weiter aufsplittert - in kleinere Guerilla-Einheiten. Boko Haram scheint das Geld auszugehen. Es fehle an Nachschub für Waffen und Treibstoff, und das führe offenbar zu wachsendem Unmut zwischen den Boko-Haram-Kommandeuren und den Fußsoldaten.
    "Boko Haram wird bald besiegt sein, sagt Nigerias Armeesprecher, Oberst Sani Usman. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es gibt neuen Mut, einen neuen Geist in der Armee. Wir sind schlagkräftiger, weil wir mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten – daher wird der Terror bald keine Chance mehr haben - weder bei uns in Nigeria, noch bei unseren Nachbarn."
    War es das für Boko Haram? Fest steht: Nigerias Armee meldet gerade einen Erfolg nach dem anderen – und das im schwer zugänglichen Sambisa-Wald. Das Gebiet im Nordosten Nigerias, mit 60.000 Quadratkilometern so groß wie Bayern, gilt als Rückzugsgebiet der Dschihadisten. Lange haben sich nigerianische Soldaten hier nicht hinein getraut. Nun werden Videoaufnahmen der Armee im Fernsehen gezeigt: Auf den Bildern ist zu sehen, wie Boko Haram-Kämpfer im Sambisa-Gebiet vor Raketenbeschuss fliehen. Immerhin - 13 Camps und Waffenlager sollen mittlerweile zerstört sein. 13 von weit mehr als 30. Unterstützt wird Nigerias Armee durch Truppen aus dem Tschad, aus Kamerun, aus dem Niger. Zwischenzeitlich sollen auch Söldner aus Südafrika beteiligt gewesen sein. Leute mit viel Erfahrung aus den Kriegen in Angola und Sierra Leone - in den 80er und 90er Jahren. Nigerias Regierung hat nachweislich Verträge mit einschlägig bekannten privaten Sicherheitsfirmen unterschrieben. Doch das würde Armeesprecher Sani Usman lieber unter den Tisch fallen lassen.
    "Die Leute beziehen sich da auf technische Unterstützung. Wir haben neue Ausrüstung, neue Waffentechnik, und natürlich gehört dazu das entsprechende Training. Aber das hat nichts mit irgendwelchen Söldnern zu tun, die mit uns gegen Boko Haram Krieg führen würden."
    Nigeria versagte jahrelang
    Goodluck Jonathan, der glücklose, mittlerweile abgewählte Präsident Nigerias, hat geschworen, seinem Nachfolger Muhamadu Buhari ein terrorfreies Land zu übergeben. Möglichst viele der mutmaßlich über 2.000 Geiseln sollen bis dahin aus der Gewalt von Boko Haram befreit werden. Es ist nur noch wenig Zeit. Buhari wird Ende Mai vereidigt. Spätestens dann soll das lange ausgesetzte Militärabkommen mit den USA wiederbelebt werden. Nigeria will nach jahrelangem Versagen endlich wieder ein verlässlicher Partner in der Terrorbekämpfung werden.
    "Es ist gut möglich, dass Boko Haram besiegt wird, sagt der Militärberater Mike Ejiofor – aber das wird nicht das Ende des Krieges sein. Wir müssen damit rechnen, dass Boko-Haram-Anführer fliehen und in unseren Nachbarländern neue Terrorzellen aufbauen, vielleicht ist das auch schon längst geschehen. Der Treueschwur, den Boko Haram dem Islamischen Staat geleistet hat – der mag ein PR-Gag gewesen sein, um Aufmerksamkeit zu erregen. Viel gefährlicher sind die möglichen Gegenangriffe, Vergeltungsaktionen. Die sind nicht auszuschließen."
    ...und offenbar auch nicht zu verhindern: Gerade hat ein Attentäter wieder in einer Schule im Nordosten Nigerias um sich geschossen. Letzte Woche mussten am Tschadsee Zehntausende vor Boko Haram fliehen - und kurz vor der Grenze zum Nachbarland Niger haben Behörden frische Massengräber entdeckt mit mehr als 20 ermordeten Frauen und Kindern. Lange hat es keine Bekennervideos mehr von Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau gegeben – doch die Terrorgruppe scheint noch nicht am Ende. Nicht nur, weil sie noch viele Geiseln in ihrer Gewalt hat. Boko Haram zähle immer noch auf Unterstützer in der Politik und im Militär, sagt Sicherheitsberater Mike Ejiofor: Boko Haram nennt er ein "Frankenstein-Monster". Nigeria habe es selbst geschaffen – durch jahrzehntelange Ignoranz, Korruption, fehlende Armutsbekämpfung. Zur vielleicht letzten Schlacht versteckt sich Nigerias Monster nun im riesigen Sambisa-Wald. Und der soll komplett vermint sein.