Nutz: Herr Hilmer, vier Tage vor der Wahl, wie hoch ist denn nach Ihren jüngsten Einschätzungen der Prozentsatz der Unentschlossenen?
Hilmer: Nach der Bayern-Wahl haben wir einen Anstieg zu verzeichnen gehabt. Die Zahl der Unentschlossenen stieg von 14 auf 28 Prozent. Das ist natürlich schon beachtlich. Dazu kommen diejenigen, die zwar eine Parteipräferenz äußern, aber sagen, da könnte sich schon noch etwas verändern: sei es in der Verteilung von Erst- und Zweitstimme, sei es eben auch in der grundsätzlichen Entscheidung. Das ist auch noch einmal knapp ein Fünftel.
Nutz: Ist denn der unberechenbare Wähler tatsächlich ein besonderes Phänomen gerade dieser Wahl?
Hilmer: Er ist auf jeden Fall ein größeres Phänomen als in früheren Zeiten. Allerdings den Anstieg des unentschlossenen Wählers haben wir seit Jahren zu verzeichnen. Der Wähler ist nicht mehr in dem Maße festgelegt, wie das früher der Fall war. Er orientiert sich immer wieder neu nach Themen, auch nach Personen. Das ist in den neuen Bundesländern noch etwas stärker ausgeprägt als in den alten Bundesländern.
Nutz: Wechselwähler, das klingt zunächst einmal politisch interessiert, parteipolitisch also zunächst ungebunden. Sie haben das angedeutet. Ist es denn wirklich so?
Hilmer: Es ist tatsächlich so, daß die Parteibindung abnimmt. Dies hängt damit zusammen, daß die Milieus, die auch dafür verantwortlich sind, daß sich sehr feste Bindungen herausbilden, zum Beispiel gewerkschaftliche Milieus, zum Beispiel katholisch-christliche Milieus, zumindest zahlenmäßig langsam an Bedeutung verlieren, daß auf der anderen Seite eben immer mehr Wähler sich eben kurzfristig entscheiden. Allerdings die Parteibindung ist immer noch die entscheidende Variable für die Vorhersage der Wahlentscheidung. Andere Variablen, andere Indikatoren nehmen allerdings immer stärker zu.
Nutz: Es ist also kein Ausdruck von Unsicherheit?
Hilmer: Im vorliegenden Falle spielt schon Unsicherheit eine gewisse Rolle. Gerade nach der Wahl in Bayern konnten wir feststellen, daß viele enttäuschte CDU-Wähler, die der SPD zuneigten, sich wieder ihrer Grundhaltung dann annäherten und wieder ins Lager der CDU zurückgingen. Das hat uns nicht weiter überrascht, denn zur Wahl hin kommt eben diese Grundhaltung immer stärker zum tragen. Der Abstand der SPD beträgt ja immerhin auch noch zwei Prozent vor der CDU und vier Prozent liegt sie immer noch über dem Ergebnis von 1994.
Nutz: Wenn dieser Unterschied immer knapper wird, welchen Einfluß haben die Unentschlossenen tatsächlich? Kann man das messen?
Hilmer: Die Unentschlossenen ist natürlich die Gruppe, die sich jetzt noch am Schluß der Wahl am ehesten beeinflussen läßt. Unter den Unentschlossenen ist allerdings ein erheblicher Anteil sicherlich, die überhaupt nicht zur Wahl gehen werden. Wir rechnen zwar mit einer Wahlbeteiligung, die mindestens so hoch sein wird wie 1994, aber gleichwohl wird natürlich ein großer Teil, eben jeder fünfte Wähler, Wahlberechtigte, nicht zur Wahl gehen. Das heißt, von den 28 Prozent müssen Sie sicherlich in etwa die Hälfte abziehen, die wahrscheinlich aus lauter Unsicherheit dann gar nicht zur Wahl gehen. Um die restlichen 14 Prozent wird es sich im wesentlichen handeln. Um die kämpfen die Parteien in der Schlußphase des Wahlkampfes.
Nutz: Also ein Faktor, der Prognosen unsicher macht?
Hilmer: Ja, sicherlich. Wir nennen ja auch diese Werte, die wir jetzt veröffentlichen, noch nicht Prognosen, denn wir haben mit einer Reihe von anderen Unsicherheiten zu kämpfen. Da kommt natürlich auch die Schwankungsbreite dazu. Es kommt natürlich auch die geringe Bereitschaft der Rechtswähler, der Wähler rechtsextremer Parteien dazu, dies zuzugestehen. Es gibt eine Reihe anderer Faktoren. Beispielsweise hat sich eben das Parteienprofil von SPD und CDU insbesondere etwas stärker herausgearbeitet. Die SPD ist weiterhin stärker profiliert im Bereich Arbeitsmarkt, im Bereich soziale Gerechtigkeit. Die CDU konnte sich allerdings in den letzten Monaten deutlich stärker profilieren im Bereich der Wirtschaftskompetenz und im Bereich der Kriminalität, und da ist mancher Wähler hin- und hergerissen, für welchen dieser Bereiche er sich denn entscheidet. Er hat zwei Stimmen. Vielleicht wird er sich dann für zwei verschiedene Parteien entscheiden.
Nutz: Der Vorsprung der SPD schrumpft kontinuierlich, gleichzeitig auch die Beliebtheit des Kanzlerkandidaten. Gibt es über die Bayern-Wahl hinaus Erklärungen dafür?
Hilmer: Es ist natürlich relativ schwierig das war der SPD natürlich auch sicherlich bewußt , einen Wahlkampf in dieser Intensität über lange Zeit durchzuhalten. Insofern haben sich die Werte, die jetzt gemessen werden, wieder dem Normalbereich angenähert. Schröder hatte ja ein unglaubliches Hoch nach der Niedersachsen-Wahl, und er führt ja immer noch deutlich in der Beliebtheit, in der Sympathie vor dem amtierenden Bundeskanzler. Das ist sicherlich für die unentschlossenen Wähler auch wiederum ein Orientierungspunkt, gerade für jüngere Wähler, die sich dann schon eher an den Personen orientieren. Das hat jüngst auch wieder die Bayern-Wahl gezeigt. Dort war es Stoiber, der insbesondere auch und gerade die jungen Wähler überzeugte. Möglicherweise wird es Schröder gelingen, gerade die junge Wählerklientel, die ja der SPD in den letzten Jahren nicht unbedingt gewogen war, etwas stärker noch an die SPD zu binden.
Nutz: Sie haben eben schon einmal das Stimmensplitting angesprochen. Alle Parteien haben in dieser letzten Woche ja massiv den Angriff auf die Zweitstimme gestartet. Kommt dann nach Ihrer Einschätzung die Botschaft beim Wähler an? Das heißt, weiß er eigentlich, wenn er in der Kabine ist und seine Stimmen zwei verschiedenen Parteien gibt, was am Ende dabei herauskommt?
Hilmer: Die Botschaften sind schon deshalb wichtig, weil unseren Erkenntnissen nach eben sehr, sehr viele Wähler nicht um die Bedeutung dieser beiden Stimmen wissen. Das liegt ja auch ein bißchen in dieser etwas unglücklichen Bezeichnung, Erst- und Zweitstimme. Die Zweitstimme erinnert ja auch so ein bißchen an den Zweitwagen. Das heißt man verbindet hiermit eher die geringere Bedeutung. Insofern tun natürlich alle Parteien gut daran, noch einmal daran zu erinnern, daß die Zweitstimme letztlich die entscheidendere für die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag sein wird. Insofern ist es auch nur verständlich, daß jeder noch einmal darauf verweist, daß eben die Zweitstimme natürlich für die Stärke der eigenen Partei entscheidend sein wird.
Nutz: Ist es aber für einen Wähler nachvollziehbar, wenn die GRÜNEN sagen, man solle ihnen die Zweitstimme geben, um die PDS zu verhindern?
Hilmer: Das sind natürlich schon etwas kompliziertere strategische Sachverhalte. Wenn man in das Wahlrecht einen etwas tieferen Einblick nimmt, dann ist sicherlich ein Stückchen Wahrheit oder zumindest eine Logik darin erkennbar. Ob sie der Wähler mitmacht, das muß man abwarten. Es gab ja gerade innerhalb der GRÜNEN in Berlin insbesondere auch Gegenstimmen. Letztlich wird sich der Wähler sicherlich entscheiden nach seiner Überzeugung. Die muß sich allerdings ja nicht so unbedingt auf eine Partei konzentrieren. Wir haben immer mehr Wähler, bei denen ist die Bezeichnung "Lagerwähler" durchaus zutreffend. Das heißt, sie präferieren jetzt nicht unbedingt eine Partei. Sie präferieren eine Konstellation. Ob das nun rot/grün ist oder die amtierende Koalition, das sei noch dahingestellt.
Nutz: Wir haben jetzt über den Wähler gesprochen als unbekannte Größe in der Rechnung. Nun gibt es aber unter den Parteien auch viele unbekannte Größen, Stichwort die kleinen Parteien: PDS, FDP, GRÜNE. Was rechnen Sie, wer wird hineinkommen und wie wird sich damit ein Koalitionsgefüge ergeben?
Hilmer: Die drei genannten Parteien sind ja gemessen an den vielen anderen, die hier noch antreten, gar nicht so kleine. Es handelt sich hier eher um die Mittelschicht der Parteien. Die GRÜNEN haben sich wieder nach ihrem Magdeburger Beschluß, der ihnen ja einen erheblichen Stimmeneinbruch bescherte, erholt. Sie liegen derzeit bei 6,5 Prozent, relativ stabil über die letzten Wochen und Monate. Die FDP liegt bei fünf Prozent, kann aber sicherlich eben gerade im Schlußspurt noch einmal mit einem Erfolg ihrer Zweitstimmen-Campagne rechnen, was allerdings voraussetzt, daß die unionsgeneigten Wähler, die sie eben ihre Stimmen splitten, Erststimme der CDU, Zweitstimme der SPD, dieses auch 1998 wieder tun. Die PDS hat ja eine doppelte Chance. Sie kann wieder wie 1994 über Direktmandate, über mindestens drei gewonnene Direktmandate in das Parlament ziehen. Da stehen die Chancen sicherlich nicht schlecht, denn die PDS dürfte mindestens genauso stark sein in den neuen Bundesländern wie 1994. Ob sie allerdings in den alten Bundesländern stärker wird und dies wäre wohl die Voraussetzung dafür, auch die fünf Prozent zu erreichen und damit die Fraktionsstärke, diesmal in den Bundestag einzuziehen , das ist allerdings noch sehr ungewiss. In den neuen Bundesländern hat die PDS auch gerade beim Kampf um die Direktmandate allerdings mit einer erstarkten SPD zu tun. Insofern kann es dort, gerade in Ost-Berlin, durchaus knapp werden.
Nutz: Würden Sie denn sagen, daß bei dieser Wahl der PDS sozusagen eine Schlüsselrolle zukommt?
Hilmer: Ja, mit Sicherheit, denn wenn man jetzt die vorliegenden Zahlen, die wir am Sonntag noch einmal veröffentlicht haben, sieht, dann hat das rot/grüne Bündnis einen Vorsprung von etwa drei bis vier Prozent vor der amtierenden Koalition. Käme die PDS hinein, würde dies nicht ausreichen für eine Regierungsmehrheit, immer vorausgesetzt, daß die Parteien auch die Wählergruppen, ihre Wählerschichten auch entsprechend mobilisieren. Wenn die PDS scheitern würde, dann wäre bei der jetzigen Konstellation eben eine rot/grüne Mehrheit durchaus möglich.
Nutz: Noch kurz, Herr Hilmer: Wann gibt es von Ihnen den ersten Trend am Sonntagabend?
Hilmer: Sie bekommen wie gewohnt von uns um 18 Uhr die Prognose, dann in kurzer Folge sicherlich die Hochrechnungen, wobei wir diesmal ja zwei beziehungsweise sogar drei Wahlen berichten, Die Bundestagswahl, aber man sollte auch nicht die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern vergessen. Auch dort ist es ja insbesondere mit Blick auf Sachsen-Anhalt interessant, vor allen Dingen deshalb, weil man ja etwas mit bangem Blick auf die rechtsradikalen Parteien und deren Abschneiden sieht. Außerdem gibt es noch Kommunalwahlen in Brandenburg. Auch dazu werden wir berichten. Also es gibt sicherlich ein volles und vor allen Dingen sehr spannendes Programm.
Nutz: Herr Hilmer, ich muß hier jetzt einen Punkt setzen. Vielen Dank, Richard Hilmer, von Infratest-Dimap, im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen".